Kitabı oku: «Papierrolle und Gedankenskateboard», sayfa 2
Die Zauberflöte
Unter dem Berge mit all seinen prächtigen Laub- und Nadelbäumen gebe es ein Tor zu den Sternen, pflegte der komische, alte Kauz aus dem Haus am anderen Ende der Straße stets zu sagen. Alle anderen in der Gegend behaupteten, er sei ein wenig verrückt, aber ich fand das eigentlich nicht. Ich mochte Onkel Carl, wie ihn unser Dorf nannte, wahrlich gerne und verbrachte viel Zeit bei ihm. Meine Eltern hatten nichts gegen diese Beziehung einzuwenden und pflegten darüber zu sagen, dass Onkel Carl ein einsamer Mann sei, der kaum einen Menschen in seinem näheren Umfeld habe. Mit meinen Besuchen und durch mein offenes Ohr täte ich also jede Menge Gutes, was mir der Liebe Gott sicherlich eines fernen Tages anrechne.
Lange, lange lag das jetzt zurück.
Vor zwei Jahren war Onkel Carl im hohen Alter von einundneunzig Jahren gestorben, was meine Mutter mir per Telefon erzählt hatte, weil sie immer noch in jenem Dorfe in den waldigen Bergen des Mittelgebirges lebte.
Mit einem Anruf begann auch jene gar unglaubliche Geschichte, die ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hier erzähle.
„Mein lieber Junge!“, begann sie das Gespräch. „Heute hat ein Herr Justus Förster bei mir an der Tür geläutet. Er ist der einzig lebende Verwandte von Onkel Carl, ein Neffe, und hat sich um den Nachlass gekümmert. Ich frage mich dabei, warum der Kerl über ein Jahr gebraucht hat, um die paar Sachen von Onkel Carl zu sichten, aber egal. Jedenfalls hat er dir was hinterlassen. Justus Förster ist beim Sichten der Gegenstände auf ein Paket gestoßen, worauf ein Zettel geklebt war, auf dem stand, dass du diese Kiste erhalten sollst. Herr Förster sagte mir, er habe sie nicht aufgemacht und wisse nicht, was sie enthielte. Tja, wer es glaubt. Der Kerl ist irgendwie künstlich und aufgesetzt. Er hat bestimmt geschaut und sich dann gesagt, dass er den Inhalt nicht zu Geld machen könne. Wie dem auch sei. Ich habe jedenfalls nicht reingeschaut. Soll ich das jetzt tun, bevor ich dir das Paket zusende?“
Nachdem sie meine Freigabe erhalten hatte, hörte ich eine Klinge über Paketklebeband ratschen und im Anschluss das Rascheln von Papier.
„Herrje!“, rief meine Mutter schließlich aus. „Da liegt eine Querflöte drinnen. Onkel Carl dachte wohl, dass du Ian Anderson von Jethro Tull bist, dabei ist mein Sohn eines der unmusikalischsten Geschöpfe unter der Sonne. Aber schick sieht sie immerhin aus. Die kannst du sicherlich gut in deine Vitrine in der Diele packen. Eine schöne Erinnerung an Onkel Carl ist sie dennoch. Dann liegt noch ein Brief bei. Den mache ich jetzt aber nicht auf.“
Die Sache mit dem Unmusikalischen meinte sie nicht böse, denn es war endlich ein Faktum. Wir vereinbarten, weil unsere Wohnorte gute zweihundertfünfzig Kilometer auseinanderlagen, dass Mutti bei ihrem nächsten Spaziergang in den Ort das Paket auf der nahen Post aufgebe.
Da sie diesen Weg nicht zu sofort machte, dauerte es eine Woche, bis die Sendung von einem grimmigen DHL-Muffel bei mir vor der Tür abgestellt wurde.
Im Wohnzimmer öffnete ich das Paket und zwischen zahlreichen Zeitungartikeln aus den 1980er-Jahren, die zerknüllt als eine Art Polster dienten, lag tatsächlich eine silbern blitzende Querflöte.
Einen Moment fragte ich mich, warum Onkel Carl mir das hübsche Instrument vermacht habe und ob er mir dieses bereits in den 80er-Jahren beiseite gepackt hatte, als mir der Brief einfiel, der von meiner Mutter in dem Telefonat erwähnt worden war. Ich fand ihn unter all dem Papier und erkannte nach dem Öffnen sofort die messerscharfe Handschrift des alten Freundes.
