Kitabı oku: «Tod in der Viamala», sayfa 3
«Vielleicht eher aus Pflichtbewusstsein als aus Liebe», stellte Joe nüchtern fest. «Vielleicht wollte sie prüfen, ob er bald von selbst starb oder ob sie nachhelfen sollte!»
Julia schüttelte den Kopf. Sie leerte etwas Öl in die Pfanne, bevor sie antwortete. «Er war ein gewiefter Geschäftsmann. Vermutlich hat er seine Besitztümer rechtzeitig so angelegt, dass sie nicht alle für den Aufenthalt im Heim draufgingen.»
«Vielleicht hatte er ein weiteres Kind, von dem niemand wusste!» Joe war von seinem neuen Einfall so begeistert, dass er nicht reklamierte, als Julia ihm zwei Zwiebeln reichte. «Solche Sachen kommen heutzutage ans Licht, wenn jemand stirbt. Die Behörden prüfen, ob weitere Erben vorhanden sind, bevor sie die Vermögenswerte freigeben. Das weiss ich von einem Kollegen, der nach dem Tod seiner Grossmutter plötzlich einen Onkel bekam, von dem in der Familie niemand etwas geahnt hatte. Dieses Kind würde seinen Pflichtteil erhalten.»
Julia hielt inne und betrachtete ihn nachdenklich. «Das wäre tatsächlich denkbar. Er habe früher ordentlich herumgeweibert, heisst es.»
Joe nickte selbstgefällig. Dann verdüsterte sich seine Miene. «Gibt’s kein Fleisch?», fragte er.
Julia reichte ihm eine Packung mit zwei Steaks und eine Dose mit Fleischwürze.
Viktor Jörimann reagierte am späteren Abend ungehalten über die Störung durch seine Frau Ursina. Hatte sie nach über vierzig Ehejahren immer noch nicht begriffen, dass er, wenn er in seinem Arbeitszimmer war, nur gestört werden wollte, wenn ein Staudamm brach? Seit einem Informationsanlass der Kraftwerke vor vielen Jahren war ihm bekannt, dass sein Haus an der Neudorfstrasse in Thusis überflutet würde, wenn eine der Staumauern am jungen Hinterrhein oder an einem seiner Zuflüsse bersten würde. Damals hatte er sich vorgenommen, nach seiner Familie als Erstes seine Sammlung an Büchern, Bildern und Dokumenten zur Verkehrsgeschichte der Viamala zu retten. Einen Grossteil seiner Freizeit hatte er damit verbracht, sich ein enormes Wissen über Säumer und Söldner, Vögte und Geistliche, Dichter und Maler anzueignen, die die Schlucht über die Jahrhunderte durchquert hatten. Ihre Zeugnisse waren ihm mehr wert als alle modernen Reichtümer. Ausgenommen vielleicht sein stattliches Haus, das nach dem Dorfbrand von 1845 gebaut worden war. Nachdem er es Ende der Siebzigerjahre erworben hatte, liess er es fachgerecht und kostspielig restaurieren. Ein langwieriger Prozess. Nach und nach erstrahlten die Parkettböden und Stuckdecken, die Steintreppen und Holzvertäfelungen in neuem Glanz. Auch sein Haus hätte er bei einem Staudammbruch gern gerettet, aber dieses Schmuckstück wäre für immer verloren gewesen. Nun hoffte er, dass ihm die verbleibenden Lebensjahre eine derartige Katastrophe ersparten. Mit weit über siebzig Jahren schien ihm das ein bescheidener Wunsch zu sein. «Was ist?», fragte er seine Frau mürrisch.
«Es ist nichts gestohlen worden in Mazzottas Zimmer», berichtete Ursina. Wie fast alle im Dorf nahm sie regen Anteil an den Gerüchten, die hartnäckig besagten, Mazzotta sei nicht eines natürlichen Todes gestorben.
«Weiss ich», gab er immer noch unfreundlich zurück.
«Aber zu erben gibt es genug», fuhr Ursina fort. «Geht sein ganzes Vermögen an Silvia Häberli-Mazzotta?»
«An wen sonst? An seine geschiedene Frau sicher nicht. An eine wohltätige Institution noch viel weniger.» Jörimann weigerte sich nach wie vor, den Blick vom Bildschirm zu lösen.
«Eben. Ausser Silvia kommt kaum jemand in Frage. Das bedeutet, dass am ehesten sie ihren Vater umgebracht hat.»
«Bist du verrückt?», fuhr er seine Frau an und wandte sich ihr endlich zu.
