Kitabı oku: «Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua», sayfa 18
Dabei wird zwischen einem litteratus und einem illit(t)eratus unterschieden (cf. Kap. 6.2.3.1), was sich zuvorderst auf die Lese- und Schreibfähigkeit bezieht. Diese Opposition referiert zunächst auf verschiedene Fähigkeiten innerhalb des Klerikerstandes, zu Beginn ohne weitere soziale Disktinktion, denn es war durchaus üblich, daß man sich in gehobener Position Personal für diese Tätigkeit hielt.
Obendrein waren Lesen und Schreiben im Mittelalter separate kognitive Prozesse, bei denen das Lesen die Grundlage bildete. Selbst wer gelernt hatte, Buchstaben und Texte zu entziffern und zu verstehen, musste nicht mit der eigenen Hand schreiben können; dies setzte eine eigene Übung voraus. Umgekehrt dürfte der Schreibkundige auch in der Lage gewesen sein zu lesen. Das lateinische Wort illiteratus (von littera „Buchstabe“) zielte nicht auf den Analphabeten im heutigen Sinne, sondern auf hohe Geistliche, die trotz ihre Ranges und ihrer Funktion nicht lesen konnten. Demgegenüber bezeichnete litteratus den Gebildeten im Sinne des Belesenen. Bildung und Schreibfähigkeit waren zweierlei. (Müller 2015:133)
Das Lesen war zunächst Teil der monastischen Kultur, es gehörte zum studium legendi, dem Lernen durch Lesen, welches in einem ersten Schritt die cogitatio und in einem zweiten die meditatio, also ein intensiveres Nachdenken über das Gelesene beinhaltete. Das Lesen in der Klostergemeinschaft konnte eigenständig sein (sibi legere) oder für andere (clara lectio), oftmals gefolgt von der ruminatio, ein Murmeln, bei dem man das Gelesene sich nochmals genauer memorierte und einverleibte (cf. Gauger 1994:74). Die Lese- und Schreibfähigkeit war also zunächst eng mit dem (monastischen) Kleriker verbunden, so daß die Opposition litteratus vs. illiteratus auch den Gegensatz clericus vs. laicus widerspiegeln konnte.
Erst später mit der Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten auf etwas größere Teile des Bürgertums (14./15. Jh.) (v. supra: Pfarrschulen, Kathedralschulen, Universitäten) wurde der Begriff litteratus auch auf Laien mit mehr oder weniger hohem Bildungsgrad ausgedehnt (cf. auch: eruditus, sapiens). Damit ging nach und nach auch eine gesellschaftliche Differenzierung einher, so daß sich in dieser Dichotomie auch die gesellschaftlichen Unterschiede widerspiegelten (cf. Müller 2015:133, 171). Die Analphabetenrate blieb trotzdem weiterhin hoch, denn um 1500 kann man beispielsweise für Deutschland annehmen, daß nur ca. 5 % der Stadtbevölkerung eine Lesefähigkeit hatten, d.h. ca. 1 % der Gesamtbevölkerung (max. 3–4 %). Der Anteil derer, die regelmäßig lesen, war dabei noch geringer; es handelte sich zudem hauptsächlich um solche Personen, die aus Berufsgründen lesen, d.h. vor allem religiöse Literatur sowie Fachliteratur (cf. Gauger 1994:76).
Hinzu kommt eine weitere Konnotation, die mit litteratus verknüpft ist, nämlich die Sprachkompetenz (im Lateinischen) sowie Kenntnis in der Literatur und die Befähigung solche auch selbst produzieren zu können:
Das Wort litteratura bedeutet also zunächst nicht Literatur in unserem Sinne; der litteratus ist ein Kenner der Grammatik und der Poesie (wie der lettré in Frankreich), aber nicht notwendigerweise Schriftsteller. (Curtius 1993:52, § 3)
Die Tatsache, daß das Trivium innerhalb eines Grundstudiums meist ausführlicher betrieben wurde als das Quadrivium, und innerhalb der sieben artes der Grammatik eine besondere Stellung zukam, zeigt sich beispielsweise am reinen Umfang, die diese innerhalb der Etymologiae (Origines) des Isidor von Sevilla (560–636 n. Chr.) einnimmt, der sie wie Cassiodor als origo et fundamentum liberalium litterarium369 bezeichnet,370 oder auch an der Bemerkung Dantes, daß sie la prima arte sei,371 d.h. die ,erste Kunst‘ innerhalb der artes liberales (cf. Curtius 1993:52–53, § 3).
