Kitabı oku: «Der Richter in mir», sayfa 2
ARTIKEL 49
(1) Soweit diese Verfassung die Beschränkung eines der vorstehenden Grundrechte durch Gesetz zulässt oder die nähere Ausgestaltung einem Gesetz vorbehält, muss das Grundrecht als solches unangetastet bleiben.

Das ist Akteneinsicht ganz im Sinne des BStU Dresden. Hier werden nicht nur Dritte verdeckt, nein auch sämtliche Textpassagen. Das schaut mir aus wie ein Staatsgeheimnis, welches nicht an die Öffentlichkeit darf.


Dies ist die bislang letzte Nachricht vom BStU Dresden. Sie erreichte mich, kurz bevor ich das Manuskript fertig hatte.
Ja, sag mal, René, kennst du denn nun die Namen von Tätern, deren Geburtsdatum, Anschrift und die Orte, an denen sich diese aufhalten?
Was verlangst du von mir, Richter? Wie ich schon sagte, kenne ich nicht einmal deren Handynummer. Ich finde, diese Vorgehensweise ist schon sehr merkwürdig. Mehr als eine Namensliste mit Tätern und ihrer jeweiligen Funktion zu DDR-Zeiten kann ich dem BStU Dresden nicht bieten. Ganz bestimmt werde ich den Tätern nicht zu nahe treten – das wäre nicht mein Ding. Sonst hätte ich sie schon lange übers Knie gelegt. Ich mag keine Gewalt. Das Ganze entwickelt sich zu einem großen Geheimnis, habe ich den Eindruck. Da soll wohl was im Verborgenen bleiben und nicht ans Tageslicht kommen.
ARTIKEL 65
(1) Zur Überwachung der Tätigkeit der Staatsorgane hat die Volkskammer das Recht und auf Antrag von einem Fünftel der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich halten. Sie können zu diesem Zweck Beauftragte entsenden.
(2) Die Gerichte und die Verwaltungen sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse oder ihrer Beauftragten um Beweiserhebung Folge zu leisten und ihre Akten auf Verlangen zur Einsichtnahme vorzulegen.
(3) Für die Beweiserhebung der Untersuchungsausschüsse finden die Vorschriften der Strafprozessordnung entsprechende Anwendung.
Zur Vorgeschichte der Familie Karge – die Familie meiner Mutter
Sag mal, René, du betreibst Recherchen bis ins kleinste Detail – was bringt dir das?
Ach, Richter, mir tut die Aufarbeitung gut, und es hilft mir über den Schmerz hinweg, wenn ich alles aufschreibe. Ein Recht auf Bildung habe ich auch, wenn es um das Thema „Recherchieren“ geht, bessere Bildungspolitik geht erst einmal nicht. Mit meinem ersten Buch habe ich mir den Kopf leer geschrieben, auch um mich damit zu beruhigen, dass ich für die Geschehnisse nichts kann. Über das, was ich in diesem zweiten Buch schreibe, lagen mir wichtige Informationen und Unterlagen erst dann vor, als ich mit dem ersten Buch fertig war. Mit dem neuen Material ist noch mehr Aufarbeitung möglich. Mir ist es auch sehr wichtig zu belegen, dass meine Mutter aus einer gutbürgerlichen Familie stammt und nicht so war, wie es das Referat Jugendhilfe Abteilung Volksbildung zu DDR-Zeiten schilderte. Übrigens: Am 9. November 2014, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall, bekam ich folgende E-Mail:

Richter, du kennst mich. Wenn ich solche Informationen erhalte, sehe ich aus wie eine gerupfte Gans – mit viel Gänsehaut! Ich frage mich dann immer wieder: Was verheimlicht man mir beim BStU Dresden? Das sind dort doch alles ganz nette Leute. Bereits als ich meine Geschwister väterlicherseits kennenlernte, konnte ich das feststellen.
Irgendetwas verheimlicht man, etwas, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit darf. Gerade du, René, machst vieles öffentlich.
Das ist Aufarbeitung, Richter, und Geschichte aus der Zeit des Kalten Krieges.
Nicht nur aus jener Zeit, René. Wenn man dir bis heute verschweigt, dass du Geschwister und Verwandte hast, ist der Kalte Krieg noch lange nicht vorbei.
Jetzt übertreibst du aber!
Nein, das tue ich nicht. Glaub mir, da stimmt was nicht.
