Kitabı oku: «Berge im Kopf», sayfa 5
John Ruskin glaubte auch, dass sich die Berge bewegen. Dies war vielleicht sogar sein bedeutendster Beitrag dazu, welche Vorstellung von den Bergen wir haben. Bevor er Old Mountain Beauty veröffentlichte, hatte Ruskin Jahre damit verbracht, die niedrigeren Wege der Alpen abzuwandern. Er fertigte dabei Skizzen an, malte, beobachtete und meditierte. Er zog damals die Schlussfolgerung, dass die willkürlich erscheinende Gezacktheit der Berggrate eine Illusion sei. Wenn man die Berge mit der gebotenen Sorgfalt und Geduld betrachtete, dann konnte man erkennen, dass die Grundform ihres Aufbaus in der Tat die Krümmung war und nicht der Winkel, wie man bei oberflächlicher Beobachtung meinen konnte. Berge waren von Natur aus gekrümmt, und Gebirgsketten geformt und angeordnet wie Wellen. »Die stille Welle der Blauen Berge« waren Wellen aus Gestein, keine Wellen aus Wasser.
Mer de Glace mit den Grandes Jorasses, Blick nach Südsüdosten
Laut Ruskin neigten Bergketten wie hydraulische Wellen dazu, sich zu bewegen. Sie waren einst von kolossalen Kräften aufgerichtet worden und wurden noch immer von ihnen bewegt. Dass man sich die Bewegung der Berge nur vorstellen, sie aber nicht beobachten konnte, war, wie James Hutton festgestellt hatte, nur eine Folge der kurzen Lebensdauer des Menschen. Berge waren nicht statisch, sondern flüssig: Steine fielen herab, und Regenwasser floss über ihre Flanken hinab. Für Ruskin war diese ewige Bewegung der Berge der Anfang und das Ende jeder Naturlandschaft. Er schrieb:
Diese trostlosen und bedrohlichen Ketten schwarzer Berge, zu denen die Menschen in allen Zeitaltern der Welt hoch geschaut haben mit Abneigung oder Entsetzen und vor denen sie zurückschreckten, als wären sie verfolgt vom ewigen Bild des Todes, sind in Wirklichkeit viel größere und wohltätigere Quellen des Lebens und des Glücks als die strahlende Fruchtbarkeit der Ebene […].
Ruskins Intuition, dass sich Berge bewegten, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts unerwartet nachgewiesen, als sich der letzte signifikante Wandel der westlichen Vorstellungen von der Vergangenheit der Berge vollzog. Im Januar 1912 stand bei einem unter Geowissenschaftlern mittlerweile legendären Vorfall ein Deutscher namens Alfred Wegener (1880–1930) vor einem Auditorium bedeutender Geologen in Frankfurt auf und erzählte ihnen, dass sich die Kontinente bewegten. Er erklärte, dass insbesondere die Kontinente, die in erster Linie aus granitartigen Gesteinen bestehen, auf dem dichteren Basalt des Ozeanbodens schwimmen würden wie Ölflecken auf dem Wasser. Wegener informierte seine zunehmend ungläubigen Zuhörer darüber, dass 300 Millionen Jahre zuvor die gesamten Landmassen der Welt Teil eines einzigen Superkontinents gewesen wären, eines Urkontinents, den er Pangaea nannte, was »alles Land« bedeutet. Durch die Spaltkraft verschiedener geologischer Kräfte sei Pangaea in viele Teile auseinandergerissen worden. Diese Teile wären später auseinandergedriftet und über den Basalt in ihre gegenwärtigen Positionen gerutscht. Wegener argumentierte, dass die Gebirge der Welt nicht durch die Abkühlung und dadurch bedingte Faltenbildung der Erdkruste entstanden sind – eine Theorie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in Mode gekommen war –, sondern durch die Kollision zweier Kontinente, die sich ineinander schoben, was einen Buckel rund um die Knautschzone zur Folge hatte. So war der der tief liegende Ural, der das europäische Russland von Sibirien trennt, laut Wegener das Produkt einer früheren Kollision zwischen zwei beweglichen Kontinenten, die vor so langer Zeit geschah, dass die Folgen der Gebirgsbildung in der Knautschzone zum Großteil durch Erosion bereits wieder abgeflacht wurde.