Die Rhetorik wiederum spielte diesbezüglich eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch wurde auch diese antike ars entsprechend tradiert und gewann dann im Humanismus wieder vermehrt an Geltung (cf. Kap. 6.2).372 Aus den wichtigsten antiken lateinischen Schriften, d.h. der Rhetorica ad Herennium, Ciceros De inventione und Quintilians Institutio oratoria entwickelte sich ein weitgehend geschlossenes Modell:
Es gibt fünf Bearbeitungsphasen oder Teile der Rede (partes artis): Erfindung der Gedanken/Findungslehre (inventio), Gliederung der Gedanken/Anordnung (dispositio), Einprägen der Rede ins Gedächtnis (memoria), sprachliche Darstellung der Gedanken/Ausdruck (elocutio) und Vortrag der Rede (pronuntiatio). Gegenstand der Rhetorik (materia artis) sind drei Redegattungen (genera orationis): die Gerichtsrede (genus iudiciale), die Beratungsrede (genus deliberativum) und die Lob- oder Prunkrede (genus demonstrativum). Zentral ist die Lehre von der Auffindung des Stoffes bzw. der Gedankenfindung (inventio), die folgende Gliederung der Rede nach sich zieht: Einleitung (exordium/prooemium), Erzählung bzw. Darlegung des Sachverhaltes (narratio), Beweis bzw. Begründung (argumentatio/probatio), Widerlegung von Behauptungen (refutatio) und Schluß (peroratio/epilogus). Der Bereich der elocutio wird durch die Redegattungen (genera dicendi) geprägt (cf. genus humile, genus mediocre, genus sublime), wozu auch der Bereich der Topik, d.h. der allgemeinen Ausdrücke (topoi, loci communes) (z.B. Bescheidenheitsformel, Devotionsformel, Einleitungs- und Schlußformel) sowie der Tropen (tropi), also der Redefiguren bzw. Wortfiguren (figurae elocutiones), gehört. Bezüglich der sprachlichen Darstellung wurden die Tugenden (virtutes elocutiones) wie Eleganz (elegantia), Sprachrichtigkeit (latinitas, puritas),373 Klarheit (explanatio), syntaktische Zusammensetzung der Wörter (compositio) sowie Ausschmückung der Rede (ornatus) oder auch deren Kürze (brevitas), Angemessenheit (aptum) und Klarheit (perspicuitas) herausgestellt und die Verstöße (vitia) wie Barbarismus (Verstoß gegen eine Ausdrucks- bzw. Wortform), Metaplasmus (Verstoß gegen eine Wortform aus metrischen Gründen) und Solözismus (Verstoß gegen die Wortverbindung bzw. Syntax) gebrandmarkt (cf. Lausberg 1990:51–85; § 53–138; Curtius 1993:71–88, § 1–10; Göttert 2009:23–65; Fuhrmann 2011:112–128).
Im Mittelalter, d.h. ab dem 11. Jh., bildetet sich aus dem System der lateinischen Rhetorik (basierend auf dem der griechischen) die Stilkunst (ornatus) und vor allem die Kunst des Briefstils oder die Brieflehre (ars dictaminis oder ars dictandi)374 heraus, d.h es wird dem wachsenden Bedürfnis der Jurisdiktions- und Verwaltungspraxis sowie der allgemeinen offiziellen Korrespondenz Rechnung getragen. Neben der ars dictandi entwickelte sich so auch die ars notaria (Kanzlei- und Beurkundungspraxis), der modus scribendi (Schriftwesen) und die ars praedicandi (Predigtwesen). Aus den mittelalterlichen Briefmustern (formulae) mit ihren Anweisungen zum Briefschreiben und entsprechenden Beispielsammlungen entwickelten sich die neuzeitlichen Briefsteller.375 Die Rhetorik wirkte insbesondere auf die Poetik, aber auch in manchen Bereichen auf die Grammatik (z.B. vitia) und die Sprachtheorie (z.B. ordo naturalis vs. ordo artificalis) (cf. Curtius 1993:85–86, § 8; Tischler 1994:546). Sie tritt aber in ihrer mittelalterlichen erstarrten Form deutlich hinter die Grammatik und Dialektik (bzw. Logik) zurück, von denen sie ein Stück weit aufgesogen wird (cf. Bossong 1990:32).
