Kitabı oku: «Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung», sayfa 4
DER WURZELGRUND DER ETHIK
In einem ersten Versuch habe ich diesen Abschnitt mit dem Titel „die Fundamente der Ethik“ überschreiben wollen. Dann aber habe ich mich besonnen, dass wir es hier nicht mit einem fest gegründeten, unbeweglichen Bau, sondern mit einem wachsenden organischen Gebilde, vergleichbar einem Baum, zu tun haben, dessen Wurzelverzweigungen es nachzuforschen gilt, soweit dies gelingen kann. In jedem Fall hat die Ethik, wie alles vom Menschen Geschaffene und Geübte, einen Werdegang durchlaufen, dessen Anfänge im Dunkeln liegen, einem Dunkeln so tief, dass unsere Werkzeuge nicht hinreichen, um es zu ergraben. Man erkannte, dass man nach den Werten suchen musste, die unser Sein und Denken nähren. Und da würden die Werte, welche die Tagespolitiker und Richter zu nennen gewohnt sind – Demokratie, Verfassung, Freiheit des Individuums, Recht auf Eigentum, Freizügigkeit, Unverletzlichkeit der Person, Gleichberechtigung der Geschlechter –, nur eben die obenauf ruhenden sein, die oft von den Herrschenden allzu leicht beiseite geräumt werden. Wer tiefer fragt, muss eine Philosophie der Werte eröffnen, was den Rahmen dieser Betrachtungen weit überschreiten würde und hier nicht geschehen soll. Wer allein nach dem Wurzelgrund der Ethik sucht, hat sich ohnehin mehr aufgeladen als er zu leisten imstande ist und wird sich dabei bescheiden von verschiedenen Annahmen leiten lassen, die hier angeführt werden sollen. Es sind vier an der Zahl.
Die erste Annahme lautet: Die Forderungen der Ethik haben sich in einer langen tastenden Übung innerhalb von Sippen, Verwandtschaften, Interessengemeinschaften gebildet; sie wurden von unseren Vorfahren durch Übereinkunft begründet, sich selbst und denen, die mit ihnen leben und nach ihnen kommen, zur Verpflichtung einander beizustehen, die Nahrung zu teilen, die Kinder zu schützen, die Alten zu pflegen und die toten Ahnen zu ehren. Der Mensch ist offenbar, wie auch die meisten Tiere, zu gemeinschaftlichem Leben bestimmt. Durch Erfahrung hat sich ergeben, so können wir rückblickend vermuten, dass unsere Vorfahren, als sie den Schutz der Wälder verlassen hatten, nur durch Zusammenrottung erfolgreich ihre Beute erjagen und sich selbst der Gefahren der Savanne erwehren konnten. Sie haben, von ihren Instinkten geleitet, in diesen Gruppen gemeinsame Formen der Verständigung durch Laute und Gesten, Verhaltensregeln gefunden und auf Dauer gefestigt. Das, was wir heute als Sitte oder Brauchtum bezeichnen, hat sich durch die Erkenntnisse des gemeinschaftlichen Jagens, Sammelns, Teilens und Verteidigens der Beute zu immer höheren Formen entwickelt. Die Regeln des Zusammenlebens entsprachen nach und nach einer aus den verschiedensten Erfahrungen erwachsenen Übereinkunft. Aus diesen mögen die Pflichten des Einzelnen gegenüber den anderen erwachsen sein, ebenso wie die Rechte, die ein jeder einfordern durfte. So war der Einzelne den anderen Gliedern seiner Gruppe auf unterschiedliche Art verbunden. Wie stark solche Bindungen sich gestalten konnten, können wir auch heute noch ermessen, sei es in politischen Parteien, in religiösen oder kulturellen Vereinigungen, in Singvereinen, Sambaschulen oder Räuberbanden und am stärksten und oft gänzlich unbeherrschbar hervortretend in gemeinschaftlichen sportlichen Wettkämpfen oder kriegerischen Auseinandersetzungen von Staaten oder Völkern. Für seine Beheimatung in solch einer Gruppe konnte der Einzelne ein Anrecht auf Respektierung seines Daseins und seinen daraus folgenden Interessen erwarten. Es ist zu vermuten, dass sich dabei eine Rangordnung wie von selbst ergab, die nicht immer den Älteren oder Stärkeren an die Spitze stellte. Auf solchem Abwägen und Ausgleichen der Forderungen und Gewährleistungen gründeten sich nicht durch Diktat, sondern durch allgemeine Zustimmung die ethischen Regeln unseres Gemeinschaftslebens. Der homo erectus hat sich damit selbst Bewusstsein und Ansehen geschaffen. Eben diese Erfahrung des eigenen Wertes hat ihn mehr und mehr hervor wachsen lassen aus den Bedingungen seines kreatürlichen Daseins, sie bildet auch heute noch den Grund und Nährboden der Regeln, die Geltung gewonnen haben für das Zusammenleben Gleicher mit Gleichen.