Mein Bester!
Du hast nie an meinen Worten gezweifelt, mich nie als einen alten Spinner abgetan, wie es die anderen stets getan haben. Daher sollst du meinen wertvollsten Besitz nach meinem Ableben erhalten.
Es würde zu weit führen, hier den endgültigen Zweck dieses zauberhaften Instrumentes zu erörtern. Außerdem kennst du ja meine ausschweifende Art in vielerlei Dingen.
Mit wertvollstem Besitz meine ich hier nicht das verwendete Material oder die Kunst der Fertigung bei diesem Instrument. Der wahre Wert, der wahre Zweck findet sich erst, wenn man eine bestimmte Melodie auf genau dieser Flöte spielt. Die Noten zu dieser Melodie findest du auf der Rückseite dieses Schreibens.
Ich hoffe, dass Dich meine Zeilen bei bester Gesundheit erreichen und dass es Dir, was immer aus Dir geworden sein mag, gutgeht.
Liebe Grüße
Dein Onkel Carl
Ich nahm das Musikinstrument in die Hände, fühlte dessen beeindruckende Schwere, betrachtete es eine Weile im Sonnenlicht, welches durch die Fenster fiel und mein Erbe silbern funkeln ließ.
Natürlich erwartete ich nicht, dass beim Spielen etwas Weltbewegendes passierte, aber mir erschien es angebracht, die paar Noten auf der Rückseite hörbare Musik werden zu lassen, weil dieses auf eine bestimmte Art und Weise wohl Onkel Carls letzter Wille zu sein schein.
Eine gute Freundin von mir hatte an der weltberühmten Musikhochschule zu Detmold studiert und war nun Mitglied des Symphonieorchesters der Großstadt, in welcher wir lebten. Dort spielte sie Violine, aber meines Wissens nach beherrschte Katharina mindestens zwölf weitere Instrumente.
Ja, bestätigte die strohblonde Geigerin mir auf Nachfrage per WhatsApp, Querflöte könne sie problemlos spielen und stelle sich gerne bereit, den letzten Wunsch meines alten Freundes Wirklichkeit werden zu lassen. Sie wolle dafür keine Gegenleistung haben, aber meine Einladung zum Abendessen nehme sie dennoch gerne an. Es gäbe ihrerseits jede Menge Neues zu berichten, und wenn mir der Kopf danach stünde, würde sie im Anschluss an das Abendessen selbstverständlich noch den einen oder anderen anständigen Cocktail bezahlen.
So trafen wir uns an einem Samstagabend bei mir daheim, um die Musik aufleben zu lassen und danach mit der U-Bahn in die Innenstadt zu fahren.
„Das sind ganz schön komplizierte Notenkombinationen. Ich habe so etwas zuvor noch niemals gesehen. ` sieht mir fast wie etwas Fernöstliches aus. Aber, ich werde es hinkriegen!“, sagte Katharina, nachdem sich ihr erster Blick von der Tabulatur abgewendet hatte.
Und Katharina bekam es nach einer kurzen Vertiefung in die Noten tatsächlich mit einer prächtigen, akustischen Leistung hin. Wundervolle, exotische Klänge erfüllten mein Wohnzimmer; geheimnisvoll, verschnörkelt, zauberhaft. Die Komposition begann zärtlich sanft, steigerte sich dann und endete endlich in einem dynamischen Finale.
Als die letzten Klänge dieser Darbietung noch im Raume schwebten, geschah das Unglaubliche.
Ein kleiner, roter Punkt, der mich an ein überdimensioniertes Glühwürmchen erinnerte, tauchte aus dem Nirgendwo oder einer anderen Dimension heraus auf. Sein Licht besaß gleißende Helligkeit und zu sofort überstrahlte es die Standardbeleuchtung des Wohnzimmers. Es wuchs heran, wurde zu einer Kugel mit der Größe eines Fußballs, um endlich seine Form zu ändern und bogenförmig zu werden. Aus diesem bogenförmigen Lichtgebilde manifestierte sich schließlich ein Bogen mit silbernem Rahmen, der fast bis an die Zimmerdecke heranreichte und in dessen Zwischenraum es violett funkelte und leuchtete.