Egal, du Held, langsam habe ich Erfolg mit meinen Recherchen und werde bald Licht ins Dunkel bringen. An dem Abend, als diese E-Mail kam, habe ich – fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall – Verwandte fünften Grades angerufen. Mir pocht bei solchen emotionalen Themen immer das Herz. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich ein Sohn von Hannelore sei und nicht wisse, wie das mit den Verwandtschaftsverhältnissen ausschaut. Ich weiß es bis heute noch nicht so genau, woher auch? Der Mann am Telefon erzählte mir, dass er gern in Thüringen studiert hätte, was er nicht durfte. Daraufhin flüchtete er in den Westen – ursprünglich stammt er aus Schlesien. Er erzählte mir, dass meine Mutter mit einem Mann in den Osten wollte, um eine sozialistische Persönlichkeit zu werden. Aus der sozialistischen Persönlichkeit bei der SED ist nichts geworden, da hatten diktatorische Kräfte das Sagen, und jemandem aus dem Westen konnte man nicht vertrauen.
Ich denke mal, dass deine Mutter eine soziale Ader hatte, so wie du, René. In der DDR herrschte eine kommunistische Diktatur, also kein sozialdemokratisches Gedankengut. Deine Mutter hat sich wohl von diesem Mann, M. M. war sein Name, blenden lassen und ist ihm gefolgt. Es musste wohl so kommen, dass sie bereits nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 zurückwollte. Doch das ging nicht mehr. Sie befand sich in den Fängen des MfS, und was das bedeutete, muss ich dir nicht erzählen, das weißt du selbst.
Ich weiß, Richter, deshalb musste auch der erste Fluchtversuch nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 scheitern. Meine Mutter blieb in den Fängen des MfS. Sie wurde am 13. September 1961, also einen Monat nach dem Mauerbau, angeklagt und am 10. Oktober 1961 im „Namen des Volkes“ verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit mir schwanger – von einem Mann namens Heinrich Merbitz, doch dazu komme ich später. Und jetzt, Richter, hör mir einfach nur zu und quake mir nicht rein. Es ist nicht ganz einfach, sich in Unterlagen einzulesen und sich ein Bild davon zu machen, also volle Konzentration, bitte: Am 12. November 2014 erfuhr ich von meinen Großcousins die Geschichte der Familie Karge, also von mütterlicher Seite. Zum ersten Mal hielt ich eine Familienchronik der Familie Karge in der Hand, zusammengestellt von meinen Großcousins. Meine Mutter stammt von einer wohlhabenden Familie ab.
Aber René, dann ist sie 1955 doch sicherlich nicht freiwillig in den russischen Sektor übergesiedelt!
Richter, zu diesem Thema kommen wir später. Wir beginnen erst einmal mit der Chronik, um zu erfahren, wer meine Großeltern waren. Vielleicht kann ich mich dann in die Lage meiner Mutter hineinversetzen. Die Chronik wurde von dem Bauern Hugo Karge im Jahr 1937 geschrieben. Ich erzähle das Nachfolgende aus seiner Sicht. Das macht es mir einfacher, mich fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall in die Familie meiner Mutter hineinzufühlen. Es beginnt mit einem Vorwort:
Vorwort
Durch Familienforschung konnte Hugo feststellen, dass meine Ahnen, soweit er es zurückverfolgen konnte, stets Bauern gewesen sind. Es mag also schon in meinem Blut gelegen haben, dass ich mich stets nur in Verbundenheit mit dem Boden glücklich fühlen konnte.
„Die Erhaltung und Verbesserung des Hofes war mein Lebenszweck und mein Sinn im Verein mit meiner mir treu zur Seite stehenden Ehefrau nur darauf gerichtet, es durch äußerste Tatkraft und Sparsamkeit zu erreichen, dass einmal ein Sohn den Hof schuldenfrei übernehmen kann und die anderen Kinder auch nicht mit leeren Händen vom Hof zu gehen brauchen. Im liberalistischen Zeitalter kam es aber meistens anders. Die Höfe wurden zersplittert, mussten wegen Erbteilung in andere Hände übergehen und die Kinder zerstreuten sich in alle Winde. Die Verbundenheit von Blut und Boden hörte auf, sehr zum Unglücke der Landwirtschaft. Schon damals habe ich diese Zustände als Unglück für die Bauernhöfe und deren Familien empfunden und es stets bedauert, dass nicht ebenso wie bei dem Großgrundbesitz aus diesen Höfen gebundener Besitz gemacht werden konnte. Für das Bauerntum und überhaupt für die Landwirtschaft empfinde ich die Schaffung des Erbhofgesetzes als die größte Tat des Nationalsozialismus.“
René was schreibst du denn da?
Ich zitiere Hugo Karge von 1937. Da habe ich noch nicht gelebt und meine Mutter war gerade vier Jahre alt. Also, Richter, mit den Nationalsozialisten habe ich nichts am Hut, das steht so in der Familienchronik.