Eine zweite Annahme lautet: Die Regeln wurden geoffenbart und aufgetragen durch eine überirdische Macht, eine Gottheit, und verkündet durch deren Priester, zusammen mit dem Gebot, die Überbringer der Botschaft und die Wächter über deren Befolgung zu ehren, im Namen dessen, der sie erwählt und gesandt hat. Diese Annahme verweist auf abwesende oder übergeordnete Mächte, die nicht oder nicht mehr zu belangen sind. Wenn man jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass auch die sehr verschiedenen Götter der Völker von den Menschen jeweils nach deren Bild und Gleichnis geschaffen wurden, muss man auch deren Gebote als solche erkennen, die nach irdischen Bedürfnissen erlassen wurden. Man gerät in die Gefilde der Theologie, wenn man weiter gräbt. Und die sollen hier, soweit es der Gegenstand erlaubt, gemieden werden. Dennoch: es bleibt im Grunde eine Überhebung, wenn man einem Schöpfergott Eigenschaften zuschreibt, die nach unseren Maßstäben entweder gut oder böse genannt werden. Sollte man diese Entscheidung nicht der Gottheit selbst überlassen? Sollte die Gottheit als gut zu erkennen sein, weil sie die Erde und damit den Menschen geschaffen hat, der doch offenbar alles andere als vollkommen gut ist, oder soll die Erde und alles Leben auf ihr gut sein, weil sie des Schaffens für würdig befunden wurde? Wem sich die Geheimnisse des Überirdischen erschlossen haben, der kann hier jede weitere Frage zurückweisen. Er ist anderen keine Rechenschaft schuldig.
Die dritte Annahme ist diese: Der Mensch durchschaut, sobald er sich zum aufrechten Gang erhoben, auf seinem fortschreitenden Wege mit einem mehr und mehr sich entwickelnden kritischen Verstand das Gewebe der Verpflichtungen und Bindungen, von Erwartungen und Befürchtungen der ihn bedingenden Natur und ihn umgebenden Wandergemeinschaft und wägt im Geiste die einen gegen die anderen ab, um sich dann zu entscheiden, welchen Weg er zu gehen hat, um zu einem gedeihlichen Zusammenleben mit anderen und zu einem selbst entworfenen Ziel zu gelangen. Wohl wissend, dass er auf diesem Weg nicht ohne Auseinandersetzungen vorankommen wird und sich nur durch große innere Überzeugung allen hemmenden Zwängen wird widersetzen können. Dies will heißen: Der Mensch entwirft sich selbst und plant seinen Weg und Fortschritt durch die Geschichte. Hier gerät man weiter fragend in die Bereiche der Werttheorie, die zu klären sucht, welches denn die geeichten Maßstäbe für die Werte seien, nach denen sich das Handeln in Gemeinschaft zu richten habe, oder ob hier nicht einfach nur alther geschleppte Übereinkünfte im Gewande der Logik sich Geltung verschafft haben, die sich nicht weiter begründen lassen. Dass eine solche Weise des Zusammenlebens erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Zivilisation zu einer wählbaren Möglichkeit wird, muss nicht lange erklärt werden.