«Hast du eine bessere Idee?»
«Meine Güte, er hat sich während seiner Geschäftszeit genug Feinde geschaffen. Manch einer hätte ihn lieber tot als lebendig gesehen!»
«Ja, als er noch geschäftlich tätig war, bestimmt. Er hat sich aber vor bald zehn Jahren aus der Firma zurückgezogen.»
«Wer besonders schlimm übers Ohr gehauen worden ist, vergisst das ein Leben lang nicht», beharrte Jörimann. «Gut möglich, dass ihn so einer getötet hat.»
«Aha», meinte Ursina spöttisch. «Du denkst also, ein bald Achtzigjähriger hat den verwirrten Mazzotta im Altersheim besucht, seinen Stock geschwungen und genuschelt: ‹Warte nur, jetzt geb ich’s dir, du Verbrecher!›, und dann hat er ihn mit dem Nachthafen erschlagen?»
«Nachthafen gibt es keine im Altersheim», berichtigte ihr Gatte.
«Dann hat er ihn halt mit dem Kabel der Glocke an seinem Bett erwürgt. Oder seinen Tee vergiftet. Aber warum sollte ihn jemand, den er vor mindestens zehn Jahren betrogen hat, jetzt töten? Mazzotta war zu stark umnachtet, als dass er die Vorwürfe begriffen hätte, die ihm jemand machte.»
«Da könntest du dich irren, er hatte durchaus seine klaren Momente. Und an Begebenheiten, die länger zurücklagen, erinnerte er sich zum Teil gut.» Jörimann wandte sich wieder dem Bildschirm zu, doch Ursina liess nicht locker.
«Das müsste ein überaus verbitterter Besucher gewesen sein. Wenn aber ein jahrelang genährter Hass der Grund für die Tat war, müsste es ein Mord im Affekt gewesen sein, als Reaktion auf irgendetwas, das das Fass zum Überlaufen brachte. In diesem Fall hätte der Mörder aber nicht unbemerkt kommen und wieder verschwinden können.»
«Vielleicht konnte er das gar nicht. Vielleicht wird schon morgen rekonstruiert, wer in Mazzottas Zimmer ein- und ausging, und der Fall wird im Nu gelöst sein», meinte Jörimann abschliessend.
Ursina schnaubte. «Dann glaub weiterhin ans Christkind und widme dich die ganze Nacht Hannibal und seinen Elefanten in der Viamala», sagte sie schnippisch und verliess das Arbeitszimmer ihres Mannes.
«Hannibal hat die Alpen in der Westschweiz überquert, er ging nicht durch die Viamala!», rief ihr Jörimann verärgert nach.
Meta Schäfer hatte ihre Kollegen Buess und Camenisch zunächst über die gerichtsmedizinischen Erkenntnisse unterrichtet, die eindeutig aussagten, dass Mazzotta zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht mithilfe des Stoffhasen erstickt worden war und dass sie demzufolge ein Tötungsdelikt zu bearbeiten hatten. Danach hatte sie ihnen ausführlich von Erich Eichenberger erzählt. «Ich fasse zusammen», referierte sie zum Schluss. «Das Zivilstandsamt berichtet von einem unehelichen Sohn Mazzottas. Er heisst Erich Eichenberger, wohnt in Davos und wurde bereits von der Behörde darüber informiert, dass er ein rechtmässiger Erbe Mazzottas ist. Camenisch und ich werden mit ihm sprechen.»
Camenisch streckte bestätigend den Daumen in die Luft.
«Weitere rechtmässige Erben gibt es ausser der Tochter Silvia Häberli-Mazzotta nicht. Der Sohn starb ledig und kinderlos.»
«Wusste die Tochter von ihrem Halbbruder?», fragte Walter Buess.
«Das werden wir herausfinden müssen», kam Camenisch seiner Kollegin zuvor. «Falls nicht, wäre das eine tolle Geschichte. Sie denkt, sie erbt Mazzottas Vermögen, und dann heisst es: Irrtum, Frau Häberli-Mazzotta, nur die Hälfte ist für Sie!» Er deutete die Halbierung des Kaffeebechers an, den er in der Hand hielt. «Noch viel blöder, wenn sie ihren Vater umgelegt hat. Sie denkt: Okay, ein Toter hier, viel Geld da, es lohnt sich. Aber jetzt steht sie da mit einem ganzen Toten hier und nur halb so viel Geld da. Blöd. Sehr blöd!»