Sehen Sie sich zum Beweis den Globus an, sagte Wegener. Schauen Sie sich die Verteilung der Kontinente an. Wenn Sie diese ein wenig bewegen, dann passen sie ineinander wie die Teile eines Puzzles. Schieben Sie Südamerika auf Afrika zu, dann schließt dessen östliche Küste perfekt an die Umrisse des westlichen Afrikas an. Und wenn Sie Zentralamerika um die Elfenbeinküste legen und Nordamerika an den oberen Teil Afrikas, dann haben Sie schon den halben Superkontinent. Er erklärte, dass dieser Trick auch bei Indiens westlicher Küstenregion funktioniert, die sich eng ans spitze Horn von Afrika schmiegt, genauso wie Madagaskar perfekt zurückrutscht ins einst abgerissene Stück an der Südostküste von Afrika.
Alfred Wegeners Rekonstruktionen der Erdkarte nach der Verschiebungstheorie für drei Zeiten
Wegener hatte noch besseres Beweismaterial, um seine Behauptung zu stützen. Er hatte jahrelang in den umfangreichen Fossilienarchiven der Universität Marburg gearbeitet und dabei festgestellt, dass genau an jenen Zonen in den Felsschichten identische Fossilienarten gefunden worden waren, von denen er annahm, dass sie einst zusammengehört hatten: Beispielsweise stimmten an der Westküste Afrikas und der Ostküste Brasiliens die Kohleablagerungen und die Fossilien überein. »Es ist so, wie wenn wir die zerrissenen Teile einer Zeitung zusammensetzen, indem wir ihre Ecken aneinanderfügen und dann prüfen, ob die Zeilenübergänge stimmen«, schrieb er. »Wenn sie das tun, dann bleibt nur der Schluss, dass die Teile tatsächlich so zusammengehörten.«
Wegener war nicht der Erste, der darauf hinwies, dass die Kontinente miteinander verbunden waren. Im 17. Jahrhundert hatte sich der Kartograf Ortelius schon Notizen über das Puzzlespiel der Kontinente gemacht und angenommen, dass sie einmal miteinander verbunden gewesen waren, durch heftige Überflutungen und Erdbeben, dann aber auseinandergebrochen wären. Man glaubte ihm nicht. Auch der unendlich scharfsinnige Francis Bacon erwähnte 1620 in seinem Novum Organum, dass die Kontinente zusammenpassen würden, »wie wenn sie aus der gleichen Form ausgeschnitten worden wären«, scheint aber nicht weiter darüber nachgedacht zu haben. Und 1858 schrieb ein Franko-Amerikaner namens Antonio Snider-Pellegrini eine ganze Abhandlung, Creation and its Mysteries Revealed, um aufzuzeigen wie die Kontinente einst zusammengefügt waren.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es jedoch kein Umfeld für einen so radikalen Wandel der geologischen Theorie, schlicht keine andere wissenschaftliche Erkenntnis, die zu dieser Theorie passte. Ein Grundpfeiler der Geologie des 19. Jahrhunderts waren nämlich die enormen Landbrücken, von denen man glaubte, dass sie einst die Kontinente der Welt miteinander verbunden haben, dann aber ins Meer gestürzt wären. Diese Landbrücken erklärten die Existenz derselben Spezies auf verschiedenen Landmassen, was viel plausibler erschien als Kontinente, die sich bewegten.
Daher argumentierte Wegener 1912 gegen den Kern der damals vorherrschenden Weisheit. Wenn seine Theorie stimmte, dann würde er damit viele der grundlegenden Annahmen der Geologie des 19. Jahrhunderts für nichtig erklären. Noch schlimmer war, dass Wegener ein fachfremder Eindringling war, der von seinem Hauptforschungsgebiet, der Meteorologie, in die Jagdgründe der Geologen gewechselt hatte. Wegener war ursprünglich ein Pionier der Wetterballon-Forschung und ein Grönlandspezialist, der mehrere erfolgreiche und eine fatale Forschungs-Expedition in die Arktis geleitet hatte. Wie konnte ein Wettermann annehmen, er könne mit einem einzigen Streich die komplexen und wunderbaren Gebäude der Geologie des 19. Jahrhunderts zum Einsturz bringen?