Synchron standen Katharina und mir die Münder offen und kein Wort kam über unsere Lippen, wobei wir unfähig waren, uns zu bewegen. Doch schließlich schaffte ich es, an dieses obskure Objekt heranzutreten, welches seichte, rauschende Geräusche von sich gab, als lausche man einer kräftigen Brandung in der Distanz. Ich erkannte, dass das violette Scheinen eine Art Schleier darstellte, welcher leicht vibrierte, nachdem meine Hand ihn durchdrungen hatte.
„Das ist ein Schleier oder Vorhang, aber richtig fest ist er nicht. Es kribbelt leicht, wann man seine Hand durchsteckt. Ein bissle ist es so, als wenn einem der Fuß einschläft. Und, du siehst es ja selber, obwohl dieses Objekt nur dreißig Zentimeter tief ist, verschwindet mein Arm gänzlich in ihm und kommt nicht auf der anderen Seite wieder heraus. Das scheint ein Tor in eine gänzlich andere Welt zu sein. Ich möchte wissen, was dahinterliegt.“, kam es mir endlich über die Lippen und meine Stimme klang merkwürdig fremd in meinen Ohren.
Faszination und Neugier hielten ihre starken Arme entschlossen um mich.
„Du wirst doch nicht etwa durch diesen Schleier gehen und in dieses Ding da rein!“, rief Katharina mit entsetzter Stimme aus. „Wer weiß, was dahinterliegt. Es könnte dich umbringen durch Strahlung oder so!“
Da hatte sie selbstverständlich recht, aber es kam mir vor, als zöge eine unsichtbare Kraft im Kopfe nun die Fäden. Ich musste diese Schwelle einfach passieren!
„Geh nicht weiter! Bleib stehen!“, hörte ich sie noch und trat durch den Schleier und das schmale Tor.
Es kribbelte einmal kurz am ganzen Körper und dann war ich hindurch und schwebte in endloser Weite, wo es weder ein Unten noch ein Oben gab, keinen Grund und keinen Himmel, keine Farbe in dem Äther, in dem ich mich nun befand. Es herrschten wohlige Temperaturen. Ich wendete meinen Blick, doch das durch Flöte und Musik geöffnete Tor war verschwunden. Statt des Gedankens, dass nun vielleicht die Tür in die vertraute Welt auf ewig zugefallen sein könnte und über diese Vorstellung Angst zu empfinden, keimte grenzenlose Hoffnung allmählich in mir auf. Wie ein Vogel in der Luft, dem hohen Gefühl der Freiheit in mir, flog ich vor und zurück und zurück und vor. Dann öffneten sich die Trichter. Überall um mich herum tauchten sie buchstäblich aus dem großen Nichts auf. In ihren Öffnungen erstrahlten die intensivsten Regenbogenfarben und sie füllten die gesamte Unendlichkeit aus.
Kurz nach deren Auftun fuhr das Wissen des gesamten Kosmos in mich hinein, was ein wahrhaft atemberaubendes Gefühl darstellte. Nun wusste ich, dass jede Welt, jede nur denkbare Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihr eigenes Universum stets aufs Neue erschuf. Wahrscheinlich versagte bei der Gesamtzahl dieser Universen nicht nur die menschliche Vorstellungskraft, sondern scheiterte ein jeder Computer gleich von welcher Leistungskraft.
Zufällig flog ich auf einen dieser Trichter zu und als mein Flug eine gewisse Grenze zu diesem Objekt hin passiert hatte, zog eine leichte, doch bestimmende Kraft mich mit sich und in die bunte, flackernde Öffnung hinein. Ein knisterndes Geräusch drang an meine Ohren und ich musste an den Stromabnehmer einer Lokomotive denken, der bei strömendem Regen an eine triefendnasse Oberleitung kam. Alle nur erdenklichen Farben erschienen nun vor mir. Sie bildeten eine gleißende Röhre um mich herum, verschmolzen zu einer bunten Wand, die Struktur und Textur stetig änderte. Der Fallwind wehte durch meine etwas zu langen Haare, jedenfalls wenn es auf einen normalen Mann von Mitte vierzig bezog.