Die vierte Annahme auf die Frage nach dem Woher und Warum der alles Leben ordnenden ethischen Regeln lautet: Im Innern des Menschen entstand über Generationen hin durch Versuch und Irrtum ein Korrektiv, das den Nutzen belohnte und den Schaden zu meiden suchte. Nutzen und Schaden sowohl für den Einen wie auch für die anderen in einer Gemeinschaft. Dieses Korrektiv spricht seither als eine Stimme, die im Verfolg des Überlebenswunsches von lange her erfahren hat und endlich zu wissen meint, was sein soll und was nicht, was zu wünschen ist und was zu verdammen. Wir nennen diese Stimme unser Gewissen. Es ist, da es nicht offen zu Tage tritt, niemandem verantwortlich als sich selbst. Und dem folgt, ohne Vorgabe eines Zieles und allein getrieben von dem Wunsch, dem eigenen Leben und dem Leben allgemein Frucht und Gedeihen zu sichern, wenn auch zuweilen auf Umwegen und unter Vermeidung äußerer Hindernisse, dem also folgt am Ende all unser Tun und Lassen. Dieses Gewissen anerkennt ohne weiteren Zweifel das Urteil der Selbstevidenz, das nicht hinterfragt werden kann. Dass ein jeder Mensch solch ein Gewissen in sich trägt, auch wenn es oft zu schlafen scheint, wird kaum bezweifelt. Wohl aber ist zu fragen, ob auch eine Gruppe oder gar ein Volk so etwas wie ein gemeinsames Gewissen haben kann. Wer nun meint, man sei mit der Berufung auf ein solches Gewissen wieder dort angekommen, wo der Mensch in seinem dunklen Drange, sich des rechten Weges wohl bewusst sei, dem kann nicht leicht widersprochen werden. Immerhin hat es ein jeder schon erfahren, dass beim Anblick eines neugeborenen Kindes, eines großen Kunstwerks oder einer überwältigenden Landschaft sich ein Gefühl von Glück einstellt und jeder Einwand am Sinn des Lebens sich schamvoll verkriecht. Ein jeder meint in einem solchen Augenblick zu erkennen, was er zu tun und was er zu lassen habe. Wenn auch manch einer glaubt, er müsse daraufhin sein Leben ändern, so ist doch dieser Anruf seines Gewissens meist wieder verflogen, sobald der Anlass dieser Selbstbesinnung aus dem Gesichtskreis gerückt ist.
Nachdem in der hiermit abgeschlossenen Einleitung versucht wurde, eine Begründung für die nachfolgenden Bemühungen um eine neue Ethik zu versuchen, soll im Folgenden auf die vier bisher laut gewordenen Antworten näher eingegangen werden und es werden zugleich die Instanzen benannt, die dafür Verantwortung tragen. Eine jede dieser Instanzen nämlich hat seit jeher einen bestimmenden Einfluss auf die Handlungen und Unterlassungen der Menschen ausgeübt, übt sie noch immer auf den einen oder anderen aus und kann darum nicht einer zeitgeistigen Mode folgend in leichtfertiger Verallgemeinerung beiseitegeschoben werden. Sowohl die den Vorfahren verpflichtete Überlieferung jahrhundertealter Bräuche, als auch religiöse Bindungen an ein überirdisches Jenseits, oder ein Appell an die kritische Vernunft und schon gar nicht die Stimme des individuellen Gewissens können außer Acht gelassen werden, wenn man sich auf die Spur der ethischen Regeln setzen will. Will man mit ihren Forderungen nicht nur einzelne Gruppen, sondern alle, die guten Willens sind, auf einem Weg vereinen, so muss man deren Beweggründe gelten lassen um eines gemeinsamen Zieles willen: des Überlebens des Menschen und des durch ihn bedrohten Planeten.