Wie bei Burnet viele Jahre zuvor formierte sich gegen Wegeners Theorie sofort eine wortgewaltige Opposition: »Was für ein verdammter Blödsinn«, formulierte der Präsident der Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft eloquent. Aber Wegener war ein stoischer Visionär und blieb unbewegt angesichts dieser frühen Feindseligkeiten. Im Jahre 1915 veröffentlichte er Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, eine sorgfältige Erklärung seiner Theorie und damit gewissermaßen eine ebenso apokalyptische Umdeutung der Vorstellungen der Erdgeschichte wie zuvor Burnets The Sacred Theory of the Earth oder Huttons The Theory of the Earth.
Zwischen 1915 und 1929 überarbeitete Wegener seine Entstehung der Kontinente und Ozeane dreimal, um neue Erkenntnisse der Geologie mit einzubeziehen. Vom geologischen Establishment wurde er nach wie vor ignoriert.
Im Jahre 1930 leitete er eine weitere Grönland-Expedition. Drei Tage nach seinem 50. Geburtstag gerieten er und sein Team in einen Schneesturm, in dem die Temperaturen bis auf minus 50 Grad Celsius fielen. Wegener wurde im Whiteout von seinen Kameraden getrennt und erfror einsam in der arktischen Wildnis. Seine Kollegen fanden seinen Körper als der Sturm nachließ. Sie bestatteten ihn in einem Mausoleum aus Eisblöcken, auf dessen Spitze sie ein sechs Meter hohes Eisenkreuz setzten. Innerhalb von einem Jahr war das Gebilde samt Inhalt im Inneren des Gletschers, auf dem es stand, verschwunden – eine Form von Begräbnis, die zweifellos Wegeners Zustimmung gefunden hätte.
Erst beim Aufkommen der sogenannten Neuen Geologie in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde erkannt, dass Wegener zumindest zur Hälfte recht gehabt hatte. Als die Fortschritte der Tauchkugel-Technik eine systematischere Untersuchung des Meeresbodens ermöglichten, wurde entdeckt, dass sich die Kontinente tatsächlich bewegt hatten und von einem riesigen Ur-Kontinent weggedriftet waren. Aber die Kontinente waren nicht, wie Wegener dachte, unabhängige Einheiten, die auf einem Basaltmeer drifteten wie Eisberge im Wasser. Es stellte sich nämlich heraus, dass sich die Oberfläche des Globus aus rund zwanzig Krustensegmenten oder Platten zusammensetzt. Die Kontinente waren nur jene Teile der Platten, die hoch genug waren, aus dem Meer herauszuragen.
Diese Platten bekamen von den Neuen Geologen ihre Namen. Es gab fortan die Afrikanische Platte, die Cocosplatte, die Nordamerikanische Platte, die Antarktische Platte, die Juan-de-Fuca-Platte, die Australische Platte, die Arabische Platte und die unzerbrechlich wirkenden China-Platten. Diese Platten bewegen sich miteinander, indem sie von Konvektionsströmen oder von Zellen im halbflüssigen Mantel der Erde angetrieben und von ihrem Eigengewicht geschoben werden. Wo ihre Kanten unter dem Meer aufeinandertreffen, bildet sich entweder ein mittelozeanischer Rücken oder eine Subduktionszone. Beim mittelozeanischen Rücken werden die Kanten der beiden Platten durch ständige Aktivität im Mantel auseinandergeschoben. Magma steigt in diesem neu gebildeten Graben auf, kühlt ab und bildet Meeresbodenbasalt. Die mittelozeanischen Rücken sind höher als der sie umgebende Meeresboden, vergleichbar in etwa mit der Naht auf einem Kricketball. Im Gegensatz dazu bildet sich eine Subduktionszone, wenn die Kanten zweier Platten aufeinandertreffen und die weniger elastische Platte unter die andere geschoben wird. Dort wird das Gestein der untergeschobenen Platte in den Erdmantel hineingedrückt, wo es schmilzt, in flüssiger Form blubbernd aufsteigt und extrem heiße Risse in der Kruste verursacht. Diese Subduktionszonen bilden die ozeanischen Gräben: den Aleutengraben, den Javagraben, den Marianengraben. Am Grunde dieser Gräben – der Marianengraben ist tiefer als der Mount Everest hoch ist – herrscht ein so gewaltiger atmosphärischer Druck, dass ein menschlicher Körper dort sofort auf die Größe einer Dose komprimiert werden würde.