„Damit hat nun jeder Bauer, der nicht vom liberalistischen Denken verseucht ist, die Gewissheit, dass der von ihm so sorgfältig gehegte und gepflegte Hof der Familie erhalten bleibt.“
René, die waren ja damals drauf!
Da hast du recht. Ich habe zu dieser Zeit noch nicht gelebt und sage heute, dass es damals eben so war, obwohl ich den Spruch überhaupt nicht mag. Herr Richter, das, was du eben erfahren hast, hat Hugo im Jahr 1937 als Vorwort geschrieben. Also Ruhe jetzt! Dass ich mit über fünfzig Jahren all das erfahre, was zu meiner Familie gehört, kann ich noch nicht in Worte fassen. Das Schreiben hilft mir dabei, es zu verarbeiten.

Lebenslauf des Friedrich Wilhelm Karge, Sohn des Bauern David Wilhelm Karge und seiner Ehefrau Johanna Christa, geb. Hache, geschrieben von seinem Sohn Hugo Karge.
„Am 23. April 1837 wurde er in Rosenau, Kreis Jauer, geboren und besuchte die Volksschule. Mit zwölf Jahren verlor er seinen Vater. Nach zweijährigem Witwenstand heiratete seine Mutter einen Bauern Sommer, welcher das väterliche Gut käuflich erwarb. Ein Jahr später starb seine Mutter bei der Geburt seines Stiefbruders. Sein Stiefvater heiratete wieder, so hatte er nun zwei Stiefeltern und wurde fremd auf dem Hof seiner Eltern. Bis zu seinem Militäreintritt erlernte er die Landwirtschaft auf dem väterlichen Hof. Da er aber keine Aussicht hatte, den Hof einmal zu erhalten, genügte er seiner Militärpflicht durch freiwilligen Eintritt bei dem Dragoner-Regiment Graf Bredow in Lüben. Als Freiwilliger musste er vier Jahre dienen. Nach Beendigung seiner Militärdienstzeit kaufte er in Altenlohm (Niederschlesien) das Bauerngut Nr. 5 und wurde am 3. Juli 1862 in der Kirche zu Waldau vermählt mit Auguste, Tochter des Bauern Hoferichter in Fellendorf, Kreis Liegnitz. Sein Leben in Altenlohm war reich an Kümmernissen. Es stellte sich wohl reicher Kindersegen ein, doch starben alle Kinder schon klein oder im schulpflichtigen Alter, zwei Kinder waren gleichzeitig im schulpflichtigen Alter verstorben und wurden an einem Tage begraben. Nur ein einziges Kind blieb von allen am Leben. Krankheiten und Todesfälle hatten viel Geld verschlungen, der Hof war klein und brachte wenig Ertrag, so trugen Kummer und Sorge dazu bei, dass auch seine Gesundheit untergraben wurde. Er verstarb am 19. August 1879 im Alter von zweiundvierzig Jahren und hinterließ eine Witwe mit dem fünfjährigen Sohne Hugo. Sein arbeitsreiches und kummervolles Leben hatte ein viel zu frühes Ende gefunden. Sein Vater war der Sohn des Bauern Samuel Karge in Lobis, Kreis Jauer, seine Ehefrau Anna Rosina, geb. Minkin. Geschrieben Altenlohm, im Jahr 1937, von Hugo Karge.“
Lebenslauf des Oskar Bruno Karge, Sohn des Bauern Friedrich Wilhelm Karge und seiner Ehefrau Auguste, geb. Hoferichter.
„Am 10. Februar 1874 wurde ich in Altenlohm geboren, in der Kirche zu Altenlohm getauft und im Elternhaus erzogen. Ich besuchte die Volksschule in Altenlohm und erlernte alsdann die Landwirtschaft im väterlichen Betrieb. Mit fünf Jahren verlor ich den Vater und erhielt ein Jahr später einen Stiefvater. Von 1894–1896 genügte ich meiner Militärdienstpflicht bei dem 1. Garde-Feldartillerie-Regiment in Berlin. Da die Mutter meine Väterei dem Stiefvater verkauft hatte, dieser aber sehr um seine außereheliche Tochter besorgt war, hatte ich wenig Aussicht, einmal meine Väterei zurückkaufen zu können. Ich erwarb daher ein Bauerngut in Rosenthal, Kreis Bunzlau, und verehelichte mich dort mit Berta Renner, Tochter des Bauern Karl Renner da selbst. In Rosenthal wurden mir zwei Kinder geboren, Oskar und Arthur.“
René, Arthur ist ja dein Opa!