Angesichts der beschriebenen Tradition der lateinischen Grammatik und Rhetorik erscheint es nicht verwunderlich, daß alle Schüler die Grundfertigkeiten des Schreibens und Lesens an der lateinischen Sprache erlernen mussten – was im Gegensatz zu heute auch den mündlichen Gebrauch implizierte (v. infra), d.h. es war intensiver und aufwendiger – und darüberhinaus war diese Universalsprache alleinige Sprache der Wissenschaft und trotz beginnender Emanzipation der europäischen Volkssprachen weiterhin auch Sprache der Literatur, nicht nur der antiken, sondern auch der zeitgenössischen mittelalterlichen und später der frühneuzeitlichen. Latein fungierte also in jeder Hinsicht als high variety innerhalb der mittelalterlichen Diglossie-Situation,376 wobei dies nicht nur die Schriftlichkeit betraf, sondern partiell auch die Mündlichkeit, insofern hauptsächlich formale Redesituationen, wie der Unterricht in den Schulen und an den Universitäten, Verhandlungen in Kanzleien und bei Gericht oder im diplomatischen Verkehr auf Lateinisch stattfanden (cf. Bossong 1990:18) (cf. auch Kap. 4.2).
Aufgrund des Austausches über die Sprachgrenzen hinweg wurde Latein in manchen Bereichen auch zu einer „Art Umgangssprache“ (Flasch 2013:152); dies gilt für die international frequentierten Universitäten genauso wie für Klöster, deren Angehörige oft nicht aus dem autochthonen Sprachraum kamen und sich zudem mitunter auf Reisen zu anderen Institutionen begaben.377 Dahingehend war das Latein eine Art lebendige Sprache, die flexibel war, in der durchaus subjektive Gefühle anschaulich ausgedrückt werden konnten (cf. z.B. die Orationes sive mediationes Anselms von Canterbury (11. Jh.) oder die Vagantenlieder der Carmina Burana (12. Jh.)), und die auch einem entsprechenden Wandel unterlag (cf. ibid.) – wenn auch nicht in gleicher Weise wie eine Muttersprache.
In einer Zeit, in der die europäischen Nationalsprachen erst im Entstehen waren, bot allein das Lateinische die Möglichkeit einer überregionalen Kommunikation. Die übernationalen Einrichtungen – die Kirche, die Universitäten, das Imperium – waren auf das Lateinische angewiesen und begründeten mit seiner Hilfe eine relativ einheitliche europäische Kultur. Philosophische Diskussionen hatten einen internationalen Charakter, wie er seit dem 18. Jahrhundert zunehmend verlorengegangen ist. Die Biographie der mittelalterlichen Denker zeigt, welche Beweglichkeit die internationale Sprache ermöglichte: Wir treffen den Lombarden Anselm von Canterbury in Bec (Normandie) und in Canterbury, den Süditaliener Thomas d’Aquino in Köln, in Orvieto und mehrfach in Paris.378 (Flasch 2013:152–153)
Zudem wurde das mittelalterliche Schriftlatein immer wieder reformiert (cf. z.B. Karolingische Renaissance, ottonische Renaissance, Renaissance des 12. Jahrhunderts), d.h. es passte sich zwar einerseits den neuen Gegebenheiten an, unterlag einem gewissen lexikalischen und morpho-syntaktischen Wandel, wurde aber andererseits immer wieder nach dem als vorbildlich erachteten Latein bestimmter antiker Schriftsteller (cf. Cicero, Quintilian) ausgerichtet (cf. Kap. 4.2).
