Kitabı oku: «Drei baltische Wege», sayfa 2
Litauen
Großfürsten und Breitband
Deutschbalten von Schrot und Korn sagen schon mal, Litauen sei ja eigentlich nicht ein baltisches Land. Wer in Vilnius Regale der Buchhandlungen durchstöbert oder Namen von Verlagen oder Firmen anschaut, hat aber das Gefühl, der Oberbegriff Baltisch werde in Litauen weit häufiger benutzt als in Lettland oder Estland. Richtig ist zumindest, dass Litauen, in dem ebenso viele Menschen leben wie in Lettland und Estland zusammen, sich von den beiden Nachbarn im Norden nach Geschichte, Konfession, Denkweise abhebt und in der politischen Ausrichtung: Estland nach Norden, Litauen nach Süden. Lettland, das sprachlich Litauen näher ist als Estland, liegt irgendwo dazwischen. Am weitesten voneinander entfernt nicht nur geografisch sind Estland und Litauen: Estland lebt mit seinem Jugendkult und der Ausrichtung auf neue Technologien von der Zukunft, Litauen zehrt mehr als es ihm gut tut von seiner glorreichen Vergangenheit, als in Vilnius im vierzehnten Jahrhundert mit den Großfürsten zeitweise die Herrscher des größten Staates Europas residierten. Die Unterscheidung gilt aber nur teils, sichtbar an den neuen Technologien. Kein anderer Staat Europas ist in der Dichte seiner Breitbandanbindung auf dem Lande weiter, nicht Estland und erst recht nicht Deutschland.
Litauen konnte die Wirtschaftskrise besser überstehen als Lettland und Estland. Es hatte als Einziger schon aus der Sowjetzeit eine breite industrielle Basis – der Anteil in der Industrie Beschäftigter lag bei dessen EU-Beitritt in Litauen höher als in Deutschland. Dennoch ist im Land mit den meisten Regentagen im Jahr in Europa das Gefühl der Schwermut und der Traurigkeit ausgeprägter als anderswo. Nirgends anders in der Welt ist die Selbstmordrate so hoch. Die durchschnittliche Lebenserwartung – bei Männern 61, bei Frauen 68 Jahre – ist niedriger als anderswo in Europa, und sie sinkt noch. Ein Psychiater berichtet, die Trunksucht sei stark, und sie breite sich vor allem in der Jugend aus. Dabei unterscheidet sich die Jugend in manchem von den Älteren. Sie richtet sich stärker auf westliches und eigenständiges Denken und an dessen Werten aus; ist toleranter gegenüber jenen, die anders denken oder leben; und wendet sich innerlich ab von der katholischen Kirche. Weinrestaurants ergänzen Bierkneipen, und traditionell rücksichtslose Autofahrer achten nun auf Fußgänger – sanfte Anpassungen sind überall spürbar. In der älteren Generation nahm die Unduldsamkeit, die Hetze gegen Minderheiten nach dem EU-Beitritt dagegen eher zu. Sichtbar nach außen werden aufstachelnde laute Redner, so einige populistische Abgeordnete. Andere melden sich wenig zu Wort, eher aus Resignation denn aus Feigheit3
Das geht einher mit einer Missachtung von Parteien, Politikern, dem Parlament, den Gerichten – eine Ausnahme ist nur die weit geachtete Präsidentin. Zum anderen kam, nach Jahren kreditfinanzierten Ausgabenrausches, ein Rückzug ins Private, in eine Datschen-Mentalität. Nur wenige beteiligen sich am öffentlichen Gespräch, die große Linie geht verloren. Stattdessen zieht man sich zurück ins Sommerhäuschen in den Kreis der Familie und Freunde. Die Zeit des Aufbruchs ist vorbei, als Jazz oder alternative Rockgruppen wie „Antis“ in den Jahren um die Wende 1990 herum Tausende anzogen und zum Symbol der Eigenständigkeit wurden. Basketball übernahm die Rolle des Einigenden. Wer während einer Basketballübertragung selbst auf Provinzliga in eine Kneipe kommt, wird vergeblich nach einem Gesicht suchen, das nicht den Fernsehschirm anstarrt. Eine vielleicht heilsame Erkenntnis aus der Krise ist jene, dass man als Litauer nicht (mehr) im Zentrum steht, wie so manche – beruhend auf vergangener Größe – zu glauben schienen.
Neben dem Rückzug in das Eigene und Enge gibt es eine zweite Tendenz, die Litauen seit mehr als einem Jahrhundert zu schaffen macht, die nun aber einen neuen und gefährlichen Schwung erlebt: die Auswanderung. Der Statistische Dienst der EU weist darauf hin, dass die Bevölkerung in keinem anderen Land der Union prozentual rascher sinke. Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts war Litauen ein Auswandererland, meist gehen die Besten. Unter den großen Namen in Hollywood reichte das von Walter Matthau bis Charles Bronson, unter den Musikern vom Komponisten Aaron Copland über die Sänger Al Jolson, dem „ersten Superstar“, und Barbra Streisand bis zum Violinisten Jasha Heifetz. In klassischen Einwandererländern wie Südafrika tauchen immer wieder Nachkommen litauischer Einwanderer auf. Früher waren es häufig die Litvaks, jüdische Litauer, die bis 1940 eine starke Rolle spielten in Vilnius als „Jerusalem des Nordens“ und dem Zentrum jiddischer Geisteskultur. Heute sind es vor allem Akademiker – ein Fünftel der Bevölkerung soll seit 1990 ausgewandert sein, gesichert sind diese Zahlen nicht. Ärzte und Pflegepersonal werden umworben in Westeuropa. Die Zahl derjenigen, die Deutsch oder Englisch so lernen, dass es für eine Arbeit in Westeuropa reicht, steigt weiter. Neben dem niedrigen Lohnniveau – das Durchschnittseinkommen liegt unter dem Lettlands, die Kaufkraft indes ist höher – vertreibt sie das Gefühl, in Politik und Gesellschaft ändere sich allzu wenig, alles sei träge und schleppend. Entsprechend blutet ein relativ armes Land wie Litauen doppelt – es bezahlt die Universitätsausbildung (der Anteil akademisch Ausgebildeter in der Gesamtbevölkerung ist der zweithöchste in der EU), kann aber nicht mehr eine angemessene Gesundheitsversorgung bieten im staatlichen Sektor, in Polikliniken, obwohl da jüngst vieles in der Ausstattung verbessert und modernisiert wurde.
In der Wirtschaft beherrscht und verdrängt ein Thema alles andere, die Energie. Das gilt auch in politischen Gesprächen mit der Bundesregierung, die derzeit die „kleinen“ EU-Länder und vor allem die baltischen ernster nimmt und einbezieht als frühere deutsche Regierungen von Kohl bis Schröder. Bis zur von der EU aus Sicherheitsgründen geforderten Abschaltung der beiden Reaktoren des Kernkraftwerkes Ignalina lag der Anteil von Atomenergie am Gesamtverbrauch höher als in allen anderen EU-Ländern. Nun aber ist Litauen abhängig von Gasimporten aus Russland, und das behagt nicht. Gesprochen wird über den Bau eines neuen Kernkraftwerkes am gleichen Standort, über eine bessere Vernetzung der Strombrücke nach Westeuropa, über eine Gasverflüssigungsanlage an der Küste in Klaipeda, um andere Gaslieferanten einzubinden. Wichtig ist eine sichere und nicht überteuerte Energieversorgung nicht nur, um von Pressionen unabhängig zu werden, sondern auch für die einzelnen Haushalte. Da Wärmedämmung vernachlässigt wurde, liegt der Energieverbrauch von Litauern pro Person zwei bis dreimal so hoch wie im EU-Durchschnitt. Das gilt vor allem bei unrenovierten Plattenbauten und alten Häusern auf dem Lande. Bewohner berichten, für Heizung und Strom monatlich 500 bis 600 Euro zahlen zu müssen bei Monatseinkommen von vielleicht 800 Euro. So gibt es nur drei Möglichkeiten des wirtschaftlichen Überlebens – Schwarzmarkt, Nebenjobs und finanzielle Hilfen ausgewanderter Verwandter.