EIN KURZER RÜCKBLICK AUF DIE GESCHICHTE DER ETHIK
Die Archäologie belehrt uns seit über 200 Jahren über die Lebensformen unserer Vorfahren im eurasischen Raum. Wo immer man den Nährboden, den Ursprung und endlich die Quelle moralischer Werte – denn von Ethik ist in den Jahrtausenden des Paläolithikums nicht zu reden – zu finden meint, in allen Fällen kann man deren nur allmähliche Entwicklung und Ausformung in der erforschten Vorgeschichte verfolgen. Rückblickend scheint man sich darüber einig zu sein, dass der Mensch sich aus einem den Primaten ähnlichen Dasein erhoben hat zu einem aufrecht gehenden Lebewesen, das sich anderen dadurch überlegen erwies, dass es sich in Gruppen zusammenschloss, um gemeinsam zu jagen, zu sammeln und um einander zu schützen. So kam er bald in die Lage, sich auch Größeres zur Beute zu machen und so das „Gesetz des Stärkeren“ außer Kraft zu setzen. Dass ein Lebewesen einem anderen zur Nahrung dient, dies bildet gewissermaßen die Urangst allen Lebens. Kein Lebewesen ist vollkommen wehrlos, ein jedes will fressen und nicht gefressen werden. Das eine wehrt sich durch Zähne und Krallen, das andere durch Flucht, manche durch Panzerung, Gift oder Gestank. Der Mensch aber, der nach und nach die besten Waffen zu seiner Verteidigung und zur Erjagung aller anderen Kreaturen sich gebildet hat, kann heute, am Ende der Nahrungskette rückblickend, dieses Fressen und Gefressenwerden nicht anders betrachten als eine weise Übung der Natur. Indem alles organische Leben sich selbst verzehrt, reinigt es die Erde von Fäulnis und bewahrt seinen eigenen Fortbestand. Nichts was lebt, geht solcherart verloren. Es wird verwandelt von einem Leib in einen anderen. Um den naturgegebenen Schrecken des Einzelnen jedoch zu besänftigen und ihn in die schützende Gruppe zu fügen, kam es dahin, dass man unter Menschen sich darüber verständigen musste, dass hier nicht mehr der Eine dem Anderen zur Nahrung dienen sollte. Diese Übereinkunft kann man als erstes moralisches Gebot betrachten und es schuf unter Gleichen ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen. Es galt nun die Starken und Gewandten zur Jagd auszusenden, die Sorgsamen und Geduldigen aber zum Schutze der Jungen, zur Sammlung von Vegetabilien und zur Pflege des Feuers. Gleichheit herrschte, da die Väter nicht zu ermitteln waren, unter der Obhut der Mütter, die ein jedes ihrer Kinder mit gleicher Liebe bedachten. Im eurasischen Raum hatten sich im Paläolithikum die Menschen in vielköpfigen Sippen zusammengefunden, alle mit gleichen Rechten, und die Jüngsten, die Alten und Schwachen wurden von allen anderen umsorgt. Eigentumsrechte wurden erst beansprucht und gewährt, nachdem allmähliche Beobachtung und Übung die Herstellung nützlicher Werkzeuge gelehrt hatte. Wer diese geschaffen hatte, der konnte ihre Nutzung und ihren Besitz beanspruchen, dem wurden sie auch ins Grab beigegeben, so wie der selbst gefertigte Schmuck den Frauen. Hierdurch wurde klargestellt, dass Diebstahl oder gar Raub nicht geduldet wurde. Nach der Domestizierung der Rinder, Ziegen, Schafe, Schweine und endlich auch der Pferde und der nun beginnenden Wanderung großer Hirtenverbände auf der Futtersuche, drängten die aus Jägern zu Viehzüchtern gewordenen indoeuropäischen Nomaden in die Bereiche der sesshaften und meist matriarchalisch organisierten Ackerbauern. Es entstand Kampf und Streit um Anspruch auf Gewinn und Besitz. Dadurch nun gewannen die Männer als Angreifer oder Verteidiger stärkere Rechte. Die Sieger, die sich als Räuber erwiesen, legten Hand auf die Beute und forderten Nacherbschaft für ihren erkämpften oder besser gesagt errafften Besitz und Vaterrechte auf ihre oft durch Vergewaltigung erzeugten und von den Unterworfenen ernährten und erzogenen Söhne. Nach und nach gliederten sich nun die Sippen von Gleichberechtigten in vom Vater beherrschte Familien. In ihnen wurde die Achtung der Schutz und Nahrung Bedürftigen gegenüber ihren Eltern gefordert. Aus den Verhältnissen der Geschlechter zueinander, der Männer zu den Frauen, der Alten zu den Jungen, der Schützer zu den Schutzbefohlenen, der Erblasser, zu den Erbfolgern, entstanden die Gebräuche und aus den Gebräuchen die Sitten. Widerstand gegen die allgegenwärtige Bedrohung durch den Tod drängte die Blutsverwandten zueinander. Schutz boten Waffen und Mauern. Raub stand am Beginn des Anspruchs auf Eigentum. Mord kam in seinem Gefolge. Gefangene wurden als Beute gehandelt. Der eine wurde, wenn er überleben wollte, gezwungen, dem anderen als Sklave zu dienen. Der Verzicht darauf, einander zu töten, war die erste und wichtigste Übereinkunft unter Verwandten und Freunden, galt aber nicht unter Räubern und Beraubten. Krieg kam im Gefolge. Und selbst Gewalttaten wurden so etwas wie einer Ordnung unterworfen. Seit wann es das Tabu des Inzests gibt, lässt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Für die imaginierte Welt der Götter scheint es bis in die geschichtliche Welt hinein nirgends gegolten zu haben. Aus ihm aber erwuchsen die bedeutsamsten Regeln allgemeinen Verhaltens.