Alfred Wegeners Grab, Grönland
Die meisten Gebirgsmassive der Welt entstanden durch Berührungen und Kollisionen der Kontinentalplatten. Die Alpen wurden beispielsweise dadurch hochgeschoben, dass die Adriatische Platte, auf der Italien sitzt, in die Eurasische Platte geschoben wurde. Die ältesten Berge sind jetzt diejenigen, die am niedrigsten sind, da die Erosion Zeit gehabt hat, sie zu verkleinern. Der stumpfe, abgerubbelte Rücken des Urals spricht beispielsweise für ein hohes Alter, genauso wie die runden Formen der Cairngorms in Schottland. Vielleicht ist es eine Überraschung, dass das Himalaja-Gebirge zu den jüngsten gehört. Es bildete sich erst vor 65 Millionen von Jahren, als die Indische Platte nordwärts zog und langsam an die Eurasische Platte stieß, sich darunter schob und sie dann 8800 Meter in die Höhe drückte. Ein Jüngling verglichen mit den altehrwürdigen Massiven ist der Himalaja mit scharfen, punktartigen Kämmen anstatt der kahlen und abgetragenen Glatzen der älteren Gebirge. Und wie ein Jüngling wächst er noch. Der Everest, der erst vor etwa 200 000 Jahren zum höchsten Berg der Welt wurde, schießt um etwa 5 frühreife Millimeter pro Jahr in die Höhe. In einer Million Jahren, was in geologischen Begriffen einem Lidschlag gleichkommt, könnte der Berg seine Höhe also fast verdoppelt haben. Das wird natürlich nicht geschehen, da die Schwerkraft ein solches Gebilde nicht tolerieren würde. Irgendetwas muss nachgeben: Entweder würde der Berg unter seinem Eigengewicht zusammenbrechen oder in einem der gewaltigen Erdbeben zerbersten, die alle paar Jahrhunderte im Himalaja wüten.
Viele Jahre bin ich nun schon in die Berge gegangen und habe mich über die Tiefe der Zeit gewundert. Als ich an einem sonnigen Tag einmal den glimmerreichen Ben Lawers in Schottland bestieg, fand ich auf halbem Weg ein flaches, viereckiges Stück Sedimentgestein, dessen Rückseite von Moos und Gras überwuchert war. Als ich zurücktrat und den Block von der Seite betrachtete, konnte ich sehen, dass er aus zahllosen dünnen Schichten aus grauem Fels bestand, von denen keine dicker war als ein Blatt. Ich berechnete, dass jede Schicht 10 000 Jahren entsprach. Hier waren also hundert Jahrhunderte in 3 Millimeter dickem Gestein komprimiert worden.
Zwischen zwei dieser grauen Schichten entdeckte ich eine zarte silberne. Ich hackte mit der Schaufel meines Wanderpickels in den Stein und versuchte die Schichten auseinander zu stemmen. Der Block brach auf, und es gelang mir, meine Finger unter die schwere Deckelschicht zu schieben. Ich hob sie an, und da glänzte zwischen zwei grauen Schichten eine etwa 1 Quadratmeter große Schicht silbernen Glimmers in der Sonne – wahrscheinlich das erste Sonnenlicht, das seit Millionen von Jahren darauf fiel. Es war wie das Öffnen einer Schatzkiste, die bis zum Rand mit Silber gefüllt ist oder wie das Öffnen eines Buches, in dem man einen Spiegel findet, oder wie das Öffnen einer Falltüre, um darunter einen Abgrund der Zeit zu entdecken, der so schwindelerregend tief ist, dass man Kopf voraus hätte hineinfallen können.
*Wie der britische Journalist und Autor Simon Winchester vor Kurzem feststellte, glauben laut einer Umfrage von 1991 noch immer rund 100 Millionen Amerikaner daran, dass Gott irgendwann in den letzten 10 000 Jahren den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Erde etwa 5 Milliarden Jahre alt ist und dass die ersten Menschen vor rund 2 Millionen Jahren in Erscheinung getreten sind.
**Die Geologie blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein eine treibende Kraft beim Bergsteigen – die ersten drei Everest-Expeditionen von 1921, 1922 und 1924 wurden zum Teil als wissenschaftliche Expeditionen finanziert und zielten darauf ab, geologische und botanische Studienergebnisse aus der Everest-Region zurückzubringen.