Ja, Richter, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall am 9. November weiß ich nun, wie mein Opa hieß.
„Im Laufe der Jahre ging nun der Betrieb meines Stiefvaters in Altenlohm sehr zurück, sodass er, als er verkaufen wollte, nur schwer einen Käufer finden konnte. Jedem Interessenten war der geforderte Kaufpreis von 18.000 MK (Mark) zu hoch. Da ich jedoch die gute Grundlage in Altenlohm und deren Wert sehr genau kannte, kam mir die Idee, Rosenthal abzustoßen und Altenlohm zu erwerben. Da ich Rosenthal, weil heruntergewirtschaftet, verhältnismäßig billig erworben hatte, konnte ich es nun mit einem Gewinn von 6.000 MK weiterverkaufen. Ich siedelte nach Altenlohm über und hatte hier die schwere Aufgabe, den Betrieb wieder hochzubringen. Was mir mit Gottes Hilfe gelungen ist. In Altenlohm wurde mir noch die Tochter Elsa geboren. Im Jahr 1933 habe ich mich mit meiner Ehefrau auf mein Hausgrundstück zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt. Den Hof habe ich meinem Sohn Oskar zur selbständigen Nutzung übergeben, ohne jedoch auf die Eigentumsrechte zu verzichten. Mein Sohn Arthur hat die Verbindung von Blut und Boden gelöst und einen anderen Beruf ergriffen, ebenso meine Tochter Elsa durch ihre Verheiratung mit einem Lehrer. Obwohl mir der Hof genug Arbeit brachte, wurde es mir doch durch die spätere Mitarbeit der Kinder möglich, auch noch für die Öffentlichkeit zu wirken und übertragene Ehrenämter zu bekleiden. Schon in verhältnismäßig jungen Jahren wurde ich in die Gemeindevertretung berufen und begleitete viele Jahre das Amt eines Gemeindeschöffen. Das Amt des Gemeindevorstehers habe ich zwölf Jahre verwaltet und das Amt des Amtsvorstehers zehn Jahre. Vorsteher des Gesamtschulverbandes war ich bis zu dessen Auflösung, ebenso des Spritzenverbandes Altenlohm, Bischdorf und Pohlswinkel. Während meiner Verwaltung wurde der Gemeindeacker mit Kiesgrube gekauft, der Steigerturm errichtet und das Amtsgefängnis gebaut. Als Gründer der Wehr wurde mir von dieser ein Ehrendiplom überreicht, ebenso ein Ehrendiplom von der Gemeinde für über fünfundzwanzigjährige treue Dienstleistung. Gegenwärtig bin ich noch Vorsitzender der Elektrizitäts-Genossenschaft, Mitglied des Gemeindekirchenrates und stellvertretender Vorsitzender desselben sowie Kreissynodalvertreter und Vorstandsmitglied der Kreissynode Haynau.“
Sag mal, René, wann hat der Mann mal Freizeit gehabt?
Das frage ich mich auch gerade. Damals war das Leben anders, es gab kein Fernsehen und all den anderen Kram, den es heute gibt. Die Leute waren einfach kreativer. Ich merke es an mir selbst, dass Kreativität guttut. Und man lernt etwas dazu.
„Bei Gründung der Kreissparkasse wurde mir die Verwaltung der Annahmestelle Altenlohm übertragen, an öffentlicher Betätigung war also kein Mangel, einige Vormundschafts- und Pflegschaftssachen hinzugerechnet. Im Weltkrieg wurde ich am dritten Mobilmachungstage eingezogen, machte den Krieg im Osten mit beim Divisions-Brückentraining der Division Bredow, Armeeabteilung Woyrsch. Hier machte ich den Vormarsch bis nach Warschau mit, von da den Rückzug bis nach Oberschlesien und dann wieder den Vormarsch über Tschenstochau bis zum Lysa-Gora-Gebirge, von wo ich wegen Krankheit nach dem Lazarett Posen kam und nach halbjähriger Behandlung als dienstuntauglich entlassen wurde. Als nach dem Krieg infolge der Ruhrbesetzung durch die Franzosen und Konsorten Kinder nach hier verschickt wurden, nahm ich ein Mädchen, Irmgard Brössel aus Elberfeld. Diese blieb dann hier und wurde wie meine eigenen Kinder erzogen und gehalten.“
René, das klingt schrecklich. „Kinder erzogen und gehalten“ – das hat einen bitteren Beigeschmack!
Warte doch, Richter. Das Kapitel ist noch nicht zu Ende.