Gebote und Verbote gaben den Menschen erst, nachdem sie von ihnen selbst geschaffen wurden, die Götter. Der Gott, der die Israeliten etwa in der Zeit der Herrschaft Ramses III. um 1230 v. u. Z. aus der Knechtschaft Ägyptens führte, tat dies mit harter Hand. Dass er, wie Moses in seinem Namen verkündete, sie auserwählte unter allen Völker der Erde und einen Bund mit ihnen schloss, erwies ihn als einen herrschsüchtigen Stammesgott und erweckte den Israeliten einen Schwarm von Feinden, die sie eifersüchtig bedrängten. Dies war gewissermaßen sein Sündenfall, der ihm von den anderen Göttern niemals vergeben wurde. Jahwe, so ließ er sich nennen, regierte das Volk, das von Ägypten her an Unterwerfung gewöhnt war, mit Gewalt, gab ihm Gesetzestafeln, zwang es unter die Geisel des Unterdrückers, züchtigte es, wenn es gegen diese verstieß, und vernichtete ganze Städte um seiner Frevel willen. Er belud sie mit der Erbsünde der Hybris, übte Rache an ihnen für gemeinsame Schuld, vertilgte Städte und Landschaften mit Feuer und Schwefel und ertränkte Völker in der Sintflut und Heerscharen in den Fluten des Roten Meeres. Zu solchen kollektiven Schuldsprüchen, auch wenn sie die Verdammungsurteile selbst nicht mehr vollstrecken konnten, fühlten sich über Jahrhunderte hin auch die Priester, Richter und Propheten des Alten Testamentes ermächtigt. Diese Zusammenstellung von Texten aus verschiedenen Epochen der Geschichte, die erst im 7. oder 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vereinigt und redigiert wurden, ist eine der bedeutendsten schriftlichen Überlieferungen. Man kann nicht genug staunen über den religiösen, moralischen und poetischen Geist, der darin waltet. Als Quelle unwidersprüchlicher Wahrheiten kann das Alte Testament nur ein gläubiger Jude betrachten. Wir anderen aber erkennen heute aus einigem Abstand, dass es sich bei manchen der angeblich religiösen Gebote um hygienische Reinheitsvorschriften oder Frieden stiftende soziale Ordnungsversuche handelte. Aber in einer Epoche, die sich nur durch Erzählungen und Mythen belehren ließ und nicht von Beweisen, war die Form der steinernen Tafeln vom Sinai gewiss von größerer Wirksamkeit als der schriftliche Erlass einer gewählten Autorität. Israel, so bedeutsam es für die Religionen des Abendlandes wurde, liegt doch seitab im vorderasiatischen Raum, und so soll in unserer Betrachtung der Raum unseres Erdteils nicht weiter dorthin verlassen werden. Gegen religiöse Überzeugungen ist ohnehin mit Vernunftgründen nichts zu gewinnen. Der Gott der Richter und Propheten war aus unserer europäischer Sicht ein unnahbarer, rachsüchtiger orientalischer Alleinherrscher, der sich nicht scheute, seine Widersacher in den Abgrund zu schleudern. Mit ihm haben wir nicht mehr gemein als mit den babylonischen Königen oder den ägyptischen Pharaonen.
Etwa um dieselbe Zeit um 1250 v. u. Z. entstand am südlichen Ende des Balkans nach der Einwanderung der indoeuropäischen Griechen eine neue Gesellschaftsordnung, deren kulturelle Erben wird sind und mit der wir uns eingehender zu befassen haben. Mit der Ablöse des bis dahin im östlichen Mittelmeerraum weithin gebräuchlichen Matriarchats ging der Versuch einher, die ewige Ungewissheit der Vaterschaft durch die Einehe zu überwinden, um die Erbfolge im Mannesstamm zu sichern. Dies brachte nicht nur eine Ablöse der bislang im eurasischen Raum weit verbreiteten mütterrechtlichen Gesellschaftsordnung der Sippen mit sich, es ermöglichte nun auch die Anhäufung privaten Vermögens.
