Kitabı oku: «Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung», sayfa 3

Yazı tipi:

Dass ich mich trotz des universellen Anspruchs im Folgenden mit Beispielen und Argumenten auf den europäischen Bereich und hierin sogar mit wenigen Ausnahmen auf den meines sprachlichen Umfelds beschränke, um mich nicht im Ungefähren zu verlieren, wird man nach dem voraus Bemerkten mit Erleichterung lesen. Die diesem Vorwort nachfolgenden Kapitel sollen nicht als eine kritische Auseinandersetzung mit den Moralphilosophen vergangener Jahrhunderte aufgefasst werden. Es versteht sich von selbst, dass ich mich hier auf das Wissen der europäischen Traditionen stütze, soweit ich es aufzunehmen und weiterzudenken in der Lage war, auch wenn mich außerhalb dessen die Lehren des Konfuzius, des Lao tse und des Buddha tief beeindruckt haben. Sie sind allein auf das praktische Handeln der Menschen gerichtet und sprechen nicht in Theorien, sondern in Beispielen. Dies hat ihnen allgemeine Verständlichkeit und lang währende Anerkennung gesichert. Das Bemühen des abendländischen Geistes hingegen richtet sich auf Gesetzmäßigkeiten des reinen Denkens, der Religion oder der Metaphysik. In den angeführten Zitaten habe ich mich mit wenigen Ausnahmen an die klassischen Autoren gehalten, in der Annahme, dass diese dem gutwilligen Leser leichter nachzuprüfen sind als etwa die der neueren deutschen, französischen oder angelsächsischen Philosophie, vor allem aber auch, weil sie noch eine Sprache sprechen, die mehr um Mitteilung als um Selbstdarstellung bemüht ist. Meine Absicht ist jedoch, aus neuer Sorge zu fragen nach dem, woran uns heute und auch noch in absehbarer Zukunft gelegen sein muss. Eine hypothetische Antwort im Voraus zu entwerfen und dann zu versuchen, sie zu begründen, wie dies ein oft begangener und dienlicher Weg wissenschaftlicher Forschungen ist, liegt nicht in meiner Absicht, denn ich hoffe Einsicht mehr und mehr in weitem Felde suchend zu erlangen. Es zeigen sich die überraschendsten Erkenntnisse oft unterwegs, an den Wegrändern des Denkens. Ein großer Rest von Zweifeln wird bleiben. Das sehe ich voraus. Manches, was man nicht brauchen konnte, jätete man als Unkraut aus Feldern und Gärten. Steine sprengte man aus dem Weg, Wasser lenkte man auf Mühlen, auf Turbinen oder in Stauseen. Verantwortung trug man nur für sich selbst. Seit man jedoch erkannt hat, dass sich selbst bedroht, wer seine Umwelt zerstört, hat sich das Verständnis menschlicher Ethik bedeutsam erweitert.

Wenn wir nach dem Ethos der Handlungen fragen, zu dem wir uns selbst verpflichten, müssen wir darüber hinaus auch nach dem höheren Ziel der täglichen Verrichtungen unseres Daseins fragen. Wenn der Sinn des menschlichen Daseins in nichts weiter bestehen sollte als das organische Leben auf dem Planeten Erde zu erhalten, so wären die Forderungen an unser Handeln allein zu beschränken auf den Gewinn von Nahrung, die Abwehr von Bedrohungen durch Fressfeinde und Krankheiten und die Zeugung neuen Lebens. Damit allein aber würde sich der Mensch nicht über andere Lebewesen erheben und konnte sich auch, seit er zu denken gelernt hat, nicht zufriedengeben. Eine wahre Ethik muss hinaus gelangen über eine Begründung ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Sie muss den Sinn und das Ziel allen Handelns über die bloße Erhaltung und Fortpflanzung des organischen Lebens hoch in die Zukunft heben. Unzählige Menschen haben ihr Leben gegeben, um auf solche Ziele zu verweisen. Manche sind dabei auch in die Irre gelaufen. Durch ihre Worte und Taten aber wurden wir uns bewusst, dass wir nicht allein um unseres Überlebens willen für uns und gemeinsam mit anderen handeln. Das wahre Ethos ist um Antworten bemüht, nicht nur in den täglichen Verrichtungen unseres Lebens, sondern mehr noch und vor allem in den Stunden, in denen wir uns unserer Vergänglichkeit und unseres Todes bewusstwerden und in unseren Geschäften innehalten und zurückschauen oder in die Ferne hinaus, um zu überlegen: Was haben wir getan? Was sollen wir tun? Was sollen wir lassen? Was ist unser Ziel? Und warum und wem zu Liebe all diese Mühe? Aus dieser Bemühung um Erkenntnis und um Sorge um einander gewinnen wir, wie kein anderer es deutlicher gesagt hat als Cicero, unsere dignitas, unsere Würde. Die aber ist der innerste Kern eines wahrhaft humanen Daseins. Diese Würde des Individuums, die doch allen gemeinsam ist, diese Würde ist es, die uns alle gleich macht. Sie ist uns allzu lange aus den Augen geraten.