3
VOM STREBEN NACH ANGST
»Der Zauber der Alpen lockt noch immer, hinauf, weiter hinauf, bis die verhängnisvolle Liste der früh Beklagten und Vermissten länger wird.«
FRANCES RIDLEY HAVERGAL, 1884
Ich schaute aufwärts. Eine große steile Felswand ragte, von senkrechten Schneerinnen durchzogen, über mir in den aufklarenden Himmel. Das war unsere Route. Ich schaute über die Wand hinab. Ohne an Steilheit einzubüßen, endete sie 200 Meter tiefer auf einem kleinen Gletscher. Die konvexe Oberfläche des Gletschers sah hart aus, schimmerte silbern und wies viele kleine Dellen auf wie altes Metall. Und sie war übersät mit Steinen, die von diesem Berg hinabgefallen waren. Weiter unten wälzte sich der Gletscher über einen rund dreißig Meter hohen Abbruch. Dort war seine Oberfläche fahlgrau, und der oben sanft wirkende Eisstrom war hier zerrissen von Spalten und voll von Blöcken. Weit unten konnte ich das blau schimmernde Eis tief im Inneren des Gletschers sehen. Da würden wir enden, falls wir abstürzten.
Wir hatten die Hütte zu spät am Morgen verlassen. Als wir losgingen, war der Himmel jenseits der Berge im Osten bereits gefärbt. Das bedeutete, dass der Tag heiß und sonnig werden würde. Auch das wäre ein guter Grund für einen frühen Aufbruch gewesen, da die Wärme den eisigen Griff, mit dem die Kälte die Steine umklammert, lockern und bald auch für gähnende Spalten im Gletscher sorgen würde. Um Zeit zu gewinnen, rannten wir ohne Seil fast im Dauerlauf drei Kilometer über den steiler werdenden Gletscher aufwärts und vertrauten darauf, dass die Spaltenbrücken durch die anhaltende Kälte noch stabil waren. Ein letzter mühseliger Aufstieg über eine lange Schneerampe, den wir durch Serpentinen etwas angenehmer machten, brachte uns auf die Schulter unseres Berges und zum Einstieg unserer Route.
Das größte Problem war das Geröll, die kleinen Steine und Bruchstücke, die sich durch die Verwitterung in Felswänden ansammeln. Loses Geröll wird von Kletterern aus zweierlei Gründen verabscheut: Erstens, weil es weiter oben durch andere Kletterer ausgelöst werden und dann herabfallen kann, und zweitens, weil es jeden Schritt unsicher macht. Wenn man seinen Fuß auf Geröll setzt, dann rutscht er wie auf einem Kugellager auf dem unter dem Geröll liegenden Fels ab.
Etwa eine halbe Stunde lang kletterten wir zügig die Wand hinauf. Der Fels war brüchig, waagrecht zersplittert und von Rissen durchzogen. Wenn ich versuchte, mich an einem Block hochzuziehen, konnte ich ihn herausziehen wie eine Schublade. Einige der Felskanten waren noch mit einer feuchten Schneeschicht überzogen. Meine Hände wurden nass und zunehmend kälter. Unser Sicherungsmaterial, mit dem wir rundum behängt waren, klimperte und schlug gegen den Fels. Dieses Klimpern, unser Atem und das Knirschen von Fels auf Fels waren die einzigen Geräusche.
Plötzlich hörte ich einen Schrei. »Cailloux!« – »Achtung Stein!«, rief eine weibliche Stimme von oben. Die Worte schallten als Echo zu uns herab. Ich schaute nach oben, um zu sehen, woher sie kamen.
Die Zeit bleibt nicht stehen und vergeht auch nicht langsamer, wenn man in Gefahr ist. Alles geschieht genauso schnell wie sonst auch. Es ist nur so, dass wir solche Zeitspannen, falls wir sie überleben, im Nachhinein einer so intensiven Analyse unterziehen, dass wir sie besser und genauer im Gedächtnis haben. Wir sehen diese Situationen wie eingefroren. Bei diesem Moment kann ich mich noch an das dunkle Wasserrinnsal erinnern, das vor meinen Augen über die Felsrippe herabrann, an die winzigen Karos auf dem Stoff meiner wasserdichten Jacke und an eine kleine gelbe Alpenblume, die in einem Felsloch steckte. Und an das Geräusch von knirschendem Geröll unter meinen Schuhen, als ich mich bereit machte für den Aufschlag.