Der Übergang vom Matriarchat zum Vaterrecht wird in den griechischen Sagen der mykenischen Zeit nirgends so klar vorgeführt wie in der Artridensage, an deren Ende der Muttermörder Orestes von Pallas Athene von seiner Schuld entbunden wird und die ihn verfolgenden Rache fordernden Erinnyen zurückgewiesen werden. Die Einehe und damit die väterliche Verfügung über die Nachkommenschaft wird nirgends so triumphal gefeiert wie in der Hochzeit des Heroen Peleus mit der Meeresgöttin Thetis, zu der alle Götter des Olymps als Gäste geladen sind und in deren Gefolge im Streit um den goldenen Apfel der Trojanische Krieg seinen Ausgang findet.
Nach eine Zeit der historischen Verdunkelung, in welcher sogar der zuvor von den Minoern und Mykenern erlernte Gebrauch der Schrift vergessen wurde, gelangten in vielen der verstreuten Stadtstaaten rund um das Ägäische Meer zahlreiche Gewaltherrschaften an die Macht und wurden immer aufs Neue von den oft gewaltsamen Versuchen demokratischer Umstürze bedroht. Nur für kurze Jahrzehnte gelangte das Volk der wahlberechtigten Männer etwa in Athen zu einer unvergleichlich blühenden Herrschaft.
Privateigentum, Erbrecht und Sklaverei waren Kennzeichen der neuen Ordnungen des Patriarchats. Aus ihnen erwuchsen die Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens in Gebräuchen und Sitten. Lange Jahrhunderte hindurch standen Alleinherrschaften und Volksherrschaften in oft gewaltsamem Wettstreit. In Athen kam es zu Tyrannenmorden und Landverweisungen. In Sparta herrschten ohne Unterlass die adeligen Familien. Nach den nicht enden wollenden Peloponnesischen Kriegen erhoben sich landlos gewordene Bauern und entrechtete Opfer der Land- und Städteverheerungen zuerst in der ehemalig blühenden Handelsmetropole Korinth im Jahre 392 und bald schon auf der ganzen Peloponnes und töteten eine große Zahl von Aristokraten und Kriegsgewinnlern. Allein in Argos wurden über 1400 Wohlhabende mit Knüppeln erschlagen. Es war dies ein bald schon mit eisernen Waffen niedergeworfener Versuch, durch Gewalt Gerechtigkeit zu schaffen, der sich durchaus mit den Revolutionen späterer Jahrhunderte vergleichen ließe.
Keine menschliche Gesellschaft hat ohne ein Geflecht von überlieferten oder vereinbarten Gewohnheiten je in sich Halt gefunden. Manche von diesen wurden mit Gewalt oktroiert und eine jede hat sich nur bewahrt durch Gebote und Tabus. Geheiligte Riten und ehrwürdige Bräuche haben in Europa und Vorderasien die Gemeinschaften im inneren und äußeren Gleichgewicht gehalten oder es, wenn dieses gestört war, wieder hergestellt. Auf dieser Grundlage haben sich nach und nach die Gebäude der Gebote und Verbote erhoben. Diese wurden aufgeführt aus den Bausteinen meist nur mündlich vereinbarter Werte, auf die man meinte sich auch weiter verlassen zu können. Deren Kodifizierungen geschahen nicht ohne Feierlichkeit, um ihre Unverbrüchlichkeit zu dokumentieren. Sie haben über Recht und Unrecht, über Freiheit oder Gefangenschaft, über Einbürgerung oder Verbannung, und endlich oft genug auch über Leben und Tod entschieden. Und nur wo nach allgemeinem Konsens ausgleichende Gerechtigkeit in ihrer Anwendung herrschte, gewannen sie vorübergehende Dauer. Sage keiner, die ethischen Werte, die durch diese Bräuche gegründet und endlich durch Gesetze geschützt wurden, seien aus Beliebigkeit entstanden und seien gehandhabt worden in Beliebigkeit.