Was das Ziel des nachstehenden Versuchs angeht, so will ich nicht altbewährtes Wissen noch einmal bestätigen. Ich glaube nicht an Systeme, bin mir aber dessen bewusst, dass manches Althergebrachte sich noch lange als unerschütterlich erweisen wird, anderes jedoch als hinfällig oder veränderbar. Weder das Alte noch das Neue sind ethische Kategorien. Allzu ungeduldig hat der kritische Lichtenberg behauptet: „Der oft unüberlegten Hochachtung gegen alte Gesetze, alte Gebräuche und alte Religion hat man alles Übel in der Welt zu danken.“ Manch einer könnte mit Lichtenberg viele Beispiele beibringen, die seiner Behauptung Nahrung bieten. Aber dem klugen Mann kann man dennoch nur Zustimmung geben, wenn man die Verallgemeinerungen systematischen Denkens gelten lässt. Abgesehen davon, dass es auch noch andere Quellen des Unheils gegeben hat als das Althergebrachte, wie etwa die Hast und Unduldsamkeit vieler Weltverbesserer, so haben doch manche uralte, scheinbar absurde Bräuche Frieden und Einverständnis gestiftet unter den Menschen, die sich in der Wirrnis neu erschlossener Wege verlaufen hatten. Hoffe darum keiner, er könne in den nachfolgenden Zeilen Antworten finden, die er nach Hause tragen kann. Alles, was zu erwarten ist, ist ein Bündel von Untersuchungen zu einer Fragestellung, die nur auf den ersten Blick alltäglich ist und banal. Man traue nicht denen, die behaupten Bescheid zu wissen. Nicht der Glauben, sondern der Zweifel hat uns mehr und mehr Erkenntnis gebracht und uns den Boden gesichert, auf dem wir von Jahrhundert zu Jahrhundert mühsam fortschreitend Halt finden. Den Zögernden und Zweifelnden ziemt es dennoch, sich nicht freizusprechen von einer Schuld, die wir alle tragen an den offenbaren Übeln der Welt.

Um Ordnung in diese Papiere zu bringen, werde ich einige Worte zur Definition des Begriffes der Ethik vorausschicken, werde dann untersuchen, worauf sie sich mit ihren Forderungen gründet, werde einen kurzen und darum lückenhaften Überblick über die bisherigen Bemühungen um verbindliche Normen geben und werde anschließend eine erste Betrachtung der Begriffe des Bösen und des Guten anzustellen suchen. Dem Handeln des Menschen soll hierbei nachgefragt werden in Hinsicht auf die Quellen der Tradition, der Religion, des aufgeklärten Denkens und des Gewissens, die es bestimmen. Dem folgt ein kurzer Exkurs auf die geschwisterliche Disziplin der Ästhetik. Und da dem Netz eines systematischen Forschens vieles und zumal das Lebendigste oft entschlüpft, sollen einige Betrachtungen über die sogenannten Tugenden der Keuschheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Pflichterfüllung, der Wahrhaftigkeit und der Barmherzigkeit noch einen gedrängten Platz finden. Schließlich soll eine kurze Bemerkung über die Begriffe von Scham und Schande, sowie über den in unserem Kulturraum heute nur mehr auf anorganische Materialien angewandten Begriff des Edlen das Stückwerk meiner Bemühungen ergänzen und nach einer Schlussbetrachtung die Arbeit ihr Ende haben.