Buess verdrehte die Augen. «Bleib sachlich, bitte», wies er den jungen Kollegen zurecht, worauf es ihm dieser gleichtat und ebenfalls den Blick zur Decke wandte. «Das Vermögen war jedenfalls beachtlich, hast du gesagt, Meta. Es war zwar in der Tendenz abnehmend, seit er den Altersheimaufenthalt finanzieren musste, aber es hätte noch für Jahrzehnte gereicht. Die Tochter musste nicht um ihr Erbe fürchten.»
«Das nicht», stimmte Meta zu. «Es sei denn, sie brauchte dringend Kapital. Denkbar ist, dass sie jetzt Geld aufbringen musste, ihr Vater es ihr aber verweigerte, und sie ihn deshalb tötete.»
«Dazu werden wir die Kollegen in Basel befragen müssen. Sie wohnt in der Stadt und arbeitet bei einem Zulieferer der Pharmaindustrie», sagte Buess.
«Das ist das Understatement des Tages», bemerkte Camenisch. «Die Firma gehört ihr und einem Geschäftspartner je zur Hälfte, sie ist dort Direktorin und Chefin von achtzig Angestellten.»
«Ist der Geschäftspartner Herr Häberli, ihr Mann?», fragte Buess.
«Nein, der Geschäftspartner ist Wendelin Wagner. Häberli ist vorwiegend Hausmann, immer noch, obschon die Kinder fast erwachsen sind. Ein paar Stunden pro Woche gibt er Musikunterricht. Irgendetwas mit Saiten.»
Buess brummte missbilligend. «Ist das wichtig?»
«Nein, es ist völlig egal», meinte Camenisch versöhnlich. «Der Alte wurde weder mit einer Saite erdrosselt noch mit einer Tuba erschlagen.»
«Die ersten Befragungen im Altersheim sind abgeschlossen», ergriff Meta das Wort. «Beim Pflegepersonal kam nichts heraus, das wirklich richtungsweisend wäre. Die Angestellten stimmen darin überein, dass Mazzotta manchmal klar im Kopf war, manchmal verwirrt. Der Stoffhase, der ihn ums Leben brachte, beschäftigte ihn häufig. Vermutlich, weil er ihn den ganzen Tag um sich hatte und das Stofftier ihn stets an seine Tochter erinnerte. Die beiden haben sich anscheinend erst vor wenigen Jahren versöhnt. Er schien dankbar zu sein, dass sie ihn besuchen kam.» Meta schob sich ein winziges Pfefferminzbonbon in den Mund, das vierte seit Beginn der Besprechung. «Hie und da sprach er von seinem Sohn. Jemand meinte, dann sei er traurig geworden, alle anderen nannten seine Haltung dabei eher ärgerlich oder sogar leicht verächtlich. Weiter sprach er manchmal vom Bau des höchsten Hauses in Thusis. Er nannte es grossspurig Hochhaus.»
«Was ist daran grossspurig?», fragte Camenisch. «Es ist tatsächlich ein Hochhaus.»
«Es hat elf oder zwölf Stockwerke, ein Hochhaus ist das nicht», antwortete Meta.
«Gemäss Definition der Gebäudeversicherung sind Hochhäuser Bauten mit einer Gesamthöhe von mehr als dreissig Metern. Elf Stockwerke plus die Attikawohnung auf dem Dach macht zwölf, mal zweieinhalb Meter Geschosshöhe macht dreissig Meter. Hochhaus.» Camenisch spielte mit einem Faden, der sich am Saum seines Hemds gelöst hatte, und bemerkte zunächst nicht, dass ihn seine beiden Kollegen verblüfft anstarrten. Endlich schaute er auf. «Ist etwas?»
«Warum weisst du das?», fragte Buess.
Camenisch zuckte die Achseln. «Keine Ahnung.»
Meta grinste, dann redete sie weiter. «Wenn er vom Hochhausbau sprach, zeigte er zwar Freude, aber auch Ernst und Besorgnis, dies alles gemäss Aussagen des Personals. Der Bau fand vor vierzig Jahren statt. Wir werden wohl in der Vergangenheit forschen müssen.»
Buess warf dem jüngeren Kollegen einen bösen Blick zu, weil dieser mit dem Finger auf ihn zeigte, als hätte er eine Waffe in der Hand.