„Als Anerkennung hat sie von mir an ihrem zwanzigsten Geburtstag ein Sparbuch über 1.500 Reichsmark erhalten. Sollte sie bei meinem Tode noch hier sein, so habe ich auch weiterhin noch vorgesorgt. Insbesondere hoffe ich von meiner Tochter Elsa, dass sie auch weiterhin mit ihr Treue und Freundschaft halten wird, um ihr mit Rat und Tat, wenn nötig, beizustehen. Meine Frau und ich haben uns redliche Mühe gegeben, für unsere Kinder so zu sorgen, wie es gewissenhaften Eltern zukommt. Sollte uns das gelungen sein, so ist uns dies die beste Anerkennung. Geschrieben in Altenlohm, im Jahre 1937, Hugo Karge.“
Klingt ja doch vernünftig, wie man die Kinder erzogen hat, René. Man hört hier etwas Strenge raus.
Aber das haut mich jetzt nicht um, Richter. Das war völlig normal zur damaligen Zeit. Kommen wir zur Geschichte des jetzigen Erbhofes, Bauerngut Nr. 5, Hausnummer 32, Altenlohm:
„Die Geschichte des Hofes schreibe ich nieder, so wie sie mir aus alten Quellen bekannt geworden ist. Sie stützt sich also nicht auf amtliches Quellenmaterial, ist aber trotzdem unzweifelhaft richtig und soll den Nachfahren als Geschichte des Hofes dienen und von jedem Bauern des Hofes als Hofakte sorgfältig aufbewahrt, ergänzt und gewissenhaft weitergeführt werden. Diese Aufgabe mache ich jedem Bauern des Hofes zur Pflicht und hoffe, dass es immer ein Karge sein möge.
Vor 1850 bestand der Hof aus vier strohgedeckten Gebäuden und ca. 130 Morgen Ländereien, in gleicher Breite rechts und links vom Feldweg gelegen, beginnend an der Dorfstraße und endend an der Tammendorfer Grenze, also am Windewasser. In dieser Zeit kam der Hof in die Hände von Agenten, wurde parzelliert, und zwar so gründlich, dass nur noch 28 Morgen bei dem Hof verblieben und keinerlei Wiesen. Die Gebäude des Hofes standen zum Teil auf dem jetzigen Glafenheinschen Grundstück, welches erst nach dem Brande des Hofes abgekauft wurde. Der Nordgiebel des Glafenheinschen Wohnhauses steht auf der Grundmauer eines Stallgebäudes des Hofes. Der Glafenheinsche heutige Grasgarten war zu dieser Zeit noch ein großer Teich und ist erst später zugefüllt und in Gartenland verwandelt worden. In der südlichen Ecke des Gartens an der Schmiede musste für Feuerlöschzwecke ein Wassertümpel erhalten bleiben, aber dieser ist im Laufe der Zeit verschwunden und zugeschüttet worden. Nach der Parzellierung wurde der Hof von dem herrschaftlichen Ziegelmeister Karl Rosenblatt erworben. Da aber die alten großen Gebäude für den kleinen Betrieb nicht mehr gebraucht wurden und deren Unterhaltung zu kostspielig geworden wäre, ging der Hof in Flammen auf und brannte vollständig nieder. Die Fama hat seinerzeit behauptet, dass der Besitzer den Brand gewollt habe, es konnte jedoch nichts bewiesen werden. Im Jahre 1852 wurde der Hof mit vier schönen schmucken Fachwerkgebäuden wieder aufgebaut, wie eine Tafel im Wohnhausgiebel bekundet. Da der Hof nun keine Wiesen mehr hatte, erwarb der damalige Karl Rosenblatt im Zisken eine Häuslerstelle, verkaufte diese wieder, behielt aber vier Morgen Wiese zurück und schlug diese zum Hof, sodass der Hof wieder zu einer Wiese kam. Karl Rosenblatt verkaufte dann um 1855 herum den Hof an meinen Vater, den damaligen Junggesellen Friedrich Wilhelm Karge aus Rosenig, Kreis Liegnitz. Dieser vermählte sich alsbald mit der Jungfrau Auguste Christiane Hoferichter aus Fellendorf, Kreis Liegnitz. Die Ehe wurde kinderreich, doch verstarben alle, bis auf den Schreiber dieser Zeilen, im Kindesalter. Als nach einigen Jahren der vormals abgekaufte Acker hinter dem Schriemweg in Größe von ca. 10 Morgen wieder verkäuflich wurde, kaufte mein Vater diesen Acker zum Hof zurück. Im Jahre 1879 verstarb er und ein Jahr später ging meine Mutter eine neue Ehe ein mit dem Landwirt Christian Jäkel aus Conradsdorf, Kreis Goldberg-Haynau. Die Ehe blieb kinderlos und der Hof ging in den Besitz meines Stiefvaters über. Als ich dann im Jahre 1896 vom Militär zurückkam und keine Aussicht hatte, in absehbarer Zeit den Hof zu erwerben, erwarb ich einen Hof in Rosenthal, Kreis Bunzlau. In der Hand meines Stiefvaters ging der väterliche Hof sehr zurück, sodass ich mich genötigt sah, weil sich kein fremder Käufer für den Hof finden wollte, in Rosenthal zu verkaufen und den Hof in Altenlohm für 18.000 RM (Reichsmark) zu übernehmen. Die Übersiedlung erfolgte im Jahr 1905. Es war für mich ein schwerer Anfang, da an lebendem Inventar nur ein altes Pferd, zwei Kühe und ein Kalb, an totem Inventar nur das notwendigste Ackergerät, aber keinerlei Maschinen vorhanden waren.“
Sag mal, René, hier wiederholt sich doch einiges.