Der grammatische Unterricht der Lateinschüler orientierte sich vor allem an zwei Autoren, und zwar an Donat (ca. 310–380) und Priscian (5./6. Jh.) (cf. Kap. 4.1.1.3). Man begann mit der Ars grammatica des Donat (eigentl.: ars Donati grammatici urbis Romani), zunächst im Elementarunterricht mit der Ars minor, die eine Art Minimalgrammatik darstellte,379 dann arbeitet man im höheren Schulunterricht mit der Ars maior sowie zusätzlich mit Priscians Institutio de arte grammaticae (auch: Institutiones grammaticae). Ergänzend wurden außerdem die grammatischen Kapitel der Institutio oratoria Quintilians (ca. 35–96) studiert. Dabei kam Donat und Priscian rein die Funktion als Sprachlehrwerke zu, die dann später im Unterricht bereichert wurden durch die kanonisierten Autoren, d.h. die Autoritäten (auctoritates), denn die „Grammatik“ im Sinne der ersten Disziplin des Triviums umfaßte neben dem Erlernen von Lesen und Schreiben – und damit automatisch dem Erlernen der lateinischen Sprache – auch das Studium der Literatur (v. supra). Der im Verlaufe des Mittelalters immer wieder neu zusammengestellte und erweiterte Kanon antiker Autoren, vor allem römisch-lateinischer, aber auch einiger griechischer in lateinischer Übersetzung variierte um einen Kern an Schriftstellern und ihre Werke, wobei noch nicht wie später zwischen „silberner“ und „goldener“ Latinität unterschieden wurde und diese auch keineswegs mit den heute als „klassisch“ bezeichneten Autoren übereinstimmen mußten. So stellte beispielsweise Walther von Speyer (ca. 963–1027) im 10. Jh. zehn antike Autoritäten zusammen,380 Konrad von Hirsau im 12. Jh. nennt bereits 21 Schulautoren und Eberhard der Deutsche (Everardus Alemannus, 1. Hälfte 13. Jh.) listet im 13. Jh. in seinem Lehrgedicht Laborintus sogar 37 als maßgeblich auf, darunter auch viele mittelalterliche. Dabei werden ungeachtet der Chronologie oder einer Sachgliederung diverse heidnische und christliche Autoren, insbesondere der Spätantike, in eine je nach persönlichen Präferenzen ausgerichtete Rangfolge gebracht. Alle auctores sind dabei qua ihrer Eigenschaft als Quelle mit entsprechendem Prestige behaftet. Es kristallisieren sich dabei Autoren heraus, die dann in der Neuzeit als „Klassiker“ firmieren, wie Cato, Cicero, Sallust, Horaz, Ovid und Vergil, aber auch andere wie Terenz, Juvenal, Persius, Lukan, Statius, Sidonius Apollinaris (ca. 430–486), Martianus Cappella (5. Jh.) oder Boethius (ca. 480–524) (cf. Kap. 4.1). Von diesen werden wiederum meist nur ein Teil der Schriften für lesenswert gehalten; so empfiehlt z.B. Konrad von Hirsau nur die moraltheoretischen Schriften Ciceros Laelius und Cato maior, von Horaz nur die Ars poetica und von Ovid nur die Fasti und Ex Ponto. Nicht immer werden aber „anstößige“ Werke – wie in diesem Fall die Schriften Ovids – ausgeklammert, denn Alexander Neckam (1157–1217) empfiehlt nicht nur die Metamophosen, sondern auch die Remedia amoris, und zwar als eine Art Gegengift; und Eberhard der Deutsche führt den ob seiner Obszönitäten umstrittenen Maximianus (6. Jh.) in seiner Liste, da er dessen rhetorische Kunstgriffe schätzte (cf. Curtius 1993:58–60, § 5).