ZUR DEFINITION DES BEGRIFFS

Abgeleitet ist der Begriff der Ethik vom griechischen Worte ethos. Dieses benannte einst die Summe der überlieferten Sitten und Gebräuche und wurde erst von den Philosophen der perikleischen Ära geadelt. Dass Sitten und Gebräuche durchaus zwei zu unterscheidende Begriffe sind, soll hier nicht weiter untersucht werden, um nicht gleich zu Beginn auf einen der tausend Abwege zu gelangen, die bei der Vielschichtigkeit unseres Themas allzu sehr locken. Es genüge darauf zu verwiesen, dass es nicht nur ehrwürdige, sondern auch sehr erschreckende Bräuche gegeben hat und hier und dort wohl auch noch gibt. Als Beispiel möge der Brauch gelten, den geschrumpften Kopf eines erschlagenen Gegners am Gürtel zu tragen oder jener, eine ungetreue oder auch nur ungehorsame Ehefrau zu töten, der dem Ehemann in vorgesetzlicher Zeit zugestanden wurde. Die Dionysien zu feiern war ein athenischer Brauch, aber war er auch eine Sitte? Der Stierkampf in Iberien, die Maskenumtriebe in den Alpen waren und sind noch immer Bräuche, aber kann man sie auch Sitten nennen? Wer einen Brauch befolgt, will seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bezeugen, wer dagegen einer Sitte sich fügt, gibt einen Teil seiner persönlichen Freiheit für ein allgemeineres Wohlmeinen dahin. Das, was wir heute Sitte nennen, ist meist religiösen Gepflogenheiten entwachsen oder hat sich aus dem selbstbestimmten Zusammenleben der Menschen herausgebildet. Und was ihre einst so gebieterische Strenge anlangt, so ist sie in unseren Jahren längst von den rasch verfallenden Geboten der Mode verdrängt, wenn auch noch nicht gänzlich außer Kraft gesetzt worden.

Darüber wurde gewiss auf der Agorá und in den Theatern vieles gesprochen. Sokrates kannte keinen würdigeren Gegenstand für seine Lehren als die nomoi apgraphoi, die ungeschriebenen Regeln. Als erster aber hat Aristoteles ein Werk geschrieben, das vom Verhalten der Menschen untereinander gehandelt hat. Dieses Werk hat er seinem Sohn Nikomachos gewidmet, um ihn und seine Nachfahren auf ihren Lebenswegen nicht allein durch gute Ratschläge zu leiten, sondern sie zu prüfendem Denken anzuleiten. Spätestens durch ihn hat sich die Bedeutung des Wortes Ethos von der volkstümlichen Überlieferung des Brauches weiter verschoben in Richtung einer sittlichen Verbindlichkeit und darüber hinaus, bis es heute den Rang einer philosophischen Disziplin erreicht hat.

Wenngleich das Wort Moral, dem lateinischen Plural mores entlehnt, im Grunde nichts anderes meint, hat es doch nicht die Ehrwürdigkeit des älteren griechischen Wortes erlangt, das tiefer grabend seither nach den Grundlegungen der Werte fragt und im philosophischen Diskurs bevorzugt Verwendung findet. Ethische Normen sind Gebilde der Theorie, keine Handlungsanweisungen, ihre Erfüllung wird hoffend erwartet und nicht fordernd erzwungen. Der griechische Geist wendet sich an das Individuum in seiner freien Entscheidung. Dem praktischen Sinn der Römer entspricht dagegen deren Moral. Ihren rechten Gebrauch findet sie in den Bereichen der Empirie. Sie erstellt die Regeln gemeinsamen Lebens im Alltag, ist dem praktischen Umgang zugewandt. Dem Urteil der Moral unterliegen all unsere Verständigungen, Verabredungen, Verpflichtungen, Mitteilungen und Zusammenarbeiten, all unsere Übereinkünfte durch Sprache, Gestik oder Mimik, all unser gemeinsam abgestimmtes Handeln. Moral ist zu allererst ein Appell eines jeden an sich selbst, dann erst ein Kriterium für den Umgang mit anderen und zuletzt eine Forderung an die Allgemeinheit der Menschen. Die mit ihr angesprochenen sogenannten Bräuche sind oft nichts anderes als ritualisierte Gewohnheiten, deren Befolgung zwar in umgrenzten Gemeinschaften geboten erscheinen mag und sogar erzwungen werden kann, die aber keine allgemein menschlichen Werte vertreten. So kann die Umgangssprache sehr wohl sagen: ich werde dich mores lehren, würde sich aber scheuen, damit eine Vorlesung über Ethik anzukündigen. Wenn man der Feststellung des Verhaltensforschers Konrad Lorenz zustimmt, „dass alles, was der Mensch in der Tradition verehrt und heilig hält, nicht einen absoluten ethischen Wert darstellt, sondern nur innerhalb der Grenzen einer bestimmten Kultur geheiligt ist“, kann dies als Hinweis auf eine Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen verstanden werden. Wenn man ins Einzelne geht, erkennt man rasch wie Moral und Ethik nicht immer und überall in eins fallen. Denn es gibt in unterschiedlichen Bezirken mehr als nur eine Moral. Da sind etwa Arbeitsmoral und Kampfmoral zu nennen und neben ihnen die Gruppenmoral der Verschwörer, Räuber und kriminellen Organisationen. In ihnen wird die omertà zur Tugend und das Händewaschen zur hygienischen Übung. Moralisch erscheint manchen auch die Unterwerfung unter die Gebote einer politischen Partei, deren Interessen in erster Linie auf Machtzuwachs gerichtet sind. Einen Eingriff in die Sexualmoral durch die Organe der Exekutive will man nur gestattet wissen, wenn der Schutz der Unmündigkeit, der Wehrlosigkeit oder der allgemeinen Hygiene und Gesundheit dies erfordert. Daran ist zu erkennen, dass sich im Sprachgebrauch ein deutlicher Spalt aufgetan hat zwischen den Begriffen von Ethos und Moral. Unerträglich erscheint einem, der heute darauf blickt, der Hochmut so mancher Partei, die sich gebärdet als wäre sie berechtigt, ihren Konkurrenten moralische Zensuren zu erteilen. Und so kann man dem fackelschwingenden Eiferer Karl Kraus nicht widersprechen, wenn er schreibt, es seien „die führenden Dummköpfe der Menschheit auf die Idee gekommen, die Moral als ethisches Schutzgut zu heiligen“. Es wird nämlich heute – und wurde mehr noch zu Lebzeiten von Kraus – unter Moral oftmals nur die kirchlich verordnete Sexualmoral verstanden. Die hatte noch in der sogenannten belle époque vor den beiden Weltkriegen ihre grimmigsten Hüter in den katholischen Beichtvätern, der bürgerlichen Justiz und den Redaktionen der konservativen Zeitungen. Seither jedoch hat sich – nicht allein durch die Revolten des Jahres 1968 – vieles ereignet, das den Zusammenhang zwischen Sexualität und Moral weitgehend außer Kraft gesetzt hat. Um keinen Missdeutungen ausgesetzt zu werden, wird im weiteren Fortgang, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass im Alltag die beiden Begriffe meist als Synonyme gebraucht werden, in unserem Zusammenhang vor allem von dem Begriff Ethik die Rede sein.