Dann stand ich von jetzt auf gleich am Ufer eines smaragdgrünen Ozeans im violetten Sand und sah, wie sich dessen magisches Wasser am Strande brach in silbern funkelndem Schaum. Den größten Teil des Himmels nahm ein tiefblauer Gasplanet ein, den ein prächtiges Ringsystem umgab, welches nicht minder silbern als die Brandung erstrahlte.
Hinter mir erhoben sich gewaltigen Dünen und die Luft besaß eine kaum beschreibbare Klarheit. Im Planetenlicht sahen die hier wachsenden Pflanzen orange und pink aus. Dahinter, jenseits der Düne, lag meine neue Heimat, das stand zweifelsohne fest. Das Schicksal hatte es immer schon so vorgesehen und so täte es nun auch kommen. Mir war weder bange noch einsam, hier lag die Wurzel meines Glückes, wobei ich noch nicht wusste, wie genau es ausschauen würde. Jedoch drängte die dahingehende Zeit auch nicht. Hier gab es keine Eile, keine Sorgen, keine Not, kein Leid.
Ich dankte Onkel Carl für all das, was geschehen war und noch geschehen sollte.
Bevor ich jedoch den Weg über die Dünen und in meine neue Welt hineintat, setzte ich mich in den warmen Sand am Ufer des smaragdgrünen Ozeans, um euch von dieser Geschichte zu berichten.
Die Formeln meines Freundes
Obgleich ich in Mathematik zu Schulzeiten immer eine ausgesprochene Null gewesen war, verband mich mit Hochschulprofessor Heinz Heumann, Inhaber des Lehrstuhls für Komplexe Analysis an der hiesigen Universität, eine innige Freundschaft. Wir hatten uns kennenglernt, weil er täglich seine Zeitungen und einmal in der Woche seinen geliebten, halbschwarzen Tabak in jenem Kiosk holte, welchen ich betrieb, seit ich mein Studium der Philosophie und Alten Sprachen in den Sand gesetzt hatte.
Philosophie sei eng mit der Mathematik verbunden, pflegte er beim Kaffee am Stehtisch vor der Lotto-Totto-Kasse stets zu sagen und dann verloren wir uns wieder in endlosen Diskussionen über diese Welt und was darüber hinausgehen mochte. Heumann gab sich nie mit Vermutungen und einfachen Aussagen zufrieden. Er wollte für alles stets den unwiderlegbaren Beweis, was, so vermutete ich jedenfalls, typisch für einen Mathematiker einer solchen Klasse war.
Sein plötzlicher Tod traf mich gleich des Faustschlages eines Schwergewichtmeisters. Seine erwachsene Tochter, eine promovierte Astronomin, die mit vage bekannt war, kam in den Kiosk und überbrachte mir unter Tränen die traurige Nachricht. Ihr Vater habe sich im Keller seines Hauses erhangen.
Es kam gänzlich ohne Vorwarnung und warf einen Berg an Rätseln auf, nachdem sich der Schock und die erste Welle der Trauer verzogen hatten.
Warum hat er sich mit zweiundsechzig Jahren umgebracht? Er stand fest im Leben und es gab wirklich nichts, um das er sich großartige zu sorgen brauchte. Die Scheidung von seiner Frau vor zehn Jahren hatte er längst kompensiert und gesundheitlich ging es ihm prima!
Irgendwann, nach unzähligen Stunden des Grübelns und des Strebens nach einer Lösung, sagte ich mir, dass er vielleicht doch eine Depression gehabt haben könnte, welche er vor der Welt versteckt habe. Man konnte Menschen eben nur vor den Kopf und nicht hineinschauen.
Die Beerdigung ging dreißig Minuten. Es war eine schreckliche halbe Stunde, das kann ich Ihnen sagen, liebe Leserinnen und Leser.
Zeit verstrich und eines Tages ging ich dann tatsächlich zu einer dieser Vorsorgeuntersuchungen, zu denen Männer von über vierzig sich eben ein- und damit abfinden müssen. Auf dem Weg in die Praxis fühlte ich mich seltsam, kam es mir denn so vor, als sei ich erst vorgestern zwanzig geworden.
Zwei Tage später saß ich dann auch meiner Ärztin gegenüber, die in den Monitor ihres MACs schaute, um die Ergebnisse des Check Ups vorzutragen.