Neben den Schulautoren rezipierten die Gelehrten des Mittelalters auch weitere antike Autoren, wie es beispielsweise für Johannes von Salisbury (ca. 1115–1180) überliefert ist, der Seneca d.Ä. (ca. 55v.–39 n. Chr.), Plinius d.Ä. (23/24–79 v. Chr.), den Redner Fronto (2. Jh.), den Fabeldichter Apuleius (2. Jh.), den augusteischen Bibliothekar Hygin (ca. 60 v.–10 n. Chr.), den Exempla-Dichter Valerius Maximus (1. Jh. v.–ca. 37 n. Chr.), den Militärschriftsteller Frontin (1. Jh.), den Historiker Florus (2. Jh.), den Anekdoten-Dichter Gellius (2. Jh.), den Historiker Eutrop (4. Jh.), den Redner und Dichter Ausonius (ca. 310–400), den Militär- und Fachschriftssteller Vegetius (4./5. Jh.), über Auszüge bei Justin (3. Jh.) den Historiker Pompeius Trogus (1. Jh. v. Chr.) sowie den christlichen Historiker Orosius (4./5. Jh.) und den Dichter und Kommentator Macrobius (5. Jh.) kannte, aber auch weitere, die in seinen Werken nachweisbar sind. Mit der Renaissance des 12. Jhs., dem Aufblühen mächtiger Kathedralschulen, vor allem in Paris (z.B. Notre-Dame, Saint-Victor und Montagne Sainte-Geneviève)381 oder in Chartres, die berühmt für ihre Logik war,382 schließlich dem Aufkommen der Universitäten sowie der neuen Aristoteles-Rezeption (v. supra) wurden die auctores auch in Frage gestellt, der Dialektik unterworfen und begrifflich kritisch analysiert (cf. Curtius 1993:63–64, § 6).
Diese Entwicklung nahm ihren Anfang mit der Boethius-Renaissance des 10. Jhs., als dessen logische Schriften von Gerbert von Aurillac (ca. 950–1003) wiederentdeckt wurden, und verschärfte sich ab dem 12. Jh., als die ersten großen Scholastiker wie Anselm von Canterbury, Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1155) oder Abaelard auf Basis der Grammatik und der aristotelischen Logik Begriffe der terministischen Logik schufen, um geistigen Bewegungen (passiones) jenseits grammatischer Kategorien nachzugehen. Die Verschmelzung von Grammatik und Logik war jedoch nicht vollständig, da zum einen sich auch Scholastiker wie Hugo von St. Viktor für eine Trennung der Disziplinen einsetzte, zum anderen die Grammatik zentral im Schulunterricht blieb (cf. Pinborg 1967:22–23).
Die Sprachreflexion im Rahmen der mittelalterlichen Scholastik beruht also zunächst auf der lateinischen Schulgrammatik, denn Latein war – wie eben dargelegt – die erste Sprache des Unterrichts und auch die einzige Sprache aller weiterführenden Studien. Sie war Objekt- und Metasprache gleichermaßen, denn durch die Beschäftigung mit dieser nach strengen Regeln zu erlernenden Sprache ergaben sich erste Fragestellungen. Das Beherrschen derselben galt als eine ‚spezifische Fertigkeit‘ bzw. ‚Technik‘ oder ‚Kunst‘ (v. supra), wie Titel der Grammatiken von Dionysios Thrax (cf. Τέχνη γραμματική, téchnē grammatikē), Donat (cf. Ars grammatica) oder anderen383 nahelegen (cf. Stolz/Debrunner/Schmid 1966:16–20; Bossong 1990:19).384
Die Grammatik vor allem ist sozusagen die fest-gestellte, verfügbare und ordentlich geregelte Sprache. Dies befördert die Vorstellung, daß eine Sprache erst dann eine „richtige“ Sprache ist, wenn sie eine Grammatik hat, d.h. wenn sie in eine buchförmige, regelhafte Beschreibung überführt worden ist. (Trabant 2006:41).
Die Volkssprachen hingegen wurden als regellos betrachtet, eben weil ihnen die Würdigung einer grammatischen Beschreibung bisher nicht zugefallen war, aber auch weil sie nicht die gleiche alte und umfangreiche Literaturtradition hatten und als Sprachen des täglichen Umgangs im familiären und privaten Bereich wenig Prestige genossen. Das Nachdenken über die Sprache konnte sich deshalb nur am Lateinischen entzünden, am Studium von Donat und Priscian, die ausführlich kommentiert wurden (cf. Bossong 1990:18–19; Trabant 2006:40–41).