Du hast recht, Richter. Geht es um die Geschichte des Hofes, dann ist es normal, wenn so manche Episode in den Lebensläufen auftaucht und vieles ähnlich klingt.
„Die Gebäude waren sehr verlottert, also galt es zunächst, das Wohnhaus in Ordnung zu bringen. Die Stuben mussten neue Dielung erhalten und Rohrdecken eingezogen werden. Im Flur war noch die alte schwarze Backofenküche vorhanden, welche in eine neuzeitliche Küche umgebaut werden musste. An Schweineställen war nur ein Stall für vier Schweine vorhanden, worauf die am Wohnhaus angebauten Schweineställe errichtet wurden. Der Kuhstall befand sich noch im Wohnhaus und anstelle des heutigen Kuhstalles findet sich ein altes, wackliges Fachwerk-Wirtschaftsgebäude. Dieses wurde 1906 abgebrochen und an seiner Stelle der heutige Kuhstall mit einem Kostenaufwand von 4.000 MK errichtet. Als dann im Jahre 1908 die benachbarte Scholtisei (Amt des Dorfschulzen) parzelliert wurde, kaufte ich den an meinem Grundstück entlang liegenden Acker in Größe von ca. 30 Morgen zum Preis von 12.000 RM. Feldrain um Feldrain wurde beseitigt und so erhielt nun das Grundstück die heutige Breite. Um die Futtergrundlage des Hofes zu verbessern, verkaufte ich die im Zisken gelegene ca. 4 Morgen große Wiese, weil sie zum Teil infolge moorigen Bodens wenig ertragreich war, und kaufte dafür vom Gerichtskretscham Altenlohm die ebenfalls im Zisken gelegene (aber günstigere) ertragreichere, ca. 5 Morgen große Wiese, welche heute noch zum Hof gehört. Da nun infolge der vergrößerten Grundlage die alte Scheune zu klein und auch baufällig geworden war, wurde diese im Jahre 1912 vollständig abgerissen. Die alte Scheune stand so weit im Hof, dass ein Erntewagen in diesem nicht wenden konnte. Die Scheune wurde daher in ihrer heutigen Größe weiter hinaus gerückt und mit einem Kostenaufwand von 12.000 RM erbaut. Das sich heute auf dem Hof befindliche, im Laufe der Jahre angeschaffte sehr umfangreiche Inventar erfordert einen erheblichen Kostenaufwand. Im Jahre 1916 erwarb ich in Polswinkel ein Besitztum. Nach dessen Weiterverkauf behielt ich knapp 8 Morgen zurück und schlug sie dem Hof zu, sodass dieser jetzt eine sehr gute Futtergrundlage hat. Im Verein mit meiner Frau und den drei heranwachsenden Kindern war es möglich, den Hof so zu betreuen, dass er zu seiner heutigen Blüte gelangen konnte und es möglich wurde, ein kleines Vermögen zurückzulegen. Das Erbhofgesetz bringt es mit sich, dass heute viele Kinder den Hof mittellos verlassen müssen. Es wird mir jedoch möglich sein, anständiges Erbteil zu hinterlassen, sodass auch diese nicht leer vom Hof gestoßen werden wie in so vielen anderen Fällen. Im Jahre 1933 habe ich mich mit meiner Ehefrau zur Ruhe gesetzt, das im Jahr 1926 erworbene Hausgrundstück Altenlohm Nr. 21 bezogen und meinem Sohn und Anerben Oskar den Hof zu selbständiger Bewirtschaftung übergeben, ohne jedoch auf die Eigentumsverhältnisse zu verzichten. Meine Söhne Oskar und Arthur hatte ich für die Landwirtschaft bestimmt und erzogen und ihnen eine demensprechende Ausbildung zuteilwerden lassen. Beide haben die Landwirtschaftsschule in Goldberg besucht. Durch das Erbhofgesetz und die