Im Großen und Ganzen stünde es um meine Gesundheit nicht schlecht, allerdings seien Leber- und Cholesterinwerte leicht erhöht. Zudem trüge ich zehn Kilogramm Übergewicht mit mir herum. Ich solle doch die zwei halben Liter abendliches Hefeweizen weglassen, weniger Fleisch und Junk-Food essen und mich ausgewogener ernähren. Ein wenig Sport, zum Beispiel im Fitnessstudio, könne ebenfalls nicht schaden. In vier Wochen werde man mir erneut Blut abholen und dann sehen, in welche Richtung es gehe.
Ich bin kein besonders stringenter Mensch, sonst hätte ich mein Studium problemlos beendet, aber wenn ich etwas tat, dann machte ich es zumindest temporär richtig. Ich trank nur noch Wasser und ungesüßten Tee, ließ Fleisch und Süßwaren komplett weg und ernährte mich hauptsächlich von Obst, Gemüse und Brühe. Die Kohlenhydrate wurden ausschließlich über Basmatireis zu sich genommen und Softdrinks stellten ein absolutes Tabu dar.
Ich kann es Ihnen sagen, liebe Leserinnen und Leser, die ersten drei Tage waren eine halbe Hölle, da Körper und Geist einen wahren Zuckerentzug durchlitten. Das Verlangen nach einer Cola oder Fanta wütete gnadenlos in mir, Gereiztheit beseelte mein Gemüt und es kostete Mühen, diese vor den Kundinnen und Kunden zu verbergen. Meine Frau riet mir, doch bitte zur Pepsi zu greifen, damit diese schlechte Stimmung ein Ende fände. Des nachts wachte ich häufig schweißgebadet auf und musste die Kleidung wechseln, wahrscheinlich weil mein Körper all den Dreck ausdünstete, der über viele Jahre freiwillig in ihn hineingelangt war.
Doch nach drei unglaublich harten Tagen wurde es besser, ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus und je mehr Zeit verstrich, je mehr steigerte sich dieses gute Gefühl. Nach einer Woche stand ich mit einem dauerhaften Strahlen in meinem Kiosk, sang beim Kochen und unter der Dusche, tobte mit den beiden Kindern durch die Wohnung, so dass die liebe Nachbarin Frau Kuhlmann von unterhalb, die sich eigentlich nie beschwerte, an der Türe läutete und freundlich darlegte, ob wir nicht ein wenig leiser seien könnten, da sie ihre Serien auf Netflix kaum verstünde. Körperlich war ich problemlos in der Lage, Bäume auszureißen und tatsächlich griff ich wieder auf die Mitgliedschaft im Fitnessstudio zurück, die über Jahre sträflich vernachlässigt worden war. Nun standen zweimal in der Woche Eisen pumpen, Rudermaschine und Laufband auf dem Programm. Niemals zuvor in meinem Leben war der Schlaf derartig fest und erholsam gewesen und Schlaf soll nun auch den Übergang einleiten zur merkwürdigsten und zugleich unheilvollsten Geschichte meines Lebens.
Es trug sich an einem Montagabend zu. Müde von einem langen Tag schlief ich bereits auf dem Sofa ein, während meine Frau weiterhin das Programm eines Streamingdienstes aufmerksam verfolgte.
Zunächst befand ich mich in der seltsamen Welt zwischen Wachzustand, Halbschlaf und Schlaf.
Aus einem alten Röhrenradio, wie es meine Großeltern in den 1950er-Jahren zu nutzen pflegten, kommen die Dialoge aus der Serie, welche meine Frau in diesem Moment betrachtet. Das prächtige Gerät befindet sich in dem stets chaotischen Arbeitszimmer meines verstorbenen, guten Freundes Professor Heumann. Durch das Dachfenster fluten Sonnenstrahlen. Ich sitze an dem Schreibtisch, auf dessen Platte sich die unvermeidlichen Bücher und Zettel voller hochkomplexer, mathematischer Notizen verteilen. Meine Hände kritzeln mit einem blauen Bleistift etwas auf einen weißen Dina4-Bogen. Dann, in dem Moment, als im Röhrenradio die Stimmen der Serienschauspieler verstummen und durch seichte Jazz-Musik abgelöst werden, kommt die Erkenntnis, dass ich nicht ich bin, sondern im Körper des Professors stecke. Die Formeln, die ich auf das Papier zaubere, sind mir derartig vertraut, verständlich bis ins kleinste Detail. Natürlich; habe ich denn auch mein ganzes Leben der Mathematik und ihrer Erforschung gewidmet. An einem Punkt stockt meine Arbeit, die Konzentration muss gesteigert werden, um endlich mit der Behebung des Problems fortzufahren. Nachdem ich ein dickes Ausrufezeichen hinter das Ergebnis all der Berechnungen und Formeln gesetzt und damit eine jahrelange, intensive Arbeit beendet habe, geschieht es.