Nicht immer so besinnlich – Domplatz in Vilnius
Immer wieder sagt die Regierung zu, ihre Wirtschafts- und Energiepolitik zu ändern. Es geschieht aber wenig. Geschäftsleute beklagen „heiße Luft“. In einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer unter Unternehmen hält nur ein Fünftel das Regierungshandeln für zielführend und ausreichend; ein klarer und berechenbarer wirtschaftspolitischer Kurs fehle, die öffentliche Verwaltung sei ineffizient, Kriminalität und Korruption würden nur mangelhaft bekämpft.
Selten hat eine Regierung – 12 Kabinette gab es in 22 Jahren – lange genug Zeit, Grundlegendes zu ändern, Strukturreformen wie die Überschuldung der Sozialversicherung oder den Arbeitsmarkt anzugehen und umzusetzen. Anders als im bürgerlich-liberal geprägten Estland wechseln sich „linke“ und „rechte“, sozialdemokratische oder konservativ geführte Regierungen regelmäßig ab. In dem instabilen Parteiensystem gilt nur jeder Vierte als ein seiner Partei loyaler Stammwähler – in „alten Demokratien“ des Westens sind es drei Viertel. Dazwischen gab und gibt es häufiger als in den anderen beiden baltischen Ländern Populisten in der politischen Führung. Bei der Parlamentswahl Ende 2008 erhielt eine Partei von Unterhaltungskünstlern, Fernsehstars und anderen politisch Unerfahrenen auf Anhieb die meisten Stimmen und Abgeordnete in der Seimas, dem Parlament. Auch bei den beiden Parlamentswahlen davor erreichten Parteien eine hohe Stimmenzahl, die jeweils erst wenige Monate zuvor gegründet worden waren. Einmal brachte es ein Populist sogar zum Präsidenten – Rolandas Paksas wurde dann in einem Misstrauensvotum vom Parlament abgewählt, ein Novum in der Verfassungsgeschichte der EU-Länder. Verzweifelter Spaß in der Politik zu eigentlich ernster Zeit hat Tradition in Litauen. In den nachnapoleonischen Jahren, die Vilnius den nationalen, auch sprachlichen Aufbruch brachten, polnische Romantik und liberales Gedankengut (und das bislang letzte gemeinsame Vorgehen der drei verbundenen Völker der Litauer, Polen und Weißrussen), wurde die interessanteste Zeitung herausgegeben von der „Vereinigung der Tunichtgute“: Sie wollten „mit Lachen die verdorbenen Sitten bessern“.
Nicht nur der Populismus dient Daheimgebliebenen als Ventil für eine Flucht aus der Realität. Die vergangene Größe und das kulturelle Gedächtnis sind vielen Trost und Ansporn. Die Debatten um den Wiederaufbau des Palastes des Großfürsten erinnern an das Großfürstentum Litauen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert und an das Goldene Zeitalter bis 1430. Das gilt auch für zahllose Veranstaltungen zur Schlacht von Tannenberg, als Litauer und Polen vor genau 600 Jahren den Deutschen Orden zurückschlugen und so die staatliche Unabhängigkeit sicherten. Gleich drei Nationaltage hat Litauen – je einen für das Mittelalter, für die Litauische Republik der Zwischenkriegsjahre 1918 bis 1940, und für die Zeit nach 1991. Litauen kann sich historisch auf eine starke Identität stützen. Es will nach den von Moskau geprägten Jahren des Sozialistischen Internationalismus und der Unterdrückung eigener Kultur und Sprache diese pflegen.
Außenpolitisch ist Litauen eigenständiger und selbstbewusster als andere „kleine Länder“. Das zeigt sich im Bestreben innerhalb und außerhalb der EU, freiheitssuchende Länder weiter südlich bis hin nach Armenien und Georgien zu stützen, vor allem den großen Nachbarn Weißrussland. Angeregt wird das geostrategische Denken nicht zuletzt durch das benachbarte Kaliningrad (Königsberg). Russland kann seine Exklave mit Wirtschaftsgütern, Energie und Militär beliefern über litauisches Gebiet – Absprachen beider Länder werden ohne Drohgebärden eingehalten. Ihre Vereinbarung fiel leichter, weil Litauens Beziehungen zu Russland dank einer geringeren russischen Minderheit und einem entspannteren Umgang mit Russen und Weißrussen auf seinem Gebiet besser waren und sind als jene der baltischen Nachbarn zum Kreml. Dabei fiel der Verlust der früheren Provinz Litauen dem Sowjetreich weit schwerer als jener Estlands und Lettlands: Mit Litauen schwand der kürzeste Zugang zum eisfreien Meer.
Ein stabilisierendes Element waren fast immer die Präsidenten – der Sozialdemokrat Algirdas Brazauskas, der konservative Valdas Adamkus und nun die frühere EU-Kommissarin Dalia Grybauskaitė. Gegen sie sprach bei der Wahl eigentlich alles, was sonst in der litauischen Politik gilt – sie ist eine Frau, unverheiratet, nicht kirchennah, eigenwillig und willensstark. Dennoch gilt sie als einigendes Band – vor allem, weil sie „aufräumt“. Sie drängt Minister oder Beamte, die sie als korrupt oder unfähig empfindet, durch öffentliche Kritik aus dem Amt. Alleine in ihrem ersten Amtsjahr verloren 16 Behördenleiter nach ihrem „Hinweis“ ihr Amt. Litauer lieben die eiserne Frau mit dem schwarzen Gürtel im Karate auch dafür. So überraschte nicht, dass der amerikanische Senator und frühere Präsidentschaftskandidat John McCain nach einem Treffen mit ihr in Vilnius sagte, sie habe das Format, sich um das Amt des amerikanischen Präsidenten zu bewerben. Gesetze, die unter Aufgeklärteren im Land und innerhalb der EU als zweifelhaft oder diskriminierend empfunden werden, unterzeichnet sie nicht. Ihre Worte sind klar – Vergangenheit sei Vergangenheit; oder: Jetzt gehe es ums Überleben. Dabei geht Grybauskaitė beim Bemühen, mit postsowjetischen Strukturen und Denken aufzuräumen, an die Grenze des ansonsten Präsidenten zustehenden Spielraums oder auch darüber hinaus.
Vilnius – wie eine mehrmals überschriebene Handschrift
Prag oder New York sei Vilnius nicht, „aber doch ganz interessant“. Der Leiter einer Staatsbehörde, die Investitionen nach Litauen ziehen soll, hätte in anderen Ländern vielleicht seine Heimat schnittiger und forscher angepriesen. Überzeugt hätte er damit aber vermutlich weniger als der Gesprächspartner, der nicht aufschneiden will. Das ist auch nicht die Art der Litauer. Aufgeregt und patriotisch werden sie nur, wenn der dreifache Europameister im Basketball gegen die Amerikaner siegt, selten genug, oder er 2011 erstmals seit 1939 die Europameisterschaft selber wieder ausrichtete. Dann sind die sonst beschaulichen Straßen bis spät nachts von gelb-grün-rot fahnenschwingenden Jugendlichen gesäumt im vermutlich einzigen Land, das dem Nationalspiel ein sechs Meter hohes Denkmal widmet, eingeweiht 2007 vom damaligen Präsidenten. Anders als andere Nationen des östlichen Mitteleuropa brauchen Litauer nicht zu protzen, weil sie wissen, wer sie sind, und vor allem, wer sie waren: im Mittelalter das Zentrum eines litauisch-polnischen Doppelreichs, das weite Teile Mitteleuropas beherrschte. Mehr als 200 Kirchen belegten den Beinamen „Rom des Nordens“. Und bis zum Zweiten Weltkrieg auch das geistige Zentrum des liberalen osteuropäischen Judentums, das „Jerusalem des Nordens“. Aus dieser Zeit ist viel übriggeblieben, nicht nur die barocke Bausubstanz der zum Weltkulturerbe ernannten Altstadt, die einst das jüdische Ghetto umfasste, sondern auch eine Geisteshaltung. Vielleicht auch, weil man insgeheim weiß, dass man anders als Reval oder Riga nicht einst von Kolonialherren aus dem Westen gegründet und ausgebaut wurde, sondern „authentisch“ von Litauern.
In Vilnius konzentriert sich kultureller Reichtum vom Jazz bis zur Bildhauerkunst. Letztere treibt bizarre Blüten – viele Litauer haben Sinn für das Absurde und Hintergründige – mit dem ersten Denkmal der Welt für den Rockmusiker Frank Zappa oder einem verschrotteten Stalin-Büsten gewidmeten Park. Da scheint der alte Stein noch fast unscheinbar, der einige Kilometer außerhalb von Vilnius steht an dem Ort, den das Französische Nationale Geographische Zentrum als den Mittelpunkt Europas berechnete. Vor einigen Jahren noch war er schwer zu finden, jetzt aber haben Litauer dem Fremdenverkehr ihren Tribut gezollt mit einer Säule, einer Imbissbude und mehrsprachigen Erläuterungsschildern. Darauf fehlt allerdings der Hinweis, dass auch andere Städte – etwa in der Slowakei und der Ukraine – diesen Anspruch erheben. Beispiele für dies Verspielte ist zum einen der Künstlerstadtteil Užupis, der sich zur unabhängigen Republik ernannte mit eigener Flagge und eigenem Präsidenten. Deren Verfassung legt in ihren 41 Punkten fest, jeder habe das Recht, faul zu sein oder eine Katze zu lieben. Zum anderen eben die Zappa-Statue auf einem vier Meter hohen Sockel. Zappa war der aufsässigen Halbjugend im ehemaligen Ostblock ein Vorbild, weil er sich gegen das „Establishment“ auflehnte. Dabei war der Rockmusiker nie in Vilnius, und seine angebliche Absicht, kurz vor seinem Tod hinzufahren, ist nicht belegt. Und der Bildhauer hatte sich vor seiner Zappa-Statue auf Büsten Lenins und andere Helden der Revolution konzentriert.
Die Feiern im Jahr 2009 zur ersten Nennung des Landesnamens tausend Jahre zuvor und zeitgleich als Kulturhauptstadt Europas litten ebenso unter Geldnot wie Gedankenspiele, ein „Vilnius Guggenheim Hermitage Museum“ zu errichten und dort Sammlungen zeitgenössischer Kunst zu zeigen, auch aus der Eremitage in Sankt Petersburg und dem New Yorker Guggenheim. Vilnius ist eine Stadt der Statuen und der Kirchen. Dazu zählt der vor 200 Jahren zerstörte, 2009 zur „Jahrtausendfeier“ Litauens symbolisch wiedereröffnete „Königliche Palast“ neben dem Dom. Die Grundlage zur Unabhängigkeit legte die Schlacht bei Tannenberg und Grunwald (Zalgiris auf Litauisch) 1410 zwischen Polen, Litauen und dem Deutschen Orden – in Deutschland eine historische Fußnote, in Vilnius Anlass einer Großausstellung.
Nicht ein Prachtbau, aber prachtvoll ist die St.-Anna-Kirche. Wie klein sie im Inneren ist – nicht einmal zwanzig Meter lang und neun Meter breit –, vermag nicht zu glauben, wer vor ihr steht: St. Anna wirkt gerade durch ihre Verspieltheit und Formenvielfalt. Weithin gilt sie als Meisterwerk spätgotischer Backsteingotik und als eine der schönsten Kirchenbauten Nordosteuropas. Als Napoleon in Vilnius war, soll er gesagt haben, er würde diese Kirche gerne auf seiner Handfläche nach Paris tragen. Ansonsten waren die Erinnerungen Napoleons an Vilnius weniger gut als die der Hauptstadtbewohner an ihn. Nach seinem Durchmarsch durch die Stadt auf dem Wege nach Moskau kam eine Phase liberaler Reformen – in der Sozialpolitik wie in der Kultur. Auf dem Rückmarsch der geschlagenen napoleonischen Armee dagegen litten Soldaten und sie begleitende Handwerker an Entbehrung, Hunger, Kälte. Erst vor wenigen Jahren wurde in einem Vorort von Vilnius entdeckt, dass dort um die 80 000 Menschen begraben wurden, eines der größten Massengräber der Napoleonzeit und wohl auch insgesamt. Mehrfach gingen von dieser Kirche historische Impulse aus, etwa die Reformation in Litauen oder 1987 die ersten Bewegungen zur neuerlichen Unabhängigkeit Litauens. Erstmals schriftlich erwähnt wurde St. Anna 1501 in einer Bulle Papst Alexanders VI. 33 eigens gebrannte Backsteinformen wählte der Baumeister, der später in Warschau, Danzig und Königsberg tätig war, vor fünf Jahrhunderten. Geschwungene hochstrebende Ziertürme, Erker und die hohen Fenster geben St. Anna eine seltene Leichtigkeit, einer der Höhepunkte im Stadtkern, den nicht nur die Touristenwerbung als „größte zusammenhängende und besterhaltene Altstadt Europas“ rühmt.
Vilnius ist multinational und multikulturell – 57 Prozent der gut eine halbe Million Bewohner sind Litauer, jeder Fünfte ist Pole. Russen stellen 14, Weißrussen vier Prozent – Deutsche gibt es wenige. Vorbehalte gegen Deutsche gibt es nicht, trotz der Jahre nationalsozialistischer Besetzung, als innerhalb von zwei Jahren viele Zehntausend Menschen, 90 Prozent der jüdischen Bewohner, und ein Teil des geistigen Erbes ausgelöscht wurden. Viele sprechen noch Deutsch, vor allem nahe der Ostsee und an den Grenzen zum alten Ostpreußen. In Vilnius gibt es eine deutschsprachige Online-Zeitung, einen deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst und gleich mehrere deutschsprachige Stammtische, zudem die Deutsch-Baltische Handelskammer und das Goethe-Institut. In der Buchhandlung im Innenhof der traditionsreichen Universität stehen viele Dutzend ins Litauische übersetzte Werke deutscher Literatur, angefangen mit „Thomas Mannas“, der nahebei auf der Kurischen Nehrung seine Sommer schreibend verbrachte. Litauisch zu lernen ist nicht einfach für Besucher, die nur kurz bleiben wollen, trotz sprachlicher Nähe: Es ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache, nahe nicht nur dem Sanskrit, sondern auch dem Altpruzzischen (Altpreußischen).
Unter den baltischen Staaten ist Litauen der größte (und der einzige, in dem sich nicht fast alles auf die Hauptstadt konzentriert). Er zieht die meisten Investitionen aus Deutschland an sich: Zahlen schwanken je nach Zählweise zwischen 900 und 1 200 Unternehmen mit deutscher Beteiligung, auch wenn einige Banken und Konzerne sich zurückzogen und ihre Anteile nordischen Gruppen verkauften. Neben den großen Investoren – in Gasvertrieb, Banken, Versicherung und Elektronik – stellen mittelständische Unternehmen Fahrräder her oder Autoteile, auch Holzhändler und Holzverarbeiter gibt es mehrere. Einige Deutsche sind Berater in Fabriken, Rechtsanwälte, Geschäftsführer von Diskotheken, Deutschlehrer oder Dozenten an den Hochschulen, oft junge und unternehmensfreudige Leute.