Zuerst waren es zwei Steine, die über die Wand zu uns herabsprangen und immer wieder von der Wand abprallten, wobei sie einmal mitten in der Luft aneinanderstießen. Und dann schien plötzlich die ganze Wand über uns in Bewegung zu sein durch herabfallende Steine, die mit einem Summen durch die Luft flogen und viel Lärm machten. Ein krachender Schlag war zu hören bei jedem Stein, der an der Felswand abprallte, ein Summen, wenn er durch die Luft flog, dann wieder ein Schlag. Die Pausen zwischen jedem einzelnen Aufprall wurden jedes Mal länger, je mehr der Stein an Schwung gewann und je weiter er hinabsprang.
Über uns blickten zwei französische Kletterer zwischen ihren Beinen herab. Sie sahen zu, wie der einzelne Stein, den sie von einem Felsband losgetreten hatten, mehrere andere Steine aus der Flanke mitriss, bis schließlich viele Steine der unterschiedlichsten Größe mit viel Getöse über die Wand hinabstürzten. Die beiden konnten nicht genau sehen, ob jemand unter ihnen war, weil ein Felsvorsprung ihnen den Blick über die ganze Wand versperrte. Es erschien ihnen auch unwahrscheinlich, dass jemand unter ihnen aufsteigen sollte. Sie waren schließlich die Ersten am Berg gewesen und weiter oben aber an einer schwierigen Seillänge gescheitert. Niemand war über den Gletscher zugestiegen zu jenem Punkt, zu dem sie aufgestiegen waren. Und keiner würde so dumm sein, noch später einzusteigen. Aber sie riefen dennoch, aus Anstand, so wie man »Fore!« auf einem leeren Golfplatz ruft.
Ich starrte weiter nach oben und schaute zu, wie die Steine herabfielen und auf mich zusprangen. Von einem Jungen, der in der Schule einige Klassen über mir war, hatte ich gelernt, dass man bei Steinschlag nicht nach oben schauen darf. »Warum? Weil ein Stein in deinem Gesicht weniger angenehm ist als auf deinem Helm«, hatte er uns dann erklärt. »Gesicht nach unten, immer nach unten schauen!« Er hatte uns einen ganzen Tag lang auf einer Rundwanderung durch Wales geführt, und als wir erschöpft zu unserem Minibus auf dem Parkplatz zurückkehrten, brach er noch im trüben Licht der Dämmerung mit einem Seil über der Schulter auf, um in den Hügeln so lange zu klettern, bis er nichts mehr sah. Ein Jahr später kamen er und ein Freund in den Alpen durch Steinschlag ums Leben.
Ich hörte, dass mir Toby, mein Kletterpartner an diesem Tag, etwas zurief. Ich schaute zu ihm hinüber. Er befand sich unter einem herausragenden Felsüberhang in Sicherheit. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Dann spürte ich einen Schlag, wurde nach hinten gerissen und gedreht, so als hätte mich jemand mit hartem Griff an der Schulter gepackt und mit dem Gesicht zu sich gedreht. Ich spürte keinen Schmerz, aber der Schlag hatte mich fast aus dem Stand gerissen. Der Stein, der den Deckel meines Rucksacks getroffen hatte, prallte ab und sprang hinab zu den blauen Spalten tief unter mir.
Jetzt fielen mehrere Felsbrocken an mir vorbei, vielleicht ein Dutzend. Ich schaute wieder hoch. Ein Stein kam direkt auf mich zu. Instinktiv lehnte ich mich an den Fels und machte einen Buckel, um meine Brust zu schützen. Aber was ist mit meinen Fingern, dachte ich. Wenn sie getroffen werden, dann werden sie platt gequetscht, und ich komme hier nie herunter. Dann hörte ich direkt vor mir ein Krachen, etwas zerrte an meiner Hose und Toby schrie: »Ist alles in Ordnung? Der ging mitten durch dich durch.«
Der Stein war direkt vor mir aufgeschlagen und war dann durch die Krümmung meines Körpers zwischen meinen Beinen hindurchgefallen. Er hatte mich zwar verfehlt, dabei aber an meiner Kleidung gezerrt.
Ich schaute wieder hoch und beobachtete wie der letzte und größte der Brocken auf mich zustürzte. Wieder befand ich mich direkt in der Falllinie. Etwa zwölf Meter über mir sprang er weit vom Fels ab und wirbelte durch die Luft. Während ich zusah, wie er fiel, wurde er immer größer und dunkler, bis er die Größe meines Kopfes angenommen hatte. Mit einem spitzen Knall schlug er nochmals an der Felswand über mir auf, prallte scharf nach links ab und wirbelte an mir vorbei.