Die Außenwand löst sich langsam aus, wird erst milchig, dann transparent, endlich durchsichtig. Doch dahinter tut sich nicht die Straße in dem beschaulichen Vorort auf, in dem mein Haus liegt, sondern ein violett-schwarzer Strudel aus magnetischen Feldern und Wellen, der ein dumpf brummendes Geräusch von sich gibt. Von diesem Objekt geht eine sanfte Sogwirkung aus, die leicht an meiner Jeans und dem karierten Hemd zupft. Ich stehe auf, trete an die Krümmung der Raumzeit heran und in diese hinein. Es ist, als befände man sich in den Strudeln eines Spaß- und Erlebnisbades. Sie ziehen einen Menschen zwar bestimmend mit sich, ohne dass dieser sich dabei jedoch bedroht oder ausgeliefert fühlt.
Während der kurzen Passage über Abermillionen Lichtjahre hinweg sieht es aus, als schwebe man durch violett gefärbten Nebel. Er ist dicht, er ist um einen herum, er nimmt einem die Weitsicht, aber wahrlich anfassen, kann man ihn nicht. Ein Gefühl der Losgelöstheit erfasst mich, welches jedoch mit wachsender Anspannung einhergeht.
Dann stehe ich plötzlich in einer vegetationslosen Welt im roten Licht und das losgelöste Gefühl weicht sofort einer Form der Beklemmung. Um mich herum erheben sich schwarze, geometrische Figuren aller Art; Kegel, Zylinder, Pyramiden, Kugeln, Würfel, Quader. Zunächst erscheint es mir, als seien diese Objekte aus Gestein herausgehauen, doch beim Berühren eines Quaders muss ich an die dicke Haut eines Wales denken. Mein Blick fährt hinauf zum Himmel. Schmutzig grüne Wolkenfetzen treiben in einem rötlichen Firmament, scheinen unheilvolle Gestalten dort droben nachzuzeichnen; Mischwesen von erstaunlicher Grässlichkeit.
Die Angst an diesem Ort hämmert unablässig in mir fort. Dennoch bahne ich mir den Weg bei schwülwarmen Temperaturen durch dieses Labyrinth an finsteren, geometrischen Figuren und werde dabei angetrieben von einer seltsamen Form der Neugier und des unstillbaren Wissensdurstes, die in Kombination das Gefühl der Furcht zügeln. Einige der perfekt ausgeformten Objekte reichen mir lediglich bis zu den Knöcheln, wohingegen andere wiederum die Größe von Mehrfamilienhäusern besitzen.
Schließlich stoppe ich meine Schritte am Rande einer kraterhaften Ausbuchtung im Boden, über den zu laufen es sich anfühlt, als gehe man über eine dieser Matten, die beim Hochsprung zur Anwendung kommen. Mit vielleicht 45 Grad Gefälle geht der Hang etwa zwanzig Meter in die Tiefe hinab. Dort unten kräuseln sich schwefelgelbe Wolken, so dass ein Betrachten des Bodens von dieser Position aus unmöglich ist. Ein widerwärtiger Geruch kräuselt sich in meine Nase, der sich äußerst schwer beschreiben lässt. Stellt euch ungefähr eine Mischung aus süßlich riechenden Exkrementen, dem Gestank von Fleischabfällen eines Schlachthofes und den Ausdünstungen eines Kanalrohres vor.