Die oft und nicht ganz zu Unrecht behauptete Misogynie der alten Griechen wird zumeist mit Zitaten von Hesiod und Euripides belegt. Dass die Frauen von der herrschenden Männergesellschaft nicht nur von der Politik, vom Handel, der Seefahrt und dem Kriegswesen, sondern auch vom öffentlichen Gesellschaftsleben ausgeschlossen waren, ist nicht zu leugnen, auch wenn nicht alle Stadtstaaten in gleichem Maße so dachten und handelten. Sparta und andere Städte und Inseln der Dorer, dem alten Mütterrecht noch lange verbunden, blieben sich stets des Wertes und der Würde ihrer Frauen bewusst. Anderseits ist den Frauen auch in Athen und ionischen Poleis in der Religion, der bildenden Kunst, und der Literatur eine Würdigung gegeben, die uns über die Jahrhunderte hinweg mit Bewunderung und Dankbarkeit erfüllt. Frauengestalten wie die goldene Aphrodite, die jungfräuliche Lieblingstochter des Zeus, Pallas Athene, die schönste aller Schönen, Helena, wie die Geliebten des Zeus, Leda, Europa, Danae, Kallisto, Io und Alkmene und wie die priesterliche Iphigenie, wie die weissagende Pythia in Delphi und endlich die Verführerin Kleopatra, ganz zu schweigen von den berühmtesten aller Hetären Lais, Thais und Phryne sind uns nicht von Verächtern, sondern von liebenden Verehrern geschenkt. Von ihnen wäre vieles zu erzählen, was uns allzu weitab führen würde. Man weiß wohl, dass eben aus den einander ergänzenden Eigenschaften der Geschlechter die wichtigsten Sitten der Völker sich herleiten, und weiß auch, dass es gerade diese sind, die das Leben lebenswert machen, weil sie die Quellen sind, aus denen es sich stetig erneuert.
Dass zu gewissen Zeiten in Bacchanalen, Saturnalien oder Karnevalen die Bräuche und Sitten der Völker in unseren Bereichen immer wieder aufgehoben und gar in ihr Gegenteil verkehrt werden, beweist, dass sie als von Menschen geschaffen und von Menschen erkannt bleiben und auch wiederum abgeändert oder abgeschafft werden können.
Unser heutiger Alltag, der eine unübersehbare Flut von Gesetzen geschaffen hat, bringt keine neuen Zeremonien mehr hervor und hat viele Bräuche vergessen. Aber auch wenn alte Riten meist nur noch in Religionen und geheimen Bünden beachtet werden, so wirken sie doch immer noch nach und treten bei gewissen Anlässen, seien es Hochzeiten, Ehrungen, Prozesse, Staatsbesuche oder Totenfeiern, wieder hervor. Sie bestimmen unter der Oberfläche noch immer weite Bereiche unseres Zusammenlebens von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Sie veranschaulichen das Zusammenspiel von Macht und Ehre und bestimmen manches Urteil der Mitwelt und der Geschichte. Es ist wohl der Mühe wert, dass man sich von Zeit zu Zeit ihrer nachdrücklich besinne.
Da nun dem Brauchtum und der Sitte mit Recht so bedeutsame Wirkung auf die Entwicklung und Ausformung der Moral zugeschrieben wird, soll noch einmal der Versuch gemacht werden, die beiden im Folgenden näher zu definieren. Während ein Brauch aus einer länger währenden Übung entstehen mag und von Gruppe zu Gruppe vor allem aber von Generation zu Generation weitergereicht werden kann, wie etwa eine Brautwerbung, ein Volkstanz, ein Stierkampf oder ein Maskentreiben, so wird er zur Sitte erst, wenn aus ihm ein allgemein wünschenswertes und von allen oder doch den meisten beachtetes Handeln oder Verhalten sich herausformt. Bräuche und Sitten ordneten das Zusammenleben der Menschen lange bevor von Gesetzgebungen und Richterämtern die Rede sein konnte. Heutigen Tags von Bräuchen zu reden, liefe dem Zeitgeist entgegen. Bräuche, so scheint es, werden allein noch für Touristen geübt und die dazu gehörigen Trachten werden als Landhausmoden meist nur mehr für Städter gefertigt. Sitten gar sind nur mehr als Tischsitten oder Benimmregeln in Geltung. Und es gibt dafür immer noch keinen besseren Gewährsmann als den Freiherrn von Knigge, der 1796 verstorben ist.