«Ausserdem verlor er sich manchmal in Erinnerungen aus jungen Jahren, dann sprach er vom Bocciaspielen, von seinem ersten Auto, vom Angeln oder vom Fussball.» Meta konsultierte ihre Unterlagen. «Dabei war er manchmal gut gelaunt, oft aber verärgert oder aufgewühlt. Eine Pflegerin war sich sicher, dass ihn etwas umtrieb, wenn er von diesen Freizeitaktivitäten sprach. Vielleicht eine Rechnung, die er noch mit jemandem offen hatte. Ein Unrecht, das er erlitten hatte oder aber eines, das er geschehen liess. Die Pflegerin konnte es nicht genauer beschreiben, aber ihre Aussage machte einen wohlüberlegten, fundierten Eindruck.»
«Wir werden selbst mit ihr sprechen», entschied Buess.
«Ja», bestätigte Meta Schäfer, «Camenisch und ich machen das. Du wirst dich um den Bau des Hochhauses kümmern.»
Camenisch grinste abermals und machte eine spöttische Handbewegung in Richtung Buess, die dieser wiederum mit einem bösen Blick quittierte.
4
Auch in der Süsswarenfabrik brodelte die Gerüchteküche. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Produktions- und Verpackungshallen beteiligten sich am wenigsten daran. Viele von ihnen waren Einwanderer und hatten sich einen deutschen Grundwortschatz aneignen müssen, seit sie hier lebten. Sie verstanden darüber hinaus fabrikspezifische Ausdrücke wie Zucker, süss, Farbe, Gummilöwen, Glukose, Gelatine, verpacken, Ausschuss. Möglicherweise kannten sie ausserdem den Begriff Gummibärchen, weil das die gebräuchlichere Bezeichnung für die zähen Dinger war, die sie herstellten. Die Gründer der Süsswaren Thusis AG hatten sich jedoch vor gut vierzig Jahren entschlossen, auf Löwen anstelle von Bären zu setzen. Als die Fabrik 1977 eingeweiht wurde, versetzten sie mit ihrem Konzept alle in Erstaunen, die Erfindung der Gummilöwen kam einem gelungenen Coup gleich. Rasch zeigte sich, dass der eingeschlagene Weg Erfolg versprach. Die Löwen stellten den Bezug zum Ortswappen von Thusis her, auf welchem ein goldener Löwe auf rotem Grund ein Zepter schwingt; sie hoben sich deutlich von den Bären ab, die die Süssigkeitenauslagen der Läden beherrschten, und sie liessen sich auf mannigfaltige Weise vermarkten. Aufblasbare Löwen, Löwen in Malbüchern, Comic-Löwen, lederne Löwen und Plüschlöwen in allen Farben hatten in den vergangenen Jahrzehnten die Werbekampagnen der Unternehmung dominiert.
Der ungewöhnliche Todesfall war eher in den Büros als in der Produktion ein Thema. Die Angestellten im Versand und im Rechnungswesen, in der Administration und im Personalbüro diskutierten den Skandal ausführlich und mit kaum verhohlenem Genuss. Faktisch verhielten sich die höheren Angestellten genauso. Sie gaben sich zwar den Anschein, betroffen zu sein und dem Toten ein ehrendes Andenken zu bewahren. Doch auch in den oberen Etagen wurde ausgiebig gemutmasst. In der ganzen Firma verbreiteten sich die Gerüchte schneller als die Pollen im Frühling, und ihre Ausstattung war bunter als jeder Blumenstrauss.
Die Firma verfügte über zwei Direktverkaufsstellen. Einer der Läden befand sich im Firmensitz und wurde hauptsächlich von den Mitarbeitenden in der Produktion betreut, weswegen sich zu deren beschränktem deutschen Wortschatz auch Ausdrücke wie «besten Dank», «Ihr Retourgeld» und «einen schönen Tag» gesellten. Er erfreute sich bei der einheimischen Bevölkerung grosser Beliebtheit, weil neben den Werbeartikeln und Süssigkeiten auch verbilligte Ware angeboten wurde, etwa solche mit Farb- oder Formfehlern oder beschädigter Verpackung. Der zweite Laden war in der nahen Autobahnraststätte und das eigentliche Aushängeschild der Firma. Der Standort war ideal, die Artikel geschmackvoll präsentiert, das Publikum zahlreich. Es verstand sich von selbst, dass in dieser Verkaufsstelle nicht die ungelernten Produktionsmitarbeitenden im Einsatz standen, sondern Personal, das höhere Anforderungen erfüllte.