Auch wenn Werte, Zwecke und Ziele das menschliche Handeln weitgehend bestimmen, wacht doch über diesen das ethische Bewusstsein des autonomen Menschen, beurteilt, fördert oder hindert was immer getan wird, getan wurde oder getan werden soll. Die Regeln der Ethik, obwohl manchen Wandlungen unterworfen, beziehen sich stets auf die Würde des Menschen. Sie mahnen, sie fordern, lohnen und warnen. Befehle und Verbote sind nicht ihre Sache. Die sind Sache der religiösen und weltlichen Gesetze. Ohne sich auf das weite Feld der Rechtsphilosophie begeben zu wollen, kann doch gesagt werden, dass letztlich alle Bestimmungen der Gesetzgebung und Rechtsprechung auf Erkenntnissen und Wertungen der Ethik gründen und somit auch der Wandlungen und Ergänzungen bedürfen, der diese selbst unterworfen sind.

Der Phänomenologe Emmanuel Lévinas hat die Ethik „die erste Philosophie“ genannt. Auch wenn ihr die akademische Ordnung bisher meist die Disziplinen der Metaphysik, der Ontologie und der Erkenntnistheorie vorangestellt hat, so konnte doch seit Sokrates kein Zweifel daran bestehen, dass die Ethik, als die Wissenschaft vom Menschen, die größte Bewandtnis hat für unser Leben. Dabei will die Ethik nicht als unabänderlich geltendes Naturgesetz gelten. Sie wurde von Menschen geschaffen, um die Werte ihrer Glaubensinhalte, ihrer Kultur und ihres Gemeinschaftslebens sowie ihre gegenseitige Achtung zu wahren oder wenigstens durch Duldung zu sichern. Der Buddhismus lehrt, dass alle Erscheinungen nur eben die Bedeutung erlangen können, die wir ihnen in unseren zeitbedingten Meinungen zuschreiben. Und dass alle Rollen, die wir spielen, ebenso bedingt und darum wandelbar sind. Dies kommt unserem heutigen Verständnis von der Veränderbarkeit der nur für eine gewisse Zeit und ein gewisses Umfeld gültigen Lebensregeln weit entgegen. Wenn nun aber die Gebote der Ethik, trotz ihrer Berufung auf die Menschenwürde, an den Wandel der Epochen und die Grenzen der Kulturen gebunden sind, so ist die Aufgabe, die sich uns stellt, das Notwendende und Hilfreiche immer wieder neu zu suchen.