Schlagartig wird mir nun klar, dass dieses der Geruch konzentrierter Angst ist, der von dort unten hinaufzieht. Am Grunde hinter dem schwefelgelben Schleier befindet sich die konzentrierte Furcht aller Welten des Universums und des darüber Hinausgehenden, die Summe aller nur erdenklichen Ängste und grausiger Taten und Gedanken.
Die Angst lodert in meinen Eingeweiden, brennt auf allerhöchster Flamme, um sich zeitgleich wie der Draht eines Würges um den Hals zu legen. Etwas in mir begehrt laut auf, kehrtzumachen, die Formel zu benutzen, welche mich wieder in mein behagliches Arbeitszimmer bringt, aber zu sehr wütet der Trieb nach Lösungen in mir. Ich muss die Gleichung auflösen über das Naturell der konzentrierten Abgründigkeit und Angst. Ich muss einen Blick auf das erhaschen, was sich dort unten hinter dem Schleier verbirgt. Ich brauch den Beweis, dass es das ist, für was es meine jahrelangen Berechnungen gehalten haben. Als wenn sich Einstein die Gelegenheit geboten hätte, über den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu schauen. Meine Furcht wird mich schon nicht umbringen, denn nur handelt es sich bei ihr um ein Gefühl.
Langsam und vorsichtig mache ich mich auf den Weg den Abhang hinab, taste mich Schritt um Schritt abwärts auf diesem merkwürdigen Untergrund, wobei mein Herz infernalisch laut hämmert und das Feuer in den Eingeweiden höher und höher lodert.
Allmählich kann ich sehen durch den Schleier und auf den Grund. Hinter der gelben Wand zeichnet sich eine achteckige Form ab, eine Art Teich, der mit einer schwarzen, viskosen Flüssigkeit gefüllt zu sein scheint, von der wiederum diese gelben Nebelwolken emporsteigen. Unter der Oberfläche dieser Flüssigkeit oder Masse liegt des Rätsels Lösung…
„Schatz! Wach auf!“
Vibrationen werden auf dem Weg gespürt.
Unter der Oberfläche dieser Flüssigkeit oder Masse liegt des Rätsels Lösung…
„Schatz, Herrgott, wach auf!“
Unter der Oberfläche dieser Flüssigkeit oder Masse liegt des Rätsels Lösung…
Die Vibrationen werden stärker, erfassen meinen gesamten Torso.
„Schatz! Was ist los? Komm zu dir!“
Meine Frau rüttelte an mir. Zunächst war ihr Gesicht lediglich ein verschwommenes Gebilde vor einem noch wesentlich unschärferen Hintergrund. Der graue Trainingsanzug, in dem ich eingeschlafen war, klebte förmlich an meinem Körper. Die Welt gewann ihre Konturen zurück; unser gemütliches Wohnzimmer im sanften Licht einer Stehlampe, der wohl sicherste Ort auf dieser Welt. Sorge lag auf dem Gesicht meiner Frau. Über den Smart-TV flimmerten die Bilder einer Serie, die in den 50er-Jahren in einer amerikanischen Kleinstadt spielte. Auf dem Sessel neben dem Sofa hockte die Chihuahua-Dame Kiki und beobachtete aufmerksam das Geschehen.
Erst jetzt wurde mir wahrhaft bewusst, dass es vorbei war und der Alptraum sich ausgeträumt hatte.
Langsam setzte ich mich auf. Meine Frau hielt ihre flache Hand auf meiner Schulter, drückte sie gelegentlich sanft dabei. Auf ihrem niedlichen Gesicht lag pure Gutmütigkeit, welche auch aus ihren braunen Augen strahlte.
Ja, es war in der Tat vorbei.
„Meine Güte, Schatz! Du hast im Schlafe um dich getreten und geschlagen. Du hast geschrien und wärest fast vom Sofa gefallen dabei. Ich musste dich einfach wecken!“, sprach sie sanft.
„Wie…wie…wie lang habe ich geschlafen?“, fiel mir das Sprechen zunächst schwer.
„Nicht lange. Allerhöchstens eine halbe Stunde. Die Serie ist noch nicht mal aus. Was hast du bloß geträumt?“
Ich berichtete ihr von diesem so seltsamen wie grauenhaften Traum und sie entgegnete, dass Träume Schäume seien und dieser sein Ende gefunden habe.
Nun ging es mir entschieden besser.