Eduard Demont, einer der Gründer des Unternehmens, verbrachte jede Woche zahlreiche Stunden dort. Er war überzeugt, dass es seine Idee gewesen war, nach der Pensionierung aus lauter Freude an den Süsswaren im Laden tätig zu sein. Er liebte den Kontakt mit Leuten, sprach Italienisch und Englisch, scheute sich nicht vor Arbeitseinsätzen am Wochenende und betrachtete diese Beschäftigung als Ehrenamt. In Tat und Wahrheit war es freilich seine Frau gewesen, die ihn gezielt in diese Richtung gesteuert hatte. Ihr hatte davor gegraut, ihren ruhelosen Ehegatten von einem Tag auf den andern ständig zu Hause zu haben, sich von ihm in Haushaltsangelegenheiten dreinreden zu lassen und womöglich ihre zahlreichen eigenen Aktivitäten einschränken zu müssen. Ihre subtilen Bemühungen hatten Erfolg: Eduard ging in seiner neuen Aufgabe auf und war im Ruhestand so beschäftigt, dass sie sich kaum öfter sahen als zuvor. Da der Laden erst um zehn Uhr öffnete, brauchte er sich morgens nicht zu beeilen mit dem Aufstehen, so dass seine Frau längst unterwegs war, wenn er sich den ersten Kaffee kochte. Am Mittag arbeitete er häufig durch und verpflegte sich am Nachmittag irgendwann im Restaurant der Raststätte. Dadurch entfiel auch das gemeinsame Mittagessen, was sowohl Eduard als auch seiner Frau zupass kam.
Einige Tage nach der Beerdigung suchte die erste Hitzewelle des Sommers die Gegend heim. Demont war froh, dass in der Raststätte immer die gleiche Temperatur herrschte, und die Kundschaft, schweissgebadet vom Gang über den in der Sonne schmelzenden Asphalt, suchte dankbar im Gebäude Zuflucht. In diesem Zustand liessen sich die Gäste gern auf ein Gespräch mit ihm ein, um ihren Aufenthalt etwas in die Länge zu ziehen. Nicht wenige sprachen ihn auf den rätselhaften Tod des Italieners an, über den bereits zahlreiche Journalisten auch überregional berichtet hatten. Bereitwillig gab er Auskunft, zeigte sich betroffen vom Verlust des langjährigen Wegbegleiters, beteiligte sich an Spekulationen über mögliche Mordmotive. Bedauerlicherweise erfuhr er auf diese Weise nichts Neues, da seine Kundinnen und Kunden nicht mehr darüber wussten als er.
Mit einer Ausnahme. Die schlanke Frau mit den blondierten Haaren musste in jungen Jahren eine Schönheit gewesen sein. Sie wäre es wohl auch jetzt noch gewesen, wenn sie nicht deutliche Spuren des Alters aufgewiesen hätte. Demont schätzte sie auf Mitte fünfzig, und aufgrund des leicht aufgedunsenen Gesichts, des ungesunden Teints und der Tränensäcke schloss er auf den Konsum von zu viel Alkohol oder Medikamenten. Verblüfft erfuhr er, dass sie Mazzotta Ende der Achtzigerjahre gekannt hatte.
«Ich habe damals in Chur gearbeitet, und eine meiner Arbeitskolleginnen hatte eine heisse Affäre mit Mazzotta. Sie war einige Jahre älter als ich, verheiratet, zwei Kinder. Als sie Mazzotta traf, erlag sie ihm mit Haut und Haaren. Das Verhältnis dauerte vielleicht ein, zwei Jahre. Als sie sich trennten, wusste sie noch nicht, dass sie wieder schwanger war. Ebenso wenig wusste sie in der Folge, wer der Vater des Kindes war. Ihr Mann stellte sich die Frage nicht. Entweder ahnte er wirklich nichts von der Beziehung, oder er wollte sie nicht wahrhaben. Wie auch immer, der Bub wuchs als sein Sohn auf.»
«Hat das kein Gerede gegeben?», fragte Demont ungläubig.
«Doch, natürlich. Es wurde viel geschwatzt und gespottet. Die Leute im Quartier spekulierten über Jahre, wem der Junge wohl glich.»
«Das Kind ist längst erwachsen», überlegte Demont. «Ob es wohl selbst nie Fragen gestellt hat?»
«Keine Ahnung», antwortete die Frau. «Ich bin aus Chur weggezogen, als der Junge noch nicht einmal in den Kindergarten ging. Danach habe ich die Familie aus den Augen verloren.»