Diese Konstellation begünstigte zweifellos das Aufkommen eines eher theoriebetonten, universalistischen und rationalistischen Sprachdenkens: an der klar und streng aufgebauten Form dieser einen Kunstsprache glaubte man, die Form von Sprache schlechthin ablesen zu können; das scheinbare Chaos der primären Umgangssprache in ihrer undurchschaubaren Vielgestaltigkeit verstellte nicht den Blick auf die interne Logik der semantischen und syntaktischen Mechanismen. (Bossong 1990:19)
Aus der Beschäftigung mit der Schulgrammatik, insbesondere des Priscian, dessen Kommentierungen immer ausführlicher und eigenständiger wurden, erwuchs die sogenannte grammatica speculativa (später auch: grammatica universalis),385 d.h. die eigentliche Sprachtheorie der Scholastik. Die ersten, die sich von Priscian lösten und die Sprache auf weitere Funktionalitäten und Ursachen hin abfragten (cf. causae inventiones), waren Wilhelm von Conches (ca. 1080–1154) in De philosophia mundi und Petrus Helias (ca. 1100–166) aus Poitiers mit seiner Summa in Priscianum. Die Blütezeit der spekulativen Universalgrammatik (1240/50–1320/50) ist allerdings nach den entscheidenden Impulsen durch die jüdisch-arabische Aristoteles-Tradition anzusetzen, die insbesondere durch den aus Córdoba stammenden Averroes geprägt wurde, der einen umfangreichen Aristoteles-Kommentar geschaffen hat (u.a. zur Nikomachischen Ethik und zur Poetik) und dessen Schriften in Toledo an der berühmten Übersetzerschule ins Lateinische übertragen wurden, von wo aus sie ihren Weg an die europäischen Universitäten (insbesondere Paris) fanden.386 Es entstand auf Basis des Aristotelismus eine neuer Begriff von Wissenschaftlichkeit, bei dem Theorie und Praxis getrennt wurden; so löste sich die praktische grammatica trivialis,387 also der Lateinunterricht, von der grammatica speculativa als einer philosophisch-spekulativen Sprachbetrachtung, die sich mit dem Wesen der Syntax und Semantik auf Basis der ratio bzw. der Logik auseinandersetzte. Die erstere ist dabei dem Bereich der ars (griech. τέχνη, téchnē) zuzuordnen (v. supra), die zweite dem der sapientia (griech. ἐπιστήμη, epistēmē), d.h. allgemein der Weisheit, hier spezifisch im Sinne von Wissenschaft (scientia) (cf. Bossong 1990:19–25).
Die Philosophen, die sich jenseits der grammatischen Kategorien mit dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit auseinandersetzen, sind die sogenannten Modisten (modistae), basierend auf dem zentralen Begriff der modi signficandi,388 in dem die verschiedenen Möglichkeiten oder Arten (modi) der Repräsentation eines Gegenstandes (res) zum Ausdruck kommen, die man durch die Sprache erfassen kann.
Der erste Scholastiker, der derartige Denkmodelle präsentiert und dessen Werk die begriffliche Grundlage für die Epoche der Modisten legt, war Martin von Dacien (Martinus Dacus/Martinus de Dacia,389 †1304) mit seinem Tractatus de modis significandi (ca. 1255). Es folgen weitere dänische Autoren wie Boethius von Dacien (Boethius Dacus/Boethius de Dacia, †1284) mit den Modi significandi sive quaestiones super Priscianum Maiorem (ca. 1270/1275), Simon von Dacien (Simon Dacus/Simon de Dacia, 13. Jh.) mit dem Domus grammaticae (ca. 1255/1270), Johann von Dacien (Johannes Dacus/Johannes de Dacia, 13. Jh.) mit einer Summa grammatica (ca. 1280) sowie der französische Modist Michael von Marbais (Michael de Marbasio/Morbosio, 13. Jh.), mit einem ihm zugeschriebenen Werk De modi significandi (ca. 1270/1300), welches sich eng an Boethius anlehnt.
Eine zweite Generation, die auch die Werke der ersten kommentierte, erwächst durch Radulphus Brito (Raoul le Breton, ca. 1270–1320) mit den Quaestiones super Priscianum Minorem (ca. 1300), Siger von Courtrai (Sigerus de Cortraco, ca. 1283–1341) mit der Summa modorum significandi (14. Jh.), Peter von Auvergne (Petrus de Alvernia, ca. 1240–1303/1304) mit seinen Literalkommentaren zu Aristoteles, Simon von Faversham (Simon Anglicus, ca. 1260–1306/1307) und schließlich durch den einflußreichsten der Modisten, Thomas von Erfurt (Thomasus Erfordiensis bzw. de Erfordia †1325) mit seiner Grammatica speculativa (1300/1310) (eigentl. De modis significandi, sive Grammatica speculativa). Die Hauptwirkungsstätte der Modisten war die Artistenfakultät (facultas artium) der Universität von Paris, die wiederum auf die Hochschulen von Bologna und Erfurt ausstrahlte (cf. Rosier-Catach 1983:18–22; Wolters 1992:596–597; Leiss 2009:65–66).390 So wirkten in Bologna beispielsweise Gentile da Cingoli (13. Jh.) mit seinen Quaestiones supra Prisciano minori sowie Matteo da Bologna (13. Jh.) mit den Questiones magistri Mathei Bononiensis super modos significandi et super grammaticam, die wohl beide auf Dante und seine sprachtheoretischen Betrachtungen im Convivio und in De vulgari eloquentia wirkten (cf. Corti 1993:79).
Die Lehre der Modisten verknüpfte die sprachphilosophische Tradition der Stoiker, Platons und vor allem Aristoteles᾽, mit der grammatischen, d.h. der ursprünglichen alexandrinischen (cf. Dionysios Thrax (ca. 180–90 v. Chr.), Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.)), die dann durch die lateinische bis Donat und Priscian fortgesetzt wurde (v. supra). Hieraus ergibt sich eine modistische Betrachtung, der allgemeine metaphysische Begriffe wie Materie (materia) vs. Form (forma) oder Substanz (substantia) vs. Akzidenz (accidentia) und zeichentheoretische wie sprachlicher Ausdruck (vox), bedeutungstragende Einheit (dictio), bezeichneter Gegenstand (significatum speciale) oder Bezeichnungsrelation (ratio consignificandi) zugrundeliegen sowie allgemeine grammatische, wie die Lehre von den Wortarten (partes orationis) (cf. Wolters 1992:598).
Die Sprache der Betrachtung konnte dabei nur das Lateinische sein, die dabei als Universalsprache fungierte, d.h. als Anschauungsobjekt jenseits einzelsprachlicher (d.h. volkssprachlicher) Charakteristika.
Die mittelalterliche Idee einer für alle Sprachen gültigen Grammatik ist eine Konsequenz des allgemein akzeptierten aristotelischen Wissenschaftsbegriffs. Danach ist insbesondere für jede Wissenschaft ein allgemeiner und invarianter Gegenstandsbereich erforderlich. Folglich können die von Sprache zu Sprache verschiedenen sprachlichen Ausdrücke der Einzelsprachen kein Gegenstand einer wissenschaftlichen Logik oder Grammatik sein. Vielmehr sind für Wissenschaft invariante sprachliche Phänomene erforderlich, „die für Sprache als Sprache charakteristisch sind“ […]. (Wolters 1992:597–598)
Die beiden Hauptprämissen der modistischen Sprachbetrachtung sind, daß a) eine bestimmte Ikonizität zwischen den Gegenständen der Welt und der Struktur der Sprache besteht, woraus sich eine universalistische Position in Bezug auf den Aufbau aller Sprachen ergibt, sowie, daß b) die Perspektive des Betrachters, d.h. des Sprachbenutzers, eine Rolle spielt, so daß in der Sprache die je spezifische