Für mich selbst durchlebte ich den Traum nochmals, arbeitete ihn auf, als ich auf meinem Roller in Richtung Fitnessstudio fuhr. Wenn ich Moped fuhr, fiel mir das Denken zumeist leichter. Im Rahmen der Aufarbeitung berichtete ich Markus, einem alten Freund, der heute weit entfernt lebte, in Form eines imaginären Telefonates meine ganz eigene Interpretation.
„Also Kollege, ich stelle mir das Ganze so vor: Durch die Diät ist nicht nur mein Körper, sondern auch mein Geist entgiftet worden und ich konnte deshalb auf die Erinnerungen meines verstorbenen Freundes, des Professors zugreifen. Ich habe sie gar aus seiner eigenen Sicht durchlebt. Man, das war, als wäre ich tatsächlich an diesem Ort gewesen, nur eben nicht als ich selbst, sondern als der Professor! Es mag total bescheuert klingen, aber wahrscheinlich sind Erinnerungen auch nach dem Tode einer Person nicht verloren, da sie an irgendeinem Ort, der jenseits unserer Vorstellungskraft liegt, gespeichert werden. Auf dieses Speichermedium konnte ich also im Traum zugreifen. Ich denke, dass es dem Professor tatsächlich gelungen ist, durch irgendwelche Rechenoperationen und mathematische Formeln das Tor zu einer, nennen wir es hier einfach Parallelwelt, aufzustoßen. In dieser Parallelwelt haben sich all das Schlechte und all die Ängste aller Welten, auf denen es intelligentes Leben gibt, an einem Ort manifestiert in Form eines seltsamen Gebildes oder eines Lebewesens, dessen Herz eine achteckige Pfütze mit einer dicken, schwarzen Flüssigkeit ist, die hinter einem gelblichen Dunstschleier verborgen liegt. Aus irgendwelchen Gründen hat mein alter Freund wohl bewusst nach diesem Platz oder diesem Lebewesen, oder was immer die Welt der geometrischen Figuren auch sein soll, gesucht. Vielleicht wollte er einfach nur die Ursache dafür finden, warum die Welt, in der wir leben, so schlecht ist; keine Ahnung.
Er ist jedenfalls hinab gestiegen zu dieser achteckigen Pfütze und hat in sie hineingeschaut. Danach haben ihn die Formeln wieder nach Hause gebracht, aber das, was er gesehen hat, war so dermaßen schrecklich, dass er mit niemanden drüber reden konnte und sich endlich im Keller seines Hauses aufgehangen hat, weil er mit diesem Wissen nicht weiterleben wollte. Zum Glück hat mich meine Frau geweckt, denn sonst hätte ich auch gesehen, was er gesehen hat. Herrje! Ich will gar nicht näher darüber nachdenken.“
Der imaginäre Freund stellte mir eine imaginäre Frage, so dass ich eine Weile schwieg.
„Garantiert werde ich niemals wieder einen solchen Traum träumen! Ich gehe zwar weiterhin ins Fitnessstudio, aber ich tue wieder Zucker in meinen Tee, esse Schokolade und trinke meine zwei Weizen pro Abend. Eine todsichere Methode, sich vor Erlebnissen einer solchen Art zu schützen!“
Ein herzhaftes Lachen erfüllte meinen Helm. Der Viertaktmotor meines violetten 50cc-Rollers dröhnte gleich einer Zwiebacksäge eintönig vor sich hin. Markus stellte eine weitere Frage, während mein Gefährt auf den Parkplatz vor dem hellerleuchteten Fitnessstudio fuhr.
„Natürlich habe ich einen Beweis dafür, dass das alles auch so passiert ist. Wir sind doch zusammen zur Schule gegangen und du weißt doch, was für eine Null in Mathematik ich gewesen bin. Nun weiß ich komischerweise, oder logischerweise, alles über Vektoren und deren Räume. Es fängt damit an, dass man Vektoren als Pfeil darstellen kann und endet mit komplizierten Berechnungen in ihren Räumen. Du bist der erste, dem ich davon erzähle und ich habe auch nicht bei Wikipedia geschummelt. Ich war in diesem Traum in Körper und Geist meines toten Freundes und ein Teil seines Wesens ist nun auf ewig mit mir verbunden.“
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