Leicht belustigt betrachtete Rösli Sjögren ihren ältesten Urenkel. Der Junge wurde bald vierzehn und zeigte alle Anzeichen der Pubertät: aufgeschossen wie Unkraut und picklig wie ein Fliegenpilz. Waren Röslis Söhne in diesem Alter dünn gewesen wie Spargeln, glich Simon eher einer der Palmen, die manchmal in Cocktails und Coupes stecken: Dünn wie ein Zahnstocher und zuoberst eine überdimensionale Frisur. Sein dichtes, rötlichbraunes Haar wuchs in alle Richtungen und verdeckte sein Gesicht zu drei Vierteln. Das war ein Vorteil, überlegte Rösli, weil so nur ein Viertel der Akne zu sehen war, aber ein Nachteil, weil das Haar schon kurz nach dem Waschen wieder aussah wie ein Wischmopp bei McDonald’s.
Der Gegensatz zu seinen beiden rosaroten Halbschwestern hätte nicht grösser sein können. Die Mädchen waren erst zwei und vier Jahre alt, adrett frisiert, süss angezogen und von Kopf bis Fuss herzig anzusehen. Auch ihr Benehmen liess keine Wünsche offen, und ihre Mutter Fabienne versuchte nicht, ihren Stolz zu verbergen.
Simon beschäftigte sich sehr bald mit seinem Smartphone und die Mädchen mit ihren Spielsachen, so dass die Enkelin annahm, ungestört über ihren Nachwuchs sprechen zu können. Rösli glaubte förmlich zu sehen, wie sich Simons Ohren spitzten, als sich seine Mutter über die Unordnung in seinem Zimmer beklagte.
«Jeden Tag streiten wir deswegen. Er ist Teil unseres Haushalts, er muss sich an die Regeln halten. Ich kann doch nicht zulassen, dass es bei ihm aussieht wie auf einer Müllhalde!», ereiferte sie sich.
«So übel wird es nicht sein», versuchte Rösli zu beschwichtigen.
«Oh doch, du machst dir keine Vorstellungen! Manchmal kann ich kaum durchs Zimmer gehen, um das Fenster zu öffnen oder das Bett zu machen, so viel Unrat liegt herum.»
«Lass ihn doch sein Bett selbst machen», riet Rösli, «dann wird er irgendwann schon aufräumen.»
«Das geht nicht, dann macht er sein Bett überhaupt nicht!»
«Wäre das schlimm?» Rösli unterdrückte ein Grinsen. Simon auch.
«Ja!», rief Fabienne. «So ein Chaos hast du noch nie gesehen, es ist untragbar!»
Rösli wurde ernst. «Jugendliche benehmen sich ein paar Jahre lang wie Ausserirdische, das stimmt, aber danach normalisiert sich die Lage. In diesen Jahren kannst du täglich mit ihnen streiten, oder du kannst sie machen lassen und dich nicht darüber ärgern. Das Resultat ist dasselbe, das Streiten nützt nichts und schadet nichts. Nur dein eigenes Wohlbefinden ist ein anderes.»
«So einfach ist das nicht», meinte die Enkelin. «Ich möchte doch nicht, dass er schief angesehen wird, wenn er so schmuddelig daherkommt.»
«Du machst dir Gedanken, was die Leute denken?», staunte Rösli. «Ich glaube mich zu erinnern, dass du in deinen wilden Jahren lila Haare hattest, ausschliesslich schwarz angezogen und von zweihundert Ringen durchlöchert warst!» Sie zögerte kurz, bevor sie hinzufügte: «Und dass du mit zwanzig meinen Lieblingsurenkel zur Welt gebracht hast.» Jetzt grinste Simon tatsächlich.
Fabienne ersparte sich eine Antwort und wandte sich dankbar ihren Töchtern zu, die allmählich genug bekamen von den Spielsachen. Rösli machte den Dreien einen Ausflug in den grossen Garten des Altersheims schmackhaft, wo es auch allerlei Tiere zu bestaunen gab, und scheuchte sie aus dem Zimmer. Simon hielt sie zurück mit der Bitte, ihr etwas auf ihrem iPad zu erklären.
«So!», sagte Rösli erleichtert, als sich die Türe hinter Mutter und Töchtern geschlossen hatte, und deutete auf das Gerät auf dem Tisch. «Bitte hol das Ding hierher und setz dich zu mir!»
Simon kam ihrer Aufforderung eifrig nach, gar nicht in der typisch schleppenden Art der Teenager. «Was möchtest du wissen, Basatta?» Wie immer freute sich Rösli über die rätoromanische Anrede, die ihr entschieden freundlicher schien als das deutsche Urgrossmutter, das sie stets an Fossilien und Dinosaurier denken liess.
«Ich möchte alles wissen über Gerardo Mazzotta», verkündete Rösli feierlich.