Nicht alles ist für Übergesiedelte einfach: Die Geltung der Krankenversicherung ist lückenhaft und das staatliche Krankenhauswesen noch von den Sowjetjahren geprägt, auch wenn sich vieles verbessert hat. Wer eine Operation oder eine schwierige Behandlung vor sich hat, tut gut daran, nach Deutschland zu fliegen oder dem Arzt als „Geschenk“ einen Umschlag mit einigen Scheinen zu geben, um Termine zu erhalten – viele Ärzte empfangen nur noch Privatpatienten. Eine vergleichende europäische Untersuchung befand, Litauen habe das am wenigsten „benutzerfreundliche“ Gesundheitssystem aller EU-Länder. In öffentlichen Krankenhäusern sind die ohnehin niedrigen Gehälter seit der Wirtschaftskrise mindestens zweimal gesenkt worden, Schwestern und Ärzte verlassen das Land. Zumindest die Mieten können sich viele Litauer ersparen: Meist gehören Häuser und Wohnungen den Bewohnern. Sie sind ebenso leicht zu kaufen wie zu mieten, zumal die Stadt mit 560 000 Menschen ständig Einwohner verliert. Für Unternehmer mit viel Handfertigung im Produktionsablauf ist Litauen dank niedriger Lohnkosten und Steuern ein günstiger Standort. In kaum einem anderen Land der EU dürften die Lebenshaltungskosten so niedrig sein. So kann man bei einem für westliche Verhältnisse niedrigen Gehalt gut leben, zumal das Angebot von Restaurants und Cafés ebenso breit wie gut ist. Mühsam und zeitraubend ist, nicht nur für Zugewanderte, die Bürokratie. Unerträglich wird es, wenn man mit dem Migrationsamt zu tun hat – manches scheint willkürlich.
Ganz die Lebendigkeit Rigas hat Vilnius nicht, die katholische Prägung und historische Nähe zum Nachbarn Polen hebt es ab von Lettland und Estland. Vilnius galt im Mittelalter als Hort der Toleranz, auch wenn davon in den letzten Jahrzehnten einiges eingebüßt wurde. Nach einer größeren Offenheit nach dem EU-Beitritt sinkt nun wieder die Toleranzschwelle gegenüber Minderheiten unter dem Einfluss populistischer Politiker. Medien greifen das bereitwillig auf. Manche genießen die Überschaubarkeit: Fast alles kann man im Stadtzentrum zu Fuß erlaufen. Zudem ist man innerhalb einer Stunde an einem See zum Angeln. Viele empfinden die Menschen als warmherzig, freundlich – sie nehmen einen Fremden rascher und herzlicher als anderswo auf. Der Familienzusammenhalt ist groß, sichtbar nicht zuletzt im Herbst, wenn junge Menschen aus der Stadt auf die Höfe heimkehren, um ihrer Familie bei der Ernte zu helfen. Hier findet man offenbar leichter als anderswo den Weg zur Natur und inneren Ruhe.
An der Prachtstraße Gedimino, die wie vieles andere aufwendig ausgebaut wurde, reihen sich Boutiquen mit großen italienischen oder französischen Luxusnamen auf. Viele sind leer, ihre Besitzer verdienen aber genug, wenn am Tag nur ein russischer Großkunde zu Besuch kommt. Stärker noch als Riga und Tallinn wächst Vilnius städtebaulich unaufhörlich. Auf der der Altstadt abgewandten Flussseite der Neris wird ein Hochhaus neben dem anderen gebaut, wo vor wenigen Jahren noch keines stand. Nicht nur das Bauwesen, die gesamte Wirtschaft wuchs in einem Tempo wie in wenigen anderen Ländern der EU – unter der Wirtschaftskrise litt dann aber wiederum die Bauwirtschaft am stärksten.
So gleitend und schwer zu fassen wie das Stadtbild ist das Selbstverständnis von Vilnius: Es ist weder ganz Osten noch ganz Westen, ein wenig Skandinavien, ein wenig mehr Polen, etwas russisch und eine Prise deutsch.