Übergabe des Hofes an meinen Sohn Oskar wird nun der Hof für alles Zeiten der Familie erhalten bleiben. Wie die Stammbaumforschung ergeben hat, ist die Familie Karge väterlicherseits und mütterlicherseits eine alte Bauernfamilie und wird es nun auch für alle Zeiten bleiben, so Gott will. Wenn auch immer wieder einzelne Zweige der Familie die Verbindung von Blut und Boden verlieren werden und damit dem Aussterben verfallen, wie die Erfahrung bisher gezeigt hat, so wird doch der Hof ein Glied der Familie festhalten und für alle Zeiten verwurzeln. Ich übergebe nun meinen Kindern die Geschichte des Hofes und der Familie als Vermächtnis. Mögen meine Kinder Arthur und Else die Tradition der Familie stets hochhalten, auch wenn sie nicht mehr bodenständig sind und die Verbundenheit von Blut und Boden verloren haben. Meinem Sohn Oskar aber lege ich ans Herz, diese Aufzeichnungen dem Archiv des Hofes einzuverleiben. Mögen er und seine Nachfahren diese Aufzeichnungen stets ergänzen, damit die Geschichte des Hofes für kommende Geschlechter erhalten bleibt. Füge jeder Hoferbe hinzu, was er für wichtig hält und was er auf dem Hof geleistet hat. Damit die Nachfahren einst wissen, wie ihre Vorfahren auf dem Hofe gewirkt und gelebt haben. Dazu gebe Gott seinen Segen. Geschrieben von Oskar Bruno Hugo Karge, derzeitiger Erbhofbauer.“
René, das klingt nach Bodenständigkeit deine Familie mütterlicherseits. Die können offenbar richtig malochen, das lese ich hier heraus.
Mir hätte es auch gut gefallen, Richter, in einer Familie zu leben. Väterlicherseits habe ich diese 2013 endlich gefunden, und nun suche ich noch mütterlicherseits. Und wenn ich das hier lese, erfahre ich, dass auch dieser Teil meiner Familie sehr groß ist.
„Das Dorf Altenlohm (Abb. 3.3), das für meine Großeltern Karge, meine Eltern und für meine Schwester und mich Heimat war, liegt in Nord-Süd-Richtung auf 15°48‘ östliche Länge und erstreckt sich über etwa 3 Kilometer von 51°20‘ auf 51°74‘ nördlicher Breite. Es hatte 1944 etwa 700 Einwohner und war landwirtschaftlich geprägt. Es war keinerlei Industrie vorhanden, nur das für das tägliche Leben erforderliche Gewerbe (Fleischer, Bäcker, Kolonialwarenladen, Tischler, Schneider, Schuster) und das für die Landwirtschaft notwendige Handwerk (Schmied, Stellmacher und Sattler). 1936 gab es zwei Autos im Dorf, eines gehörte meinem Großvater, das andere dem Schneidermeister. Mein Großvater hatte einen Opel Kapitän gekauft, soweit ich weiß für 6.000 RM (ein Lehrer verdiente zur dieser Zeit etwa 200 RM im Monat). Meine Eltern machten den Führerschein, mein Großvater nicht, Tochter oder Schwiegersohn mussten ihn fahren. Ein Beispiel für das damalige Lebensgefühl ist die Führerscheinprüfung meines Vaters. Zwei Herren kamen per Fahrrad aus der 14 Kilometer entfernten Kreisstadt zur Fahrprüfung meines Vaters nach Altenlohm in die Schule.“




Das klingt so, als hättest du es selbst erlebt, Rene!
Du weißt doch, Richter, ich schreibe das hier im Namen von Oskar. Ich habe ja damals noch gar nicht gelebt. Und jetzt Ruhe, es ist noch viel zu schreiben über all das, was geschehen ist, bevor meine Mutter 1955 in den russischen Sektor kam.