Ihr Urenkel schaute sie verständnislos an: «Über wen?»
Rösli seufzte. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gab es im Umkreis von fünfzig Kilometern einen Menschen, der nichts vom rätselhaften Todesfall im Altersheim gehört hatte, und genau dieser sass ihr gegenüber. Sie erläuterte Simon, worum es ging, und wie erwartet war dieser begeistert. Sofort begann er zu tippen, als spiele er ein Allegro furioso, und lieferte Rösli postwendend erste Erkenntnisse, allerdings nichts, was ihr nicht schon bekannt gewesen wäre. Woran sich in den folgenden zwanzig Minuten nichts änderte. Rösli sah ein, dass Google womöglich allwissend war, sein Wissen aber nicht so leicht preisgab. Sie besass ihr Gerät, um Mails und Nachrichten zu schreiben, zum Spielen und zum Filme schauen, aber Googeln war ihr nicht nur als Wort fremd. Sie beschloss, das Recherchieren ihrem Urenkel zu überlassen. Wie eine verschworene Gesellschaft vereinbarten sie, dass sie Simon jeweils ihre Fragen senden würde und er dann für sie herausfinden sollte, was sie interessierte. Simon streckte den Daumen in die Luft, um das Abkommen zu besiegeln, und konnte seine Begeisterung gerade noch hinter einer gelangweilten Miene verbergen, als seine Mutter und seine Halbschwestern eintraten, um ihre Heimkehr anzukündigen.
«So, Schäfli», sprach Camenisch seine ältere Kollegin an. «Sind wir jetzt klüger?»
Meta lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und fächelte sich mit einer Akte Luft zu. Wie würde das im Hochsommer herauskommen, wenn bereits im Juni eine solche Affenhitze herrschte? Sie riss sich zusammen und versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, welches sie und Camenisch vor der Mittagspause mit einer der Pflegerinnen im Altersheim geführt hatten. Sie war ihnen bei der ersten Befragung aufgefallen, weil sie differenzierte Beobachtungen über Mazzottas Reaktion auf gewisse Themen gemacht zu haben schien. Das Gespräch war nur mässig befriedigend verlaufen. «Wir wissen vielleicht etwas mehr, aber klüger sind wir damit nicht geworden», antwortete sie deshalb.
«Treffend ausgedrückt.» Camenisch hielt sich die kühle Colaflasche an die schweissnasse Stirn. «Bei der ersten Befragung schilderte sie, dass sich Mazzotta manchmal in Erinnerungen an seine jungen Jahre verlor und dabei verschiedene Gefühle durchlebte. Sie war überzeugt, dass ihn etwas in diesem Zusammenhang stark beschäftigte oder belastete. Aber was soll das sein?» Camenisch hob theatralisch die Schultern. «Was kann ihn bei den Themen Boccia, Angeln und Fussball aufgewühlt haben? Oder bei seinem ersten Auto?»
«Immerhin hat sie sich bemüht, ernsthaft darüber nachzudenken», meinte Meta Schäfer, «bloss leider mit mässigem Erfolg. Am sichersten schien sie beim Auto zu sein.»
Camenisch stimmte ihr zu. «Ja, sie berichtete, dass er mit Freude oder mit Schalk davon erzählte. Oft nannte er im gleichen Atemzug Frauennamen. Verschiedene, häufig auch la bella Ruth. Dabei dürfte es sich um seine spätere Frau gehandelt haben.»
«Genau. Aber auch von ihr erzählte er unbelastet. Er bewegte sich mit seinen Erinnerungen in der Zeit, als er sie kennen lernte und sie sich verliebten, also in den ersten Monaten oder Jahren, in denen sie zusammen glücklich waren.» Meta spielte mit der Dose mit ihren Pfefferminzbonbons. «Ein eigenes Auto, eine hübsche Frau an seiner Seite, die Zukunft vor Augen, das waren wohl seine etwas verklärten Erinnerungen.»
«Hoffentlich erinnere ich mich in sechzig, siebzig Jahren auch nur noch an meine Karre und an meine Freundin», seufzte Camenisch. «Das wären glückliche alte Tage, wenn ich ihren Hund, ihren Musikgeschmack, dich und Buess vergessen hätte!»
Meta überhörte die Provokation. «Was kann ihn beim Fussball- oder Bocciaspielen oder beim Angeln aufgewühlt haben?», fragte sie.