Die Sittlichkeit der Griechen war, wie schon oben dargelegt und anders als die der Juden, von der Übereinkunft der Gemeinde bestimmt, nicht von der Religion. Die Götter des Homer und der alten Mythen stellten – so wollten es die Griechen – keine allgemein verbindlichen Forderungen an die Handlungen der Sterblichen. Ihnen war allein daran gelegen, dass ihre Geschöpfe, die Menschen, sich ihnen gegenüber achtungsvoll erwiesen, dass sie Opfer darbrachten und keine Einwände erhoben, wenn sich einer der Unsterblichen unter sie mengte, um die Freuden des irdischen Daseins zu teilen. Was die Menschen untereinander an Niederträchtigkeiten begingen, ließ die griechischen Götter ungerührt. Rache für Untaten unter derengleichen überließen sie den uralten Erinnyen. Nur wenn einer sich gegen sie selbst aufwarf, dann schlugen sie zu. Medea, die mythische Zauberin, altem Göttergeschlecht entstammend, spricht in der Tragödie des Euripides aus, was viele noch lange nach ihr dachten: „Immer war ich den Feinden furchtbar und zu den Freunden voll Liebe.“ Und glaubte, ihre Taten zu entschuldigen, nachdem ihre Freunde sie verraten hatten und zu Feinden geworden waren. Es währte bis in die Tage des Aischylos, dass man sich auch des Leidens der Gegner besann.
Der böotische Bauer Hesiod, bedrängt durch eine Erbauseinandersetzung mit seinem Bruder, empfahl um das Jahr 700 v. u. Z. in seiner Schrift Werke und Tage einer Gesellschaft, die sich der Königsgewalt entledigt hatte, die Errichtung einer eigenen Ordnung der irdischen Geschäfte, gab Richtlinien vor für die Übung von Gerechtigkeit unter Gleichgestellten und erteilte Ratschläge für die Gestaltung einer sich selbst verantwortenden Gemeinschaft. Diese und andere Empfehlungen wurden in griechischen Städten, da die alten Sitten und Gebräuche nicht von Göttern, sondern von den Gemeinden auferlegt, keine strenge Verbindlichkeit mehr bewahren konnten, nach und nach in Regeln und Gesetzen niedergelegt. Die Gesetzgeber Lykurg in Sparta und Solon in Athen schufen Staatsverfassungen, nach denen das gesellschaftliche und politische Leben ihrer poleis für wechselnde Dauer geordnet wurde. Erst Sokrates mühte sich um den Weg, den ein jeder Einzelne suchen sollte, um sich selbst und der Umwelt gerecht zu werden und seinem Dasein Wert und Ziel zu geben. Unter den Sokratikern ging die Rede, man brauche nicht vieles zu wissen, wenn man das eine wisse: wie man leben solle. Der Suche nach diesem Wissen vor allem hatte das Bemühen ihres Lehrmeisters gegolten. Platon setzte die Idee des Guten als Ziel allen Handelns und begnügte sich damit, das Üble als dessen Verfehlung zu kennzeichnen. In den letzten seiner Schriften, dem Timaios und den Nomoi, entwickelte er zwar keine Theorie ethischen Verhaltens, suchte aber am Beispiel der imaginären Gründung eines Staates die Bedingungen des Gemeinschaftslebens nach ideellen Vorstellungen zu ordnen; wobei er den Besitz von Eigentum für den Einzelnen vorerst noch zuließ, ihn jedoch in einer fernen Zukunft und in einer Gemeinschaft von „Göttern und Göttersöhnen“ für überwindbar erklärte.
Erst der alles durchdenkende Aristoteles schuf mit seiner Nikomachischen Ethik ein grundlegendes und zusammenhängendes theoretisches Werk, das lang währende Wirkung übte über seinen akademischen Anlass hinaus. Er sah das Ethos begründet in den Bräuchen der Altvorderen und in der Zweckhaftigkeit ihrer Geltung. Unter den Tugenden war ihm die Gerechtigkeit die alles entscheidende. Da er sie in der Mitte zwischen gegensätzlichen Lastern zu finden meinte, überließ er ihre genauere Verortung der herrschenden Gesellschaftsordnung und gestand dieser die Fähigkeit zu, aus den äußersten Enden von Tugend und Laster auch deren gerechte Mitte zu errechnen. Offenbar war es Aristoteles mit der Empfehlung des „goldenen Mittelwegs“, der mesotes, allein um die friedliche Bewahrung des Bewährten zu tun. Nur wenige Jahrzehnte nach ihm gewann Epikur zahlreiche Schüler mit seiner Ethik der eudaimonia, die selbst in den unvermeidlichen Widrigkeiten des Daseins nach vollkommener Heiterkeit und Gelassenheit strebte.