Ethik sei hier nun nach allgemeinem Verständnis vorerst einmal die Versammlung von Forderungen und Verwahrungen genannt, durch deren Anwendung das Verhalten der Menschen untereinander und gegenüber der sie umgebenden Natur in zeitlichen und räumlichen Grenzen bestimmt wird. Der erste Teil dieser Definition hat eine lange Geschichte, der zweite Teil ist eben ein paar Dutzend Jahre alt. Noch bis in die Nachkriegsjahre hinein sorgte man sich wenig um das, was keinen absehbaren Nutzen für den Menschen erbrachte. Tiere, die man nicht zähmen, jagen oder schlachten konnte, vertrieb man aus den besiedelten Gebieten, Bäume und Gebüsche rodete man von den Flächen, die man zu Äckern, zu Gärten oder zu Straßen bestimmt hatte. Alles Kraut, das man nicht zur Nahrung oder zur Heilung gebrauchen konnte, jätete man als Unkraut.

Die Aufklärung hat sich das unvergängliche Verdienst erworben, dass sie die Menschenrechte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einforderte. In unseren Tagen endlich hat man sich über die Grenzen der einzelnen Volksgemeinschaften und Staaten hinaus zusammen gefunden, um sich auf Vereinbarungen unter anderem im Völkerrecht oder im Internationalen Seerecht unter demokratischen Staaten weitreichend zu verständigen. Eines aber ist der Rahmen, den die Gesetze geben und der ungestraft nicht überschritten werden darf, ein anderes ist noch immer die ungeschriebene Sitte, die auch manches, das nicht vom Gesetz erfasst und beurteilt wird, nicht gestattet. Ihre Sanktionen sind nicht Strafen, wie sie die Gerichte verordnen, Strafen an Vermögen oder Beschränkungen der persönlichen Freiheit. Die Waffen der Sitte sind Scham und Schande. Die beiden können den empfindsamen Menschen oft schwerer bedrücken als alle anderen Verdikte und ihn oft bis zur Verzweiflung, zur Auswanderung oder gar in den Selbstmord treiben, ohne ihn je in gesprochenen oder geschriebenen Worten verletzt zu haben. Scham und Schande wurden in unseren Breiten und werden noch heute in einzelnen Ländern durch die Kodices der Ehre ohne öffentliches Urteil in zwingender Form verhängt.

In unserer Epoche, in welcher unter allen Bürgerrechten die Freiheit und die Gleichheit an die erste Stelle gesetzt wurden, fordert der Zeitgeist, alle überlieferten Bräuche, alle beengenden Gewohnheiten und alle sogenannten Tabus beiseite zu räumen. Darum kann aus diesen ihren ursprünglichen Quellen eine verbindliche Ethik für alle nicht mehr abgeleitet werden. Die Verantwortung nicht nur für den Einzelnen, sondern für das Leben insgesamt liegt dennoch oft in wenigen Händen. Das Risiko aber tragen alle, und alle will heißen: nicht nur die Menschen unserer Generation, sondern auch die, die da kommen sollen, und mit ihnen die Tier- und die Pflanzenwelt, welch letztere die anderen bisher am Leben erhielt. Allein das Aussterben einer einzigen Spezies, man nehme zum Beispiel die Bienen, kann alles atmende Leben gefährden. Erst die Zukunft wird zeigen, ob der Verlust der Lebenssicherheit durch den Gewinn der Handlungsfreiheit aufgewogen werden kann.

Eine Ethik, die ihre Werte allein aus den Sitten und Gebräuchen vergangener Zeiten schöpft, ist heute nicht mehr argumentierbar. Wir leben in einer Zeit, in der alles Tun und Denken auf das gerichtet scheint, was da kommen soll, oder droht zu kommen. An alle Tore wird gepocht, um freien Fortschritt zu fordern, ohne zu wissen wohin. Überall erheben sich Stimmen, die nach Reformen rufen, beklagt wird ungeduldig deren Stau in den Parlamenten und Verwaltungen. Alle wollen nur immer voran und schütteln ab, was sie behindern könnte. Nicht was immer schon gegolten hat soll weiter gelten. Dass solch weiterdrängendes Handeln jedoch die Folgen unverantwortlichen Tuns auf kommende Generationen verschiebt, das gilt es heute zu bedenken. Peter Sloterdijk spricht von einem blinden Sturz in die Zukunft. Darum muss umso dringender gefragt werden, was denn weiterhin gelten kann vom „ehrwürdig Alten“ und seinen Bräuchen und was neu Geltung gewinnen soll für unsere Welt und ihren Fortbestand in einer von uns bereits in Haftung genommenen Zukunft.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
352 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783990129258
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre