Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 7
4. Die Architektur des Lateins
Nachdem im vorherigen Kapitel zur Methodik der Vorgehensweise die beiden Untersuchungsebenen für die vorliegende Analyse der frühneuzeitlichen Traktatliteratur vorgestellt wurden (cf. Kap. 3) und dabei im Rahmen der varietäten- und soziolinguistischen Theorie auch ein Entwurf für ein allgemein applizierbares diasystematisches Beschreibungsmodell ausgearbeitet wurde (Kap. 3.1.3), soll nun im Folgenden eine Bestandsaufnahme der Architektur des Lateins geleistet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch, die Varietätenvielfalt des Lateins in der Antike aus moderner linguistischer Perspektive so adäquat wie möglich zu erfassen und zu beschreiben.
Der Fokus sei dabei auf das Latein der Antike gerichtet, also aus soziolinguistischer Perspektive auf seine Entwicklung bezüglich des Ausbaus als lingua viva und sein Verhältnis zu den Kontaktsprachen (Diglossie, Mehrsprachigkeit) sowie aus varietätenlinguistischer Perspektive auf seine Architektur. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht wie in der Literaturgeschichte auf der Zeit des Klassischen und Nachklassischen Lateins, sondern auf der Entstehungsphase, in der die Herausbildung von bestimmten schriftsprachlichen Diskurstraditionen und der damit zusammenhängende erste Ausbau der Sprache stattfindet (cf. Kap. 4.1).148
Weieterhin soll aber auch ein Ausblick gegeben werden auf die weitere Geschichte – d.h. in erster Linie externe – des Lateinischen im Mittelalter, seinen Übergang von einer lebendigen Sprache zu einer immer weiter erstarrenden, d.h. seine Transformation von einer lingua viva in eine lingua morta viva bzw. später in eine lingua morta (cf. Kap. 4.2).149
Im Rahmen dieses Versuches, die aktuellen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage der Differenziertheit des Lateins auf verschiedenen diasystematischen Ebenen zu synthetisieren, soll schließlich zur Verdeutlichung der zuvor entworfene Beschreibungsrahmen, der auf der Basis der Modelle von Coseriu und Koch/Oesterreicher beruht (cf. Kap. 3.1.3), auf die Situation des antiken Lateins angewandt werden (cf. Kap. 4.3).
4.1 Lingua viva: Latein in der Antike
Die lateinische Sprache ist Teil des italischen Sprachzweigs der indogermanischen Sprachfamilie, der sich weiter in eine latino-faliskische und eine osko-umbrische (sabellische) Untergruppe aufgliedern läßt. Die Sprachen der Italiker, die im Zuge der sukzessiven Landnahme der Indoeuropäer den geographischen Raum der italienischen Halbinsel besiedelten und die bereits bestehenden altmediterranen Sprachen und Kulturen marginalisierten, differenzierten sich vermutlich zwischen dem 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. aus (cf. Haarmann 2010:65), werden aber erst durch ihre ersten schriftlichen Zeugnisse wirklich faßbar und kategorisierbar: Das Venetische ist ab dem 6. Jh. v. Chr. in Inschriften dokumentiert,150 das Oskische ab dem 3. Jh. v. Chr, das Umbrische ab dem 3.–2. Jh. v. Chr, das Südpikenische ab dem 6. Jh. v. Chr., das Faliskische ebenso wie das Latein in gleicher Weise ab dem 6. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002:32–34; E 427–430).151 Alle weiteren italischen Sprachen und Varietäten bleiben (weitgehend) schriftlos.152
Das Lateinische hat zu Beginn seiner für uns faßbaren Sprachgeschichte eine äußerst begrenzte Reichweite, fungiert es doch im Wesentlichen allein als Muttersprache einer relativ kleinen Sprechergruppe, den Latinern (lat. Latini), die den Namen der ihnen zugehörigen Landschaft Latium tragen,153 doch diese nur zu einem Teil besiedeln. Im Süden sind sie begrenzt durch die Rutiler (lat. Rutili), Volsker (lat. Volsci) und Aurunker (lat. Aurunci), dahinter im Südosten durch die Samniten (lat. Samnites), im Osten durch die Sabiner (lat. Sabini), Äquer (lat. Aequi), Marser (lat. Marsi) und Herniker (lat. Hernici), im Norden durch die Falisker (lat. Falisci) und vor allem die Etrusker (lat. Etrusci, Tusci), die militärisch wie kulturell in Mittelitalien dominierend waren (8.–4. Jh. v. Chr.) und bei der Stadtwerdung von Rom (etrusk. Ruma) einen entscheidenden Anteil hatten.154
Im Zentrum des Interesses soll hier jedoch nicht die Diskussion um die Anfänge des Lateinischen oder die Datierung einer Ausgliederung aus dem Indogermanischen stehen, sondern es soll damit vielmehr auf die ungeheure Dynamik des Lateinischen verwiesen werden, welches sich von einer begrenzten Lokalvarietät weniger Sprecher zu einer vollausgebauten Schriftsprache entwickelt hat, zu einer Herrschaftssprache, die im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche andere Sprachen und Varietäten überdacht hat und nach der koiné des Griechischen zur wichtigsten lingua franca des sogenannten klassischen Altertums wurde. Neben der Entwicklung hinsichtlich ihres Ausbaugrades und der Zunahme der Sprecher – sowohl der native speakers als auch solcher, die es als Verkehrssprache verwendeten – sei auch auf den Zeitraum des Aufstiegs verwiesen. Dabei deckt sich die sprachliche Entwicklungszeitspanne weitgehend mit der politischen, ganz nach dem Diktum Nebrijas (2011:3) „que siempre la lengua fue compañera del imperio“:
Fundiert man das mythische Gründungsdatum Roms (753 v. Chr.) archäologisch, so bekommt man ein ab urbe condita, welches ca. im 8./7. Jh. v. Chr. anzusetzen ist;155 die Expansion beginnt ab dem 5. Jh. v. Chr. und ist bis ins 3./2. Jh. v. Chr. zunächst auf Italien beschränkt, bevor dann vor allem auf Herrschaftsgebiete rund um das spätere mare nostrum ausgegriffen wird. Die größte Ausdehnung erreicht das Imperium Romanum in den Jahren 115–117 n. Chr. unter Trajan (Nerva Traianus Augustus, 98–117 n. Chr.), der durch weitreichende Eroberungen die Provinzen Dacia (106), Arabia (106), Armenia (114–117), Mesoptomia (115–117) und Assyria (115–117) einrichten konnte.156 Wichtige Etappen bzgl. sozio-politischer Veränderungen sind im Folgenden vor allem die Reichsreform (Tetrarchie, Dominat) unter Diokletian (Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, 284–305 n. Chr.) und Konstantin (Flavius Valerius Aurelius Constantinus, 306–337 n. Chr.) sowie die Reichsteilung nach Theodosius (Flavius Theodosius, 379–395 n. Chr.) im Jahre 395 n. Chr. mit je entsprechender neuer Provinzialordnung. Sein formales Ende findet das weströmische, lateinisch geprägte Reich, welches ab dem 3./4. Jh. n. Chr. der beginnenden Völkerwanderung und zunehmenden innenpolitischen Wirren ausgesetzt ist, schließlich im Jahre 476 n. Chr. mit der Abdankung des letzten Kaisers Romulus Augustulus (475–476 n. Chr.).
Die sprachliche Parallele besteht darin, daß die ersten schriftlichen Zeugnisse bereits kurze Zeit nach der Stadtgründung auftreten (7./6. Jh. v. Chr.), erste längere Inschriften ab dem 5./4. Jh. v. Chr., literarische Texte ab dem 3. Jh. v. Chr. und das Latein seinen vermutlich größten Ausbaugrad in der klassischen und nachklassischen Periode der lateinischen Literatur erreichte (ca. 1. Jh. v. Chr.-2. Jh. n. Chr.). Der Prozeß der Romanisierung und Latinisierung, also die kulturelle und sprachliche Durchdringung der eroberten Gesellschaften, der in Italien selbst bis ins 1. Jh. v. Chr. dauerte,157 intensivierte sich in den anderen Provinzen oft erst ab dem 2./3. Jh. und war in manchen Regionen hingegen erst gegen Ende des Imperium abgeschlossen ist (3.–5. Jh.).158
Hiermit soll deutlich gemacht werden, daß man der internen Variabilität und der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Lateins der Antike nicht gerecht würde, es als eine synchrone Einheit darzustellen – dies wäre höchstens in Bezug auf das klassische Latein denkbar, welches sich innerhalb einer relativ kurzen Periode zu einer Norm- und Standardsprache entwickelte (ca. 100 Jahre).159 Das Lateinische umfaßt schließlich eine Zeitspanne von wenigstens 1200 Jahren, in der sich die Sprache sowohl in Bezug auf ihre Natur (Struktur, Lexikon, Stratifikation) als auch hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft maßgeblich gewandelt hat.
4.1.1 Die Periodisierung
Bevor nun die hier zentrale Frage nach den Varietätendimensionen des Lateins aufgegriffen wird, sei zuvor noch kurz ein Überblick über die Periodisierung der Sprache in historischer Zeit gegeben und damit auch gleichzeitig die historische Dimension des Lateinischen hervorgehoben. Die verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte seien mit geringen Abweichungen im Wesentlichen nach dem verbreiteten Periodisierungsmodell von Meiser (2010:2, § 2) dargestellt (cf. Steinbauer 2003:509–514; Michel 2005:183–184; Müller-Lancé 2006; 21–45; Willms 2013:223), welches zwar vor allem auf syntaktischen und stilistischen Veränderungen basiert (cf. Willms 2013:223), sich damit aber auch mit den traditionellen literarischen Epochen in Einklang befindet, so daß hier kanoniserte Periodisierung mit einigen linguistischen Fakten untermauert wird. Bei anderen mehr oder weniger stark davon abweichenden Modellen ist meist insbesondere die Periode des klassischen Lateins zeitlich divergierend verortet, d.h. über das augusteische Zeitalter hinaus bis ins 3./4. Jh. n. Chr. (cf. Weiss 2009:23) oder gar bis um 400 n. Chr. (cf. Dietrich/Geckeler 2007:130 bzw. Coseriu 1987:264) ausgedehnt.
Die Frage, ab wann das Spätlatein einerseits in das Romanische und andererseits ins Mittellatein überging, ist wiederum eher Gegenstand einer anderen Diskussion, die vornehmlich die Romanistik und Vulgärlateinforschung beschäftigt (cf. Kap. 4.2).
4.1.1.1 Frühlatein
Die erste Phase der lateinischen Sprachgeschichte wird meistens als ‚Frühlatein‘160 bezeichnet und umfaßt die Zeit von den ersten schriftlichen Zeugnissen bis zum Beginn der literarischen Textproduktion, woraus sich eine Datierung vom ca. 7./6. Jh. – 240 v. Chr. ergibt. Voraussetzung für die Verschriftung des Lateins war die Übernahme der Alphabetschrift von den Etruskern, deren Schriftsystem wiederum auf ein westgriechisches zurückgeht, nämlich das euböisch-chalkidische (cf. Aigner-Foresti 2003:18; Haarmann 2004:66). Die Übernahme des etruskischen Alphabets durch die Römer und dessen Weiterentwicklung auch unter direktem griechischen Einfluß (cf. Brekle 1994:185) zu einem eigenen lateinischen Alphabet, welches der zu verschriftenden Sprache möglichst gerecht wird, ist dabei eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung für die westliche Welt, wenn man aus einer ex post-Perspektive die heutige Verbreitung dieser Alphabetschrift und die damit geschaffene Literatur und ihre Verwendung bei Gebrauchstexten betrachtet.
Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua, links- oder rechtsläufig, verfaßt – manche auch boustrophedon – und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d.h. z.B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klassifizieren sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:191–192; Brekle 1994:185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Manios-Spange (Fibula Praenestina, 7. Jh. v. Chr.),161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.),162 die Cista Ficoroni (cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996:3; Meiser 2010:2–9, § 2–5).163
Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz (Leges duodecim tabularum), der erste längere zusammenhängende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne (rostra) vor dem Senatsgebäude (curia) am Forum Romanum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkatastrophe (dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpassagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros (Marcus Tullius Cicero, 106–43 v. Chr.; De re publica, De legibus) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d.h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990:67; Steinbauer 2003:511).
Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina salinaria und des carmen arvale. Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Priesterkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV:1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I:180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in verschiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z.B. Varro, De ling. lat. VII, 26, 27; 1958 I:292–294).164
Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Gesellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der faliskischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt entwickelt:
Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti/Poli/Santini 2005:65)
Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latinischem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum), als auch lateinische (Tita Vendia-Vase in Caere) und altitalische (Setums-Krater in Tolfa) auf etruskischem Territorium sowie griechische (Gabii) und phönizische (Caere-Pyrgi) in beiden Regionen.165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z.B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius) der stadtrömischen Geschichte (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:64–68). Die wie Meier-Brügger (2002:32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um plurilinguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme.166
Poccetti/Poli/Santini (2005:66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom sowohl eine sabinische167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkulturationsprozessen, wie z.B. der Alphabetisierung (ibid.:76).
Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen Interferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standardsprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius (IX, 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).
Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen Modells von Ferguson (1959) und Fishman (1967) zu erfassen, so ergeben sich mehrere low-varieties mit dem wohl mehrheitlich verwendeten Latein sowie weiteren italischen Sprachen (Faliskisch, Sabinisch bevor sie vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Etruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „internationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach verschriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literarischen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann.
Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996:510–511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert,168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „verblüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit,169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken.
Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch relativ klar nachzeichnen, daß die ersten Schriftprodukte des Lateinischen im Rahmen von verschiedenen bereits etablierten Diskurstraditionen entstanden sind, es sich dabei jedoch um eine Verschiebung der Sprache und/oder von der Mündlichkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit vollzogen hat.
Die wichtigsten Diskurstraditionen werden dabei von der im östlichen Mittelmeer und Vorderen Orient dominierenden griechischen Kultur übernommen, und zwar bereits vor der Zeit des Hellenismus, in der griechische Staaten politische Großmächte wurden. Es scheint wohl kein Zufall, daß der Beginn der griechischen Kolonisation (ab ca. 750 v. Chr.) mit dem Beginn der Schriftlichkeit in Italien zusammenfällt, denn der daraus entstehende Kultur- und Sprachkontakt ist in dieser Hinsicht entscheidend. Im Bewußtsein der Römer sind die Griechen nicht nur Nachbarn in der Magna Graecia (Μεγάλη ʾΕλλάς),170 sondern übergeordnete Referenzkultur mit dem Zentrum in Griechenland selbst; aber auch die Griechen selbst vereinnahmen Rom als πόλις ʾΕλληνίς (Herakleides Pontikos, Fr. 102) und sehen die Völker Italiens als Teil ihres Kosmos.
Die Übernahme von Diskurstraditionen durch die Römer bzw. Latiner sei dabei zunächst anhand von zwei Beispielen der frühesten Schriftlichkeit illustriert: So zeitigt ein Tonkrug (Ende 7. Jh. v. Chr.) aus der latinischen Stadt Gabii die lateinische Inschrift salvetod Tita (‚zum Wohl/auf das Wohl von Tita‘), was im Zuge eines convivium wohl als an eine Frau gerichtetes Hochzeitsgeschenk zu interpretieren ist. Der Brauch des wohlmeinenden Grußes auf einem Trinkgefäß ist auch durch ähnliche griechische Funde in Lavinium und Rom dokumentiert, wobei die Aufschrift hier χαῖρε (‚seid gegrüßt‘) lautet. Auch wenn hier die Diskurstradition in ihrer konkreten sprachlichen Realisierung nur aus ein bis zwei Lexemen besteht, ist sie doch als eine solche anzusehen, da hier eine gewisse nicht zufällige Formelhaftigkeit im Sinne einer Wiedergebrauchsrede dokumentiert ist.
Auch im Text der Inschrift des Duenos-Gefäßes, eines der ältesten Dokumente des Lateinischen, finden sich sprachliche Elemente, die auf eine griechische Vorlage deuten, und zwar gemahnt einerseits das duenos (lat. bonus) an die griechische Formel171 καλός καὶ ἀγαθός und die Zweigliedrigkeit der Konstruktion mit duenos …duenoi entspricht Verschriftungen auf griechischen Gefäßen mit καλός …καλῷ, und andererseits ist auch die Schlußformel ne med malos tatod an eine ähnliche apotropäische bei griechischen Funden angelehnt (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:97–98).
Bezüglich des ersten längeren und bereits elaborierten Text, des Zwölftafelgesetzes, verweist die römische Tradition der Entstehung selbst explizit darauf, daß man sich bei der Konzeption von Gesetzestexten verschiedener griechischer poleis hat inspirieren lassen, insbesondere von denen Solons in Athen, zu welchem Zweck vom Senat eine Zehnmännerkollegium (decemviri) ausgesandt wurde. Auch sprachlicher Einfluß wie die lexikalischen Entlehnungen dolus (δόλος) oder poena (ποινή) sowie syntaktische Übereinstimmungen dokumentieren das diskurstraditionelle Vorbildmodell im griechischen Kulturraum.
Da es sich bei den genannten Beispielen, auch denen aus den frühen Inschriften, keinesfalls um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, sondern um tragende Versprachlichungsstrategien bestimmter Kommunikationsformen (cf. die Exempla supra), ist es hier durchaus legitim, von der Übernahme von Diskurstraditionen zu sprechen. Der dafür notwendige Kultur- und Sprachkontakt im Sinne einer Prämisse für die Tradierung von Diskurstraditionen läßt sich insofern belegen, als das Griechische nicht nur an sich früher verschriftet (und verschriftlicht) wurde, sondern auch in Latium die griechischen Schriftzeugnisse vor den lateinischen nachweisbar sind, so z.B. in Gabii (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) und auch in Rom selbst (7. Jh. v. Chr.), aber auch rein sprachlich gesehen an den Gräzismen, die schon in der ersten lateinischen Dokumenten auftreten (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:98–99).172
Ein anderer Entstehungsstrang der frühen lateinischen Zeugnisse ist auf italische bzw. italisch-etruskische Diskurstraditionen zurückzuführen. Für den Bereich des Rechts, der erstmals in den genannten 12 leges seinen Niederschlag fand, ist eine von Rechtsformeln- und -verfahren bestimmte mündliche Diskurstradition zu konstatieren, die lateinischen bzw. italischen Ursprung hat. Dies ist u.a. an der Etymologie und Verwendungsweise einzelner Fachtermini ersichtlich. Das mündliche Element der lateinischen Rechtsprechung schwingt in Lexemen und Ausdrücken wie ius dicere, testamentum nuncupare, provocatio, appellatio oder advocatus mit sowie in solchen, die die Gestik zum Gegenstand haben, wie z.B. manu missio. Diese „versteckte“ Mündlichkeit läßt auf eine Rechtstradition mit festgelegten Verfahren und sprachlichen Formeln schließen, die bereits vor der Schriftlichkeit existiert haben, dann aber in den Verschriftlichungsprozeß miteingeflossen sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:205–206).
Eine weitere Art der diskurstraditionellen origo der lateinischen Schriftlichkeit ist im religiös-rituellen Bereich der italischen Kultur zu verorten, und zwar im carmen. Diese Art des Gebets besteht üblicherweise aus einem rezitativ-rhythmischen Gesang, der mit einer Prozession oder Tanzdarbietung einhergeht. Auch hier liegen die Wurzeln in der Mündlichkeit, wobei hier von einer „distanzsprachlichen, elaborierten Mündlichkeit“ (Koch/Oesterreicher 1985:31) auszugehen ist,173 die einerseits fortgeführt wird, andererseits aber auch der schriftlichen Fixierung unterliegen kann (cf. carmen Arvale, carmina salinaria, carmen von Livius Andronicus an Iuno regina, v. infra) (cf. Gärtner 1990:101; Poccetti/Poli/Santini 2005:215–217).174
Ebenfalls im religiösen Bereich anzusiedeln ist der im etruskischen, samnitischen und römischen Umfeld anzutreffende Brauch der libri lintei (nicht erhalten), listenartige Zusammenstellungen der Amtspersonen sowie weitere kurze Ausführungen, die die Grundlage der späteren Annalistik bildeten. Die tabulae Iguvinae (6.–1. Jh. v. Chr.)175 enthalten Sühne- und Reinigungsformeln, stehen also auch in einem Kontext einer etruskisch-italischen Diskurstradition bezüglich religiöser, ritualisierter Texte, die zunächst mündlich (z.B. pompa funebris), später schriftlich konzeptionalisiert wurden (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:219; Albrecht 2012 I:314–315).176
Resümiert man nun noch einmal die Frage nach dem Ausbau des Frühlateins, so ist festzustellen, daß die ersten Zeugnisse zum einen nur bestimmte Bereiche mit spezifischen Textsorten abdecken (Jus: Gesetztestexte; Religion: Weihegeschenke, Grabinschriften, Kultlieder), andererseits dort aber partiell bereits einen gewissen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, der sich auf der Übernahme von schon vorhandenen Diskurstraditionen gründet, und zwar mündlichen wie schriftlichen, etruskisch-italischen und auch griechischen.
Charakteristisch für die Frühzeit ist also parallel zu den Prozessen die Koch/Oesterreicher (2011:136) in Anlehnung an Kloss für die romanischen Sprachen herausgearbeitet haben, die Erarbeitung erster Distanzdiskurstraditionen im Rahmen eines extensiven Ausbaus der Sprache und dem damit verbundenen intensiven Ausbau, d.h. der Erweiterung der Ausdrucksmittel. Bezüglich des Ausbaugrades ist zunächst noch von einem insgesamt eher niedrigen auszugehen, auch wenn bereits gewisse Ansätze sprachlicher Elaboriertheit in bestimmten Kontexten auftreten. In Anlehnung an die bei Krefeld (1988:749–750) beschriebene „Vorausbaustufe“ und die bei Kloss (1987:304) für die deutschen Varietäten beschriebenen Phasen muß man das Lateinische dieser Epoche entsprechend der Art der auftretenden Schriftlichkeit zwischen zunächst Vorausbau und dann erster Ausbauphase situieren.