„Mein Vater unterbrach den Unterricht für eine halbe Stunde. Die Schüler beschäftigten sich dann selbst, während er das Auto holte. Die beiden Herren mit meinem Vater am Steuer fuhren über einen Sandweg etwa zwei Kilometer bis zur kommunalen Kiesgrube, dort musste mein Vater das Auto wenden und zurückfahren. Die Herren stellten ihm den Führerschein aus und fuhren auf ihren Fahrrädern wieder zurück in die Stadt. Mein Vater setzte den Unterricht fort. Mein Großvater muss ein außerordentlich tüchtiger Mann gewesen sein. Er hat in fünfunddreißig Berufsjahren einen Hof mit knapp 30 ha aufgebaut (das entspricht der durchschnittlichen Größe der bäuerlichen Betriebe in dieser Region). Alle Wirtschaftsgebäude hat er neu gebaut und das Wohnhaus von Grund auf saniert (Abb. 3.4) sowie den Maschinenpark auf den neusten Stand der damaligen Technik gebracht. In den letzten zwanzig Baujahren muss er so viel verdient haben, dass er das Hausgrundstück (Abb. 3.5) 1926 kaufen und großzügig zu seinem Altenteil und Wohnsitz für die Familie seiner Tochter umbauen konnte (Abb. 3.6). Gleichzeitig war es ihm möglich, ein kleines Vermögen zurückzulegen, wie er in seiner Geschichte des Hofes schreibt. Einen Teil seines Vermögens hatte er in Aktien angelegt, den anderen Teil bei mehreren Banken gewinnbringend deponiert. Er meinte, verschiedene Banken und Geldanlagen seien nötig, damit niemand nachvollziehen könne, wie viel er besitzt.“
Ich möchte hier einige Geschichten einfügen, die die Durchsetzungskraft und Fähigkeit meines Großvaters dokumentieren:
„Altenlohm hatte eine alte Dorfkirche aus dem 13. Jahrhundert. Durch die Lutherische Kirchenreformation wurde Niederschlesien evangelisch. Gegen den Willen der Bevölkerung katholisierte die Gegenreformation dieses Gebiet wieder. Altenlohm verblieb jedoch infolge seiner Grenzlage im evangelischen Herzogtum Liegnitz, so predigte der aus dem katholisch gewordenen Nachbardorf Aslau nach Altenlohm geflüchtete evangelische Pfarrer an einem Grenzgraben auf der Altenlohmer, der evangelischen Seite stehend über das Wasser zur katholischen Seite den dort versammelten Aslauer Bürgern. Auf Dauer kam die zwangskatholisierte Bevölkerung der Umgebung mehr und mehr in die Altenlohmer Kirche zum evangelischen Gottesdienst. Daraufhin wurde der Kirchenbau vergrößert und musste in den nächsten Jahrhunderten noch mehrmals erweitert werden, sodass die Kirche schließlich drei Emporen hatte und 3.000 Menschen einen Sitzplatz bot. Durch die Säkularisierung Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Kirchen in den Dörfern wieder evangelisch, die Zahl der Kirchenbesucher in Altenlohm ging dadurch ständig zurück. Der riesige, vollständig in Holz gefertigte Bau, mit Holzschindeln gedeckt, verursachte der Gemeinde erhebliche Erhaltungskosten. Am 15. Mai 1935 brach bei Reparaturarbeiten am Dach Feuer aus, die Kirche brannte vollständig nieder. Die brennenden Schindeln flogen mehr als 3 Kilometer weit. Der Turm blieb lange stehen, weil dessen brennendes Fachwerk aus uralten Eichenbalken von hoher Tragfähigkeit war. Die Hitze war so groß, dass die Glocken schmolzen und abtropften. Einen wiedererstarrten Bronzeklumpen hatte mein Großvater als Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch. Ich war einer der letzten Täuflinge in dieser Kirche (Abb. 3.7). Altenlohm brauchte nun eine neue Kirche. Mein Großvater hatte seine eigenen Vorstellungen über deren Form und Ausgestaltung. Sie sollte nach seinem Wunsch von dem später sehr bekannt gewordenen Berliner Architekten Gerhard Langmaack entworfen und von einem bestimmten Maler, ebenfalls aus Berlin, ausgestaltet werden. Gemeinde und Kreisverwaltung sowie die evangelische Kirchensynode waren dagegen. Das sei viel zu teuer, das könne mit örtlichen Fachleuten genauso gut und billiger gemacht werden. Mein Großvater als Gemeindevorsteher und Vorstandsmitglied der Kreissynode Haynau hat sich jedoch durchgesetzt: Die neue Kirche wurde so gebaut und ausgestattet, wie er es wollte. Der Maler hat das Altarbild als Kopie des Gemäldes ‚Letztes Abendmahl‘ von Leonardo da Vinci geschaffen, die Köpfe und Gesichter jedoch sind von Altenlohmer Bürgern (Abb. 3.10). Dieses Gemälde wurde 1999 von den Polen überpinselt und das hier wiedergegebene Foto ist leider sehr unscharf. Meine Schwester war der erste Täufling in der neuen Kirche – was für ein Zufall!“