Kitabı oku: «Drei baltische Wege», sayfa 3
Großfürstenpalast – unten authentisch, oben Symbol
Unten im Keller werde alles authentisch sein, oben in den Museumsetagen aber symbolisch. Der Archäologe, der den Vornamen des Großfürsten Gediminas trägt, ist wie viele in Litauen Feuer und Flamme für den Wiederaufbau des Palastes der Großfürsten, der auch Königsschloss genannt wurde. Ein litauischer König hatte dort residiert und dann fast drei Jahrhunderte lang Großfürsten, die oft gleichzeitig Könige von Polen waren. Der Wiederaufbau – Gediminas bevorzugt als genauer Mensch den Begriff Atkūrimas, Wiederschöpfung – bewegt die Gemüter seit fünfzehn Jahren, stärker noch als etwa der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die einen sehen hier den früheren und künftigen Mittelpunkt ihres Gemeinwesens, die anderen weisen auf die Wirtschaftskrise – bei knappen Mitteln sollten Steuergelder eher für sozialen Ausgleich eingesetzt werden. Für Besucher geöffnet werden soll das schon weitgehend fertiggestellte Schloss spätestens 2013, also deutlich vor dem Berliner Stadtschloss, obwohl die zeitlichen „Vorgaben“ – der Fall der Berliner Mauer und die Wiedererlangung der nationalen Souveränität Litauens – übereinstimmen und Litauen weit ärmer ist.

Fast wie neu – der Palast des Großfürsten
Gewiss ist nach dem Gang durch die Räume des Schlosses, dass es dann nicht nur der größte touristische Anziehungspunkt der Hauptstadt sein wird, sondern auch ein Ort der Besinnung für jene mit Sinn für Geschichte und einer Sehnsucht nach einstiger Größe. Von hier aus regierten die Schlossherren über das halbe Mitteleuropa. Litauen-Polen war damals das flächenmäßig größte Land Europas. Sie vermählten sich mit Prinzessinnen oder Prinzen aus Schweden, Österreich und auf Vermittlung des Papstes den italienischen Sforza (Herzog von Mailand), was dem Ausbau italienischen Glanz brachte. Sie sammelten hier kostbare Gobelins, Möbel, Bücher. Selbst jene Politiker, die in alljährlichem Ritual bei der Haushaltsdebatte im Parlament ein Auslaufen der Baumittel fordern, meinen das eigentlich nicht ernst – dies ist ein nationales Anliegen. Der Staat beginnt hier, sagt Gediminas. Der verstorbene frühere sozialdemokratische Präsident und Ministerpräsident Algirdas Brazauskas, Vorsitzender des Wiederaufbauausschusses, war ein glühender Verfechter des Baus. Er bedauerte, dass es Streit gebe – und weiterhin gibt – um den Palast. Er werde das Wissen um die Kultur des Landes bereichern und patriotische Gefühle wecken. Just vor diesen, einem romantisierenden Nationalismus, warnen wiederum Kritiker.
Wer den Schlossbau betrachtet, bekommt das Gefühl, diese kleine Nation gehe durchdachter und vor allem realistischer heran als Deutsche, die sich um den Aufbau ihrer Schlösser in Berlin oder Braunschweig streiten. Dreizehn Jahre lang von 1987 an suchten zunächst Archäologen im Boden. Sie fanden neben Mauerresten vom dreizehnten Jahrhundert an um die 300 000 Artefakte. Dann beschloss das Parlament 2000 den Aufbau, der zwei Jahre später begann. Auch Parteien und Politiker, die anfangs skeptisch waren, fühlten sich an diesen Beschluss gebunden. Ein Jahrzehnt später scheint das meiste bereit. Selbst leere Vitrinen stehen schon und sechs prachtvolle Kachelöfen mit Familienwappen oder Skulpturen. Wie beim übrigen Vorgehen nutzte man die Kacheln, die man bei den Grabungen fand, nur als Vorlage für eine originalgetreue Nachbildung durch Fachleute. Die Originale werden in den Vitrinen ausgestellt werden. Der Fliesenboden, die Holzdecken, die Leuchter wurden jeweils nachempfunden der Periode, die die Räume haben. Wer durch den Palast geht, durchschreitet Stilperioden, in denen er Wandlungen erfuhr, von der Spätgotik über die Renaissance – der Höhepunkt der Macht- und Prachtentfaltung – bis zum Frühbarock und dem nordeuropäischen Manierismus.

Für Besucher bereit – Kachelofen und Kandelaber im Palast
Die originalen Mauerreste im Keller bleiben, wie sie waren. Sie können umwandert oder nachts erleuchtet durch Glasfenster von oben betrachtet werden, etwa bei Konzerten im Innenhof mit seiner bemerkenswerten Akustik. Der Palast wird nicht nur ein Museum sein. Er bietet auch ein museumspädagogisches Zentrum, eine Halle für Konzerte oder Seminare, eine Bibliothek oder, schon jetzt, eine Szene für Kulturprojekte oder für mittelalterliche Musik. Musik hat Tradition im Schloss: 1636 fand hier die erste Opernaufführung im Lande statt. Zudem hoffen die Träger – anfangs ein privater Verein, der Spenden sammelte und die Politiker antrieb –, dass dort Präsidenten wichtige Staatsdokumente zeichnen oder Gäste empfangen. Die Präsidentin Dalia Grybauskaitė dringt auf einen raschen Bauabschluss – der Palast sei unerlässlich für die Zeit der litauischen EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2013. Schon zur offiziellen und eher symbolischen Eröffnung 2009, als Vilnius Europäische Kulturhauptstadt war und ganz Litauen sein Millenniumsjubiläum feierte, kamen Staatschefs aus dem Norden und dem Osten Europas – wohl nicht oft dürften 15 Monarchen, Präsidenten und Regierungschefs zur Eröffnung eines unvollendeten Gebäudes kommen. Sie wurde auf den 6. Juli gelegt – den Jahrestag der Krönung von König Mindagaus im Jahr 1253, der als Gründer des ersten litauischen Staates gilt.
Die Großfürsten von Litauen, das Gediminiden-Jagiellonen-Geschlecht, regierten zeitweise gleichzeitig Polen. Die Erforscher der Wieder-Schöpfung suchten – da es wenige Abbildungen gibt vom Inneren des ursprünglichen Palasts – Bauvorbilder in anderen Schlössern und Burgen der Jagiellonen, vor allem in der polnischen Königsburg Wawel in Krakau. Polen und Litauen sind nicht nur durch die gemeinsame Dynastie und Geschichte verbunden, sondern auch durch den katholischen Glauben, den barocken Baustil, und durch ähnliche Traditionen. Beim Aufbau nutzten die Handwerker und Architekten polnische Hilfen und Erfahrungen auch beim den Bau erschwerenden Grundwasser, der Burgbereich war von zwei Flüssen umgeben. Absenken kann man es nicht, da der Palast teils auf Eichenpfählen steht, die das Grundwasser brauchen. Die Mauern mussten dem Vorbild angenähert dick ausschauen. So fügte man in das hohle Innere der Außenmauern Klimaanlagen ein und Leitungen.
Die Planer des Palastes orientierten sich an anderen Schlossrekonstruktionen. In wissenschaftlichen Konferenzen und mit wechselseitigen Besuchen beobachteten sie Vorhaben in Warschau und Königsberg, Dresden und München, in Italien und Ungarn. Die Planer des Berliner Stadtschlosses kamen nach Vilnius und interessierten sich für die Einbeziehung authentischer Elemente und die Verwendung von Originalstücken: Berlin wollte von Vilnius lernen. Die Zahl der Bücher zum Palast, zuletzt um die zehn jährlich, ist erstaunlich.
Der vierstöckige Palast ist Mittelpunkt eines ausgedehnten Komplexes, der den Dom, die Oberburg auf dem Hügel, das Nationalmuseum und andere Paläste einbezieht. Die Burg war vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert die wichtigste Residenz der Großfürsten, deren Namen viele Litauer als Vornamen tragen – Gediminas, Algirdas, Kazimieras (Kasimir), Žygimantas, Vytautas (Vytold). Mehrfach brannte der Palast ab oder wurde geplündert. Nach der Verwüstung durch russische Truppen 1661 wurde er nicht mehr renoviert, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dann abgebrochen. Nun steht er „fast“ wieder. Vom Innenhof führt eine glasüberdachte Treppe ins unterirdische Foyer, von dem aus man in vier Richtungen gehen kann – zu den historischen Mauern, zu den „historischen“ Sälen, zu Ausstellungsräumen, in denen künftig Wechselausstellungen aus dem Ausland stattfinden sollen, und zur Konzerthalle, nachempfunden dem Theatersaal aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert. Auch hier wollen die Bauherren stets sichtbar machen, was authentisch ist und was Vision.
Klaipeda (Memel) – Stadt, Land, Meer
Als Napoleon 1807 Berlin besetzte, flohen Regierung und Königshof nach Memel und erklärten es zur provisorischen Hauptstadt des preußischen Königreiches. Dort hob Friedrich Wilhelm III. mit einem Edikt die Leibeigenschaft in Preußen auf und empfing zweimal den Zaren. Als Klaipeda als älteste Stadt Litauens seine Gründung vor 750 Jahren feierte, kamen neben vielen Zehntausend Litauern vier Präsidenten aus Ostsee-Anrainern – nicht aber die Staatschefs von Deutschland und Russland, jenen beiden Ländern, die im Memelland herrschten, bevor und nachdem Litauen die Hafenstadt und das Memelland 1923 übernahm. Schon zwei Jahre nach der Gründung der Burg und der Stadt im August 1252 durch einen Vertrag zwischen dem Bischof von Kurland und dem livländischen Orden übernahm Memel von Lübeck das Stadtrecht.
Litauer gehen unbefangener mit der sechs Jahrhunderte währenden deutschen Vergangenheit Memels um als Deutsche. Das schließt den ebenso berühmten wie missbrauchten Gedichtvers Hoffmann von Fallerslebens im „Lied der Deutschen“, der Nationalhymne, ein: „Von der Maas bis an die Memel“. In einer Einführung in seine Geschichte und Literatur weist eine offizielle Broschüre darauf, dass die Grenzregion um das ostpreußische Tilsit und Memel vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland zählte. Diese waren zugleich aber Orte, in denen die litauische Nation und Kultur vor 140 Jahren wiedergeboren wurden.
Wechselvoller kann die Geschichte einer Stadt wie Memel, das auch vom Deutschen Orden, von Schweden (1629 bis 1635) und von Franzosen (1920 bis 1924) regiert wurde und Völkerbundsmandat war, kaum sein. Ordensburg – auch hier gibt es Pläne eines Wiederaufbaus – und Stadt wurden im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Die historische und kulturelle Bedeutung blieb, alte Fachwerkbauten wurden restauriert. Das Wechselhafte gilt auch für die bernsteinreiche Region „Kleinlitauen“, die sich jetzt auf drei Staaten verteilt – das Memelland kam zu Litauen, Teile Ostpreußens zu Polen und Königsberg als Exklave Kaliningrad zu Russland. Staatsgrenzen waren im vorigen Jahrhundert mehrfach – 1919, 1923, 1939 und 1945 – verschoben worden.
Klaipeda ist von der Ostsee abgetrennt durch die Kurische Nehrung, auf der Thomas Mann seinen Zyklus „Joseph und seine Brüder“ in seinem Sommerhaus im nahen Nida (Nidden) schrieb. Die Kurische Nehrung trennt das Kurische Haff von der Ostsee: ein knapp hundert Kilometer langer, allenfalls vier Kilometer breiter Streifen mit Wanderdünen, der zur Hälfte Litauen, zur Hälfte Russland (Kaliningrad/Königsberg) gehört. Zu weiteren großen Söhnen der drittgrößten Stadt Litauens zählen der Barockdichter Simon Dach, Dichter des „Ännchen von Tharau“, der Astronom Friedrich Wilhelm Argelander und der wohl bedeutendste lebende litauische Dichter Tomas Venclova. Fast genau ein Jahrhundert steht vor dem Theater die Figur des Ännchen als Brunnen und zeigt die Wechsel der Geschichte. 1939 wich sie einer Hitler-Büste, dann einem sowjetischen Panzer, bis sie 1989 als Nachguss heimkehrte.
Kaunas – Von Teufeln und Engeln
Teufel gibt es in den drei Stockwerken in allen Farben und Formen: aus Ton, Holz, Bronze oder Plastik, aus China, Kuba oder der Ukraine, als Pfeife, Aschenbecher oder Karnevalsmaske. Das Teufelsmuseum in Kaunas glaubt, die einzige Sammlung dieser Art in Europa zu sein. Gegründet wurde es 1966 – also zu Sowjetzeiten. Die Sowjets sahen die Sammlung als Mittel, die katholische Kirche lächerlich zu machen. Sie gründet auf der Privatsammlung eines Malers und Kunstprofessors. Mittlerweile umfasst sie mehr als 2 000 Teufel dank der Geschenke aus vielen Ländern; in Deutschland scheint es, am Bestand gemessen, wenig Teufel zu geben, vielleicht auch nur wenige Schenkungswillige. Vor allem ein Doppelteufel zieht die Aufmerksamkeit auf sich: eine Karte Litauens, auf der Hitler steht, verzerrt und grob, und hinter ihm eine glatte Stalin-Gestalt, die ihn peitscht. Beide Diktatoren tragen die obligaten Teufelshörner; sie haben das Leben zweier litauischer Generationen zerstört.

Teufelshörner haben beide – Hitler und Stalin
Ist es Zufall, dass das Museum in Litauen steht, dem letzten Staat Europas, der christianisiert wurde – wobei die politisch motivierte Bekehrung des Großfürsten und seiner Untertanen 1387 nicht nur den Schritt zum katholischen Glauben brachte, sondern auch fort vom orthodoxen Glauben seiner Mutter und damit der Einbindung in die osteuropäische Welt. Viele sagen voller Ernst Nein, auch besonnene Gesprächspartner. Sie weisen auf die starke Rolle, die das Übersinnliche im litauischen Volksglauben noch spiele und die späte „Bekehrung“. Dass ein früherer Staatspräsident sich eine Wahrsagerin mit schwammigem Hintergrund als Beraterin und Vertraute hielt, verspotten viele, andere fühlen ihm das nach. Die Christianisierung kam um 1300, der letzte heidnische Priester in Litauen starb im siebzehnten Jahrhundert. Noch immer tragen viele Turmkreuze über den Kirchen auch heidnische Symbole – Ringelnattern etwa oder Sonnen. Feiertage und Vornamen haben oft heidnische Bezüge. Am Tag vor Aschermittwoch, vor Frühlingsbeginn und der Rückkehr der Sonne, wird Morė, die vorchristliche Todesgöttin, durch die Straßen gezogen und verbrannt. Fabelwesen, Hexen, Teufel – meist aus Holz – stehen auffallend häufig in litauischen Vorgärten oder Parks. Auch die christliche Geschichte verlief wechselhaft. Katholiken wechselten mit Orthodoxen, Protestanten und Atheisten, je nach den Herrschern, die mal aus Polen kamen, dann aus Skandinavien, Deutschland oder Russland.
Ein Beispiel bietet die St.-Kasimir-Kirche in Vilnius, die abwechselnd protestantisch, orthodox oder katholisch war, in den Jahren sowjetischer Besetzung aber ein Museum des Atheismus. St. Kasimir, Sohn eines polnischen Königs und litauischen Großfürsten, kleidete sich in Pferdehaare statt in ein prinzliches Gewand, betete ständig und starb jung. Also wurde er heiliggesprochen. Sein Gedenktag prägt alljährlich im März die Straßen von Kaunas und Vilnius mit Buden, an denen Blumengebinde verkauft werden, meist aber kommerzieller Kitsch; früher, klagen Altvordere, sei alles individueller und schöner gewesen. Nur wenige Tage davor waren die Gassen ebenfalls voll mit Masken, Tänzern, Feuern: Die böse „Frau Winter“ wurde verbrannt. Hier wie oft in Litauen vermengen sich christliche und heidnische Elemente.
Nicht alles ist von bösen Winterfrauen oder Teufeln geprägt. Auch das Gute im Menschen wird gefeiert, in den Tagen vor Weihnachten etwa in den vielen Galerien der Altstadt von Wilna. Eine Galerie am Engelsplatz, den selbst der Dalai Lama mit guten Wünschen besuchte, stellt nur Kunstwerke mit Engeln aus. Und in der Stadt Anyksciai, gut hundert Kilometer nördlich von Vilnius, gibt es ein Engelmuseum. Es wurde 2010 gegründet von einer aus dem amerikanischen Exil heimgekehrten Schauspielerin, die es als Gegenstück sieht zum von ihr verachteten Teufelsmuseum.
Die wenig zerstörte Natur spielt eine Rolle bei dem Glauben an das Übersinnliche. Was für viele weiter im Westen befremdlich sein mag, vom Volksglauben über die Johannisnacht und dem „Hexenberg“ auf der Kurischen Nehrung bis zu den Wahrsagern, ist nicht wenigen Litauern, die umfassend erst vor 130 Jahren alphabetisiert wurden, selbstverständlich. Sagen sind Teil des litauischen Selbstbewusstseins. Die Holzschnittkunst kommt dem entgegen. Selbst große Gestalten des litauischen Geisteslebens wie der Maler und Komponist Mikalojus Konstantinas Ciurlionis – dessen hundertsten Todestag Litauen 2011 aufwendig feierte – beschäftigten sich in ihren Werken mit Kosmologie, Allegorien und Symbolen, mit dem Spirituellen.
Litauens Geburtsurkunde
Quedlinburger Stiftsdamen ist zu verdanken, dass Litauen im Jahr 2009 nicht nur die Hauptstadt Vilnius als europäische Kulturhauptstadt feiern konnte, sondern, wichtiger noch für das Selbstbewusstsein, auch sein tausendjähriges Bestehen. Sie berichten in einem Eintrag zum Tod des Missionars Bruno von Querfurt, der Litauer zum Christentum bekehren wollte: „Der Heilige Erzbischof und Mönch Bruno, zubenannt Bonifacius, wurde an den Grenzen von Ruscien und Lituen von den Heiden mit achtzehn Gefährten enthauptet und kam am 9. März im elften Jahr seiner Bekehrung in den Himmel.“ Die erste verbürgte Eintragung des Landesnamens in den Quedlinburger Annalen bot Anlass zu Feiern und Ausstellungen nicht nur in Litauen, sondern auch im Quedlinburger Schloss und im Roten Rathaus in Berlin.
Sie wiesen auf den Behauptungswillen der Litauer, die sich immer wieder gegen Fremdherrschaft wehren mussten. Nach dem Großfürstentum und den Phasen der Besetzungen kamen die beiden neuerlichen Erklärungen der Unabhängigkeit 1918 und wieder 1991. Wie stark dieser Wille war, zeigte sich nicht zuletzt Anfang der Fünfziger, als etwa 100 000 Partisanen sich vergeblich gegen die sowjetische Besatzungsmacht wehrten.
Nicht nur mit Quedlinburg, der „Wiege Deutschlands“, gibt es enge Bande zwischen Litauen und Orten im weiteren Umfeld des Harzes. Vilnius und Kaunas hatten wie andere Städte Mitteleuropas das „Magdeburger Recht“ übernommen. Auch die Sammlung der Bibliotheca Augusta, der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, hat Bestände, die für die litauische Forschung und für deutsche Baltisten (die sich traditionell stärker dem Litauischen und dem Altprussischen zuwenden als dem Lettischen) von einiger Bedeutung ist. Sichtbar wird das nicht zuletzt in der Zeitschrift „Archivum Lithuanicum“, in der umfangreiche Beiträge zu der litauischen „Wolfenbütteler Postille“ von 1573 erscheinen – diese wurde ediert und gedruckt in zwei Bänden, zusammen 1 700 Seiten lang. Da die dort gesammelten lutherischen Predigttexte umfangreich und früh sind, zählen sie zu den wichtigsten Texten für Sprachwissenschaftler, Theologen und Kulturwissenschaftler zugleich. Zu den digital zugänglichen Wolfenbütteler Beständen zählt das „Religionsgespräch in Vilnius“ von 1585.
Der Wolfenbütteler Bibliotheksbegründer August der Jüngere hatte viele der Bücher noch selber erfasst und in seinen Bücherradkatalog eingetragen – als einen der letzten persönlich eingeschriebenen Texte eben die litauische Postille. Dass die herzoglichen Sammler sich Litauen besonders zuwandten und nach Werken suchten, war wohl eine Folge von Briefen, die mit dem Geschenk der litauischen Grammatik von Daniel Klein von 1653/1654 die litauische Sprache erläuterten.
Doppelbödige Schwermut in der Literatur
Ohne Ankündigung, nur wenigen Vertrauten bekannt, kam ein Dichter 1989 aus Los Angeles nach Vilnius. Binnen Kurzem aber, noch unter sowjetischer Besetzung, hörten viele Zehntausend seinen Lesungen zu, zunächst in Parks, dann im Sportpalast oder im Opernhaus von Vilnius. Viele Ältere kamen mit versteckten und verknitterten Gedichtbänden aus der Zeit vor fünfundvierzig Jahren, bevor Bernardas Brazdzionis, den seine Landsleute jetzt wie einen Propheten begrüßten, fliehen musste. Die Fülle von Ausstellungen, Jazzkonzerten, Lesungen damals wie jetzt belegt einen kulturellen Hunger, eine Dichte, die nicht oft zu finden ist bei einer solch kleinen Bevölkerung von 3,3 Millionen – weniger als Rheinland-Pfalz oder El Salvador.
Die Geschichte der ersten Heimkehr von Brazdzionis zeigt mancherlei: In Vilnius verdichtet sich Kultur seit vielen Jahrhunderten. In den Jahren der Okkupation halfen Sprache und Literatur, nationalen Widerstand aufrechtzuerhalten. Und schließlich: Die Literatur Litauens ist zersplittert. Etwa die Hälfte aller bedeutenden Romane und Dichtungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstand im Exil, und ziemlich genau die Hälfte aller Schriftsteller floh 1944 vor den Russen nach Deutschland oder Amerika. Schon zuvor hatte Litauen Aderlasse des Geisteslebens durch Fluchtbewegungen – die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer etwa entstammt einer Familie aus der Grenzregion von Lettland und Litauen – und durch die Vernichtung der litauischen Juden durch Nationalsozialisten und ihre litauischen Gehilfen erdulden müssen. Wie reich die litauische Literatur aber war und ist, zeigen Adam Mickiewicz und Czesław Miłosz (dem sich die Internationale Buchmesse in Vilnius 2011 zuwandte in Gedenken an seine Geburt vor hundert Jahren): Die überragenden polnischsprachigen Dichter des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen sich beide als Litauer, und beide haben an der Universität Vilnius studiert.
Dennoch ist die litauische Literatur im Ausland wenig bekannt. Das wurde nur unwesentlich anders, nachdem Litauen 2002 als erstes „kleines“ Land Partner der Frankfurter Buchmesse war. Dabei kann die litauische Sprache auf eine lange Tradition verweisen. Die Universität Vilnius wurde 1579 gegründet. Schon sechzig Jahre zuvor, achtzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa, entstand in der Stadt eine Druckerei. Manches wird eher in der Ferne bewahrt: Eine gut vierhundert Jahre alte litauische Bibel wurde erstmals 2002 im Ursprungsland ausgestellt – das Original liegt im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin.
In den ersten Jahrhunderten wurden die meisten in Litauen erschienenen Bücher in einer slawischen Sprache oder auf Latein publiziert. Reich war das Litauische, obwohl es nie ein Nationalepos besaß, anfangs vor allem an Volksliedern und Märchen. Erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einhergehend mit der Wiedergeburt des litauischen Nationalismus, entstand eine breitere weltliche Dichtung. Fast zur gleichen Zeit befürchteten Sprachwissenschaftler einen Untergang des Litauischen wie des Altpreußischen. Einen Aufschwung erlebte die Literatur in den Jahren der Unabhängigkeit Litauens seit 1918, in denen in Vilnius zahlreiche literarische Magazine entstanden. Unterbrochen wurde das durch die sowjetische Besetzung 1940. Die bekanntesten Autoren lebten fortan in den Vereinigten Staaten und in vielen Ländern Europas, Tomas Venclova etwa, der in Yale russische Literatur lehrt, oder der Poet und Filmemacher Jonas Mekas. Manche kehrten nach 1991 zurück. Einer der bekanntesten Exildichter ist Antanas Skema. Zu den bedeutendsten jüngeren Autoren wird die 2007 verstorbene Novellistin Jurga Ivanauskaite gezählt – sie gehört zu den wenigen, deren Kurzgeschichten und Novellen in anderen europäischen Sprachen zugänglich sind. Die Helden Ivanauskaites sind junge Künstler, die nach einem Sinn im Leben suchen und die Gesellschaft umgestalten wollen. Einer der beliebtesten Autoren ist Ricardas Gavelis, der die sowjetische Mentalität und später die „neue Elite“ – auch wundersam zu „Freiheitskämpfern“ gewandelte Altkommunisten – verspottet.
Zu den Eigentümlichkeiten jener, die in Litauen blieben, zählen Schwermut in der Poesie und der Versuch, mit doppeldeutigen Formulierungen und Andeutungen die Zensur zu überlisten. Über die Geschichte des Widerstands gibt es in den Jahren der Freiheit in Litauen noch kein bedeutendes literarisches Werk, auch große historische Themen fehlen in der zeitgenössischen Romanliteratur. Die beste Einsicht in die polnisch-litauische Geistesgeschichte und Mentalität ist beim in Litauen geborenen polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu finden, nicht bei litauischen Poeten. Viele wichen auf Kinderliteratur aus. In den letzten beiden Jahrzehnten erlebte die Literatur einen neuen Aufschwung, begünstigt durch die wiedererlangte Freiheit, das Wegfallen der Zensur, das Entstehen eines privaten Verlagswesens, den unbehinderten Austausch mit den Ideen des Westens und schließlich durch die Rückkehr vieler Exildichter.
Sichtbar wurde dieser Austausch in einer rasanten Zunahme an Übersetzungen ausländischer Literatur ins Litauische, vor allem aus dem Deutschen. Der alte Buchladen im Innenhof der Universität in Vilnius lässt staunen: nicht nur wegen seiner historischen Ausstattung und Bemalung, sondern auch wegen der Bücher auf den Verkaufsregalen. Meter über Meter vertraute deutsche Autoren, übersetzt ins Litauische. Kaum ein Werk der Klassik oder der klassischen Moderne scheint zu fehlen, aber auch Karl Mays „Sohn des Bärenjägers“, Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ und Erich Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“ stehen dort. Kästner war wie Erich Maria Remarque oder Hermann Hesse schon vorher Bestseller. Nun kamen jüngere Autoren dazu. Vor einiger Zeit erschienen Übersetzungen von Robert Walser und Patrick Süskind, Bernhard Schlink und Michael Krüger. In der Nationalbibliothek gibt es einen Herder-Lesesaal mit deutschen Übersetzungen. Das Goethe-Institut in Vilnius und die Klassik Stiftung Weimar halfen bei einer Neuübersetzung und Aufführung des „Faust“. Selbst Eckermanns Gespräche mit Goethe sind auf Litauisch erschienen.
Dies starke Interesse in Litauen an deutscher Literatur, vielfach größer als in Estland, das kulturell und historisch Deutschland näher ist, beruht vielleicht auf der Grenznähe zum alten Ostpreußen, oder auch darauf, dass Litauen anders als Lettland schon früh einen Lehrstuhl für Übersetzer einrichtete. Die deutschsprachige Baltistik hat eine lange Tradition, und sie hat sich auf das Litauische konzentriert, weit stärker als auf das Lettische oder das ausgestorbene Altpreußische. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf der Linguistik statt auf der Literaturwissenschaft. Es scheint in Litauen mehr Jahrbücher, wissenschaftliche Zeitschriften und Studienreihen zur Linguistik zu geben denn zur Politik oder Wirtschaft, und fast jede enthält einen deutschsprachigen Text oder zumindest eine übersetzte Kurzfassung. Verwunderlich ist daher das Fehlen eines großen aktuellen deutsch-litauischen Wörterbuchs. Dabei gab es schon vor mehr als 300 Jahren dazu Vorarbeiten: Ende der Neunziger erschien in Vilnius eine vierbändige Faksimileausgabe eines wohl 1680 entstandenen, 1945 in Ostpreußen entdeckten handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbuches, etwa 2 500 Seiten stark.
Umso ernüchternder ist, trotz leichter Zunahme, das geringe Interesse an litauischer Literatur in Deutschland. Der wohl bedeutendste literarische Verlag Litauens, Baltos Lankos, publizierte zweisprachige Gedichtbände von Aldona Gustas, die seit 1945 in Berlin lebt – „mit Taschen voller Wortkram / In litauischen und deutschen Lauten / denke ich was später / auf der Zunge schmilzt / im Ohr stirbt“ –, und von Sigitas Geda, einem der wichtigsten Vertreter moderner litauischer Lyrik. Bei Baltos Lankos erscheinen auch Venclova und Mekas. Viele schöne Briefe habe es nach der Frankfurter Buchmesse an den Sondergast gegeben – aber mehr auch nicht, so die Koordinatorin des Litauischen Buchverbandes. Ein Grund: Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die litauische Literatur ist auch schmal. Der Vorsitzende des Litauischen Verlegerverbandes bemerkt selbstkritisch, ein Grund für das geringe Interesse sei schlicht, dass vieles in der litauischen Literatur nicht gut sei: Wie viele warte auch er auf gute Bücher.
Einen bemerkenswerten Austausch eines verborgenen Schatzes brachte die berührende deutsche Veröffentlichung des „Tagebuchs für Lyda“ des deutschen Komponisten Edwin Geist, das jahrzehntelang in Litauen versteckt aufbewahrt wurde. Als der wegen seiner Abstammung von den Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegte Komponist 1938 nach Litauen emigrierte, verliebte er sich in die jüdische Pianistin Lyda. Weil er um seine Frau kämpfte, wurde er Ende 1942 von der Gestapo erschossen, Lyda beging Selbstmord. In Deutschland blieb Geist bis 2002 unbekannt – da inszenierte Vladimir Tarasov, Vater des litauischen Jazz, Geists Oper „Heimkehr des Dionysos“. Die Uraufführung in Vilnius kam sechzig Jahre nach seiner Ermordung.
Jene, die auf einen neuen Aufschwung der Buchkultur wie in den Dreißigerjahren oder auch wie beim rasanten Scheinaufschwung direkt nach der Befreiung von der Sowjetunion gehofft hatten, wurden enttäuscht. Noch immer sind Touristen, die in Vilnius Reiseführer und Bildbände erwerben, für litauische Verlage ein wichtigerer Markt als die geringen Bücherexporte. Die je nach Definition sechzig bis sechshundert Verlage konzentrieren sich auf den Heimatmarkt. Die schwankenden Angaben sind Beleg für die Umschwünge, die das litauische Verlagswesen erlebt hat. Sechshundert Verlage haben eine Verlagslizenz – jeder sechstausendste Litauer besitzt also einen eigenen Verlag. Aber nur gut vierhundert geben wenigstens ein Buch im Jahr heraus, und zwanzig Verlage vereinen vier Fünftel aller Buchtitel auf sich. Erfolgreiche Bücher erreichten vor 1990 eine Auflage bis zu hunderttausend Exemplaren; jetzt gilt ein Buch schon als Bestseller, wenn es in kurzer Zeit sechstausendmal verkauft wird. Buchverkäufe sanken im Vergleich zum Vorjahr 2008 um gut zehn Prozent, 2009 gar um 25 Prozent. Verlage kämpfen um ihr Überleben, zumal eine klare staatliche Verlagspolitik fehlt und Staatsgelder für Bibliotheksetats gekappt wurden – zwischen 2008 und 2010 sanken diese auf ein Zehntel. 1991 erschien noch eine Gesamtauflage von 25 Millionen Büchern bei 3,5 Millionen Litauern, zehn Jahre später waren es noch zehn Millionen. Immerhin liegt die Zahl neuer Titel gemessen an der Bevölkerung noch immer deutlich über jener anderer Reformländer des Ostens wie Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.