«Aufgepasst, hier hat die Pflegerin weiter differenziert», wurde Camenisch wieder ernst. «Wenn er vom Fussball sprach, dann wie einer der italienischen Tifosi. Er wurde emotional, er ärgerte sich über alle und jeden. Allem Anschein nach nannte er sogar Namen, an die sie sich leider nicht erinnern kann. Ich vermute, dass er ein leidenschaftlicher Spieler war und sich masslos aufregte, wenn etwas nicht so lief, wie er wollte. Schiedsrichter, Trainer, Teamkollegen, ich kann mir gut vorstellen, dass alle ihr Fett abbekamen, wenn ihm die Sicherungen durchbrannten. Damit wird er sich Ärger eingehandelt haben, der ihn bis ins hohe Alter verfolgte.»
«Das kann gut sein», stimmte Meta zu.
«Als aufgewühlt und ernst schilderte sie ihn nur, wenn er vom Angeln und Bocciaspielen sprach. In diesem Themenfeld scheint es etwas zu geben, was ihn belastet hat. Leider kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche Sorgen diese beiden Beschäftigungen verursachen können.» Camenisch zerdrückte die leere Colaflasche.
«Seine Erzählungen waren offenbar so wirr, dass sie nicht herausfand, wovon er sprach», bedauerte Meta. «Immerhin hat sie versprochen, nochmals darüber nachzudenken.»
«Ja. Hoffentlich bringt das etwas. Auf alle Fälle bedeutet es für uns, dass wir im Altersheim nochmals eine Fragerunde drehen müssen.»
«Du sagst es. Wir werden gezielt nach seinen Aussagen und seinem Verhalten fragen, wenn er jeweils über Boccia und Angeln sprach, und weiter, ob er dabei irgendwelche Namen nannte.»
Camenisch richtete sich in seinem Stuhl auf. «Rück die Liste der Angestellten im Altersheim heraus, Schäfli. Wir müssen planen, wen wir befragen. Sehr genau planen! Je länger wir daran arbeiten, desto kühler ist es, wenn wir den Bau verlassen müssen.»
Sobald die ärgste Mittagshitze vorüber war, machte sich Emanuele Santacaterina wieder im Garten zu schaffen. Die hintersten beiden Beete lagen bereits im Schatten des Nachbarhauses, dort konnte er bei erträglicher Temperatur dem Unkraut zu Leibe rücken und eine Reihe Setzlinge platzieren.
Von Weitem sah er Herrn Christoffel gemächlich näherkommen. Er ging am Stock und musste immer wieder stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Emanuele konnte seinen Brokkoli in aller Ruhe einpflanzen, bevor der alte Herr endlich seinen Gartenzaun erreicht hatte und erneut eine Pause einlegte. Gerne trat er näher zum gärtnernden Italiener und begann, sobald es seine Kondition zuliess, zu plaudern. Mazzottas Tod war nach wie vor das ergiebigste Thema.
«Ich mochte ihn nicht besonders», gestand Herr Christoffel. «Nicht, weil er Italiener war, unter diesen gab es viele nette Leute.» Der Alte schien in Gedanken so sehr in der Vergangenheit zu weilen, dass er nicht bemerkte, mit wem er sprach. «Aber Mazzotta war anders. Ehrgeizig. Er wollte schnell Geld machen, einen tollen Wagen fahren, schöne Frauen um sich haben. Ich hatte damals den Eindruck, dass ihm jedes Mittel recht wäre, um seine Ziele zu erreichen. Vielleicht war es ein Glück, dass er bei der Süsswaren AG einsteigen konnte, sonst wäre er womöglich kriminell geworden.»
«Er war kein angenehmer Kollege auf den Baustellen, das stimmt», bestätigte Emanuele. «Niemand war traurig, als er die Baufirma verliess und bei den Süsswaren anfing. Allerdings war er dort für die Errichtung der Fabrik zuständig, so dass trotzdem viele wieder mit ihm zu tun hatten. Als Bauherr war er nicht angenehmer als zuvor als Bauarbeiter.»
«Eigentlich ist das ein erstaunlicher Aufstieg, nicht wahr?», überlegte Herr Christoffel. «Vom Vorarbeiter zum Mitglied der Geschäftsleitung!»
«Er war nie Mitglied der Geschäftsleitung», berichtigte Emanuele. «Am Anfang war er nicht einmal Teilhaber, dazu fehlte ihm wohl das nötige Kapital. Er war zuerst Chef Bauten, als die Fabrik und die ersten Wohnblocks für die Angestellten errichtet wurden, und später Immobilienverantwortlicher der Süsswaren Thusis AG.»