Ich merkte, dass ich mich so stark am Fels festgekrallt hatte, dass meine Fingerspitzen weiß waren. Meine Gliedmaßen zitterten und schienen kaum in der Lage zu sein, mein Körpergewicht zu halten. Mein Herz hämmerte. Aber es war vorbei. Ich nahm mir wieder einmal fest vor, niemals mehr ins Hochgebirge zurückzukehren. »Lass uns abhauen von diesem Berg«, rief ich Toby zu.
Während wir vorsichtig über den Gletscher marschierten, entnervt den weichen Schnee nach Spalten absuchten und mein Körper noch immer durch das Adrenalin zitterte, hörten wir, wie das charakteristische »Wopp-wopp-wopp« eines Helikopters Rhythmus ins Tal brachte. Ich begann, laut das Hubschrauber-Lied aus dem Vietnamfilm Full Metal Jacket zu singen: »Surfin Bird« – die Trashmen-Version. Dann hörte ich auf. Reiß dich zusammen, sagte ich zu mir. Du bist nicht in Vietnam, du bist in den Alpen und nur ein Typ, der in die Berge ging, um Angst zu bekommen, was dir ja auch gelang. Der Hubschrauber ist nicht für dich bestimmt.
Das war er tatsächlich nicht. Er hämmerte sich über den Gletscher bis hinüber zur Spitze des Zinalrothorn, wo eben jemand anderes ums Leben gekommen war.
Als ich unten im Tal spätnachts nicht schlafen konnte, verließ ich das Zelt und ging über den Campingplatz, wobei ich vorsichtig über die Zeltschnüre stieg. Lampen leuchteten in einigen der anderen Zelte und vor der Schwärze der kalten Wiese sahen sie aus wie kleine orangefarbene Iglus. Der Himmel war klar und die schrägen Schneefelder an den oberen Berghängen blitzten im Mondlicht auf wie Lichtsignale von einem Spiegel.
Während ich ging, dachte ich über den Tag nach. Toby und ich hatten den Abend in einer Bar verbracht und einige Gläser Bier getrunken, um zu feiern, dass wir noch einmal davongekommen waren. Der Raum war verraucht, und andere Kletterer, die mit schweren Plastikschuhen scheppernd von ihrem Tisch zur Bar und zurück stapften, versuchten, mit ihren Geschichten die Musik zu übertönen. Wir hatten dort die Ereignisse des Morgens besprochen: Was wäre gewesen, wenn der letzte große Stein nicht seitlich weggesprungen wäre, sondern wenn er mich getroffen und aus der Wand gerissen hätte? Hättest du mich gehalten, hätte ich dich mitgerissen? Ein Kletterer mit mehr Erfahrung hätte sich wahrscheinlich gar nichts dabei gedacht, den Vorfall abgehakt und ad acta gelegt zu den anderen zahlreichen Fällen, bei denen er viel Glück gehabt hatte. Und hätte dann unbeeindruckt weitergemacht. Ich wusste, dass ich es nicht vergessen würde. Wir hatten auch darüber gesprochen, wie viel Vergnügen uns im Nachhinein die Angst bereitet hatte. Wie alle Bergsteiger hatten auch wir darüber geredet, wie seltsam es ist, sein Leben für einen Berg aufs Spiel zu setzen, dass aber das Risiko und die Angst für das Erlebnis von zentraler Bedeutung waren. In seinem Buch Voyages dans les Alpes schrieb Saussure kurz über die Gamsjäger in den Alpen, jene Männer, die einem bekanntermaßen gefährlichen Beruf nachgingen. Die Spalten der Gletscher, über die sie ihre Beute jagten, stellten eine Gefahr für die Jäger dar. Sie riskierten ihr Leben auch durch einen Sturz in den Steilhängen, in denen sich die Gämsen bevorzugt aufhielten, und schließlich durch die in den Alpen schnell aufziehenden Gewitter, denen sie ausgesetzt waren. »Und dennoch«, schrieb Saussure,
sind es gerade diese Gefahren, dieser Wechsel von Hoffnung und Furcht, die ständige Erregung, die von diesen Gefühlen im Herzen aufrechterhalten wird, die den Jäger genauso antreiben wie den Spieler, den Krieger, den Seemann, und bis zu einem gewissen Punkt auch den Naturwissenschaftler in den Alpen, dessen Leben in manchen Punkten dem eines Gamsjägers sehr ähnelt!
Als ich diese Passage las, verstand ich sofort, was Saussure damit gemeint hatte, obwohl Jahrhunderte zwischen uns lagen. Ein Risiko einzugehen, ist, wie er sagte, durch die anhaltende Erregung immer mit einer Belohnung verbunden, dem Gefühl des Lebendigseins. Hoffnung, Angst, Hoffnung, Angst – das ist der grundlegende Rhythmus des Bergsteigens. Oft hat man in den Bergen den Eindruck, dass man sein Leben umso intensiver lebt, je näher man dem Tode ist. Nie fühlt man sich lebendiger als dann, wenn man fast gestorben wäre.
Natürlich war der bezeichnende Unterschied zwischen Saussures Gamsjäger und mir, dass für den Jäger das Risiko nicht optional war – die Arbeit brachte es mit sich. Ich hingegen suchte das Risiko. Ich hofierte es. Und ich bezahlte sogar dafür. Das ist die große Kluft, die sich in der Geschichte des Risikos aufgetan hat. Risiken wurden schon immer eingegangen, aber sehr lange mit dem Hintergedanken an einen anderen Zweck: wissenschaftliche Erkenntnisse, Ruhm, finanzieller Gewinn. Vor etwa 250 Jahren wurde schließlich die Angst um ihrer selbst willen attraktiv. Man erkannte, dass das Risiko die Belohnung schon in sich birgt – das Hochgefühl und die Begeisterung, die wir inzwischen der Wirkung von Adrenalin zuschreiben. Und so wurde das Eingehen von Risiken und der damit verbundene Reiz der Angst zu etwas Begehrenswertem, zu einer Ware.
Wir schreiben den Sommer 1688, eine bedeutsame Zeit für Europa. In Rotterdam zieht Wilhelm von Oranien eine beeindruckende Flotte von Kriegsschiffen für eine Invasion Englands zusammen, um die als »Glorious Revolution« (dt. »Glorreiche Revolution«) bekannt gewordene Machtübernahme einzuleiten. Der englische Philosoph John Locke (1632–1704) ist in diesem Sommer ebenfalls in Holland. Er befindet sich im Exil und überlegt, was er mit seinem Traktat gegen die Tyrannei »Die Kunst, wohl zu regieren« machen soll. Die Venezianer bekämpfen die Ottomanen entlang der gesamten Adriaküste. Und in Norditalien sitzt ein junger Engländer namens John Dennis, der gerade die Alpen überquert hat und später als Dramatiker, Ästhet und Zielscheibe von Alexander Popes Scherzen berühmt werden sollte, in einem Gasthaus vor einem knackenden Kaminfeuer und schreibt einen Brief an seinen Freund in England, der noch nie in der Nähe eines Berges war.
Für jemanden, der seinen Lebensunterhalt und seine Bekanntheit dem Schreiben verdanken sollte, fällt es Dennis erstaunlich schwer, die richtigen Worte zu finden für das, was ihm widerfahren ist. »Es ist leicht, Ihnen Rom oder Neapel zu beschreiben«, schreibt er,
weil Sie selbst etwas gesehen haben, das wenigstens gewisse Ähnlichkeiten damit aufweist; aber es ist unmöglich, einen Berg vor ihre Augen zu setzen, der sich fast immer den Blicken entzieht und an dem das Auge schließlich überdrüssig wird, sich daran hochzuarbeiten.
Dennis schlägt sich mit dem allgegenwärtigen Problem eines Reiseschriftstellers herum: Wie beschreibt man etwas, wenn der Leser etwas Vergleichbares noch gar nie gesehen hat? Er konzentriert sich zunächst darauf, die Form eines Berges zu beschreiben, und fährt dann fort mit den zu seiner Zeit üblichen Klagen über ihre Feindseligkeit, indem er die Aufmerksamkeit des Freundes auf die »bedrohlichen Felsen«, die »furchtbare Tiefe der Abgründe« und die »tosenden Wildbäche« zieht. Aber als Dennis versucht, die Gefühle zu beschreiben, die er empfand, als er eine gefährlich schmale Stelle des Weges erreichte, geschieht etwas Seltsames mit seiner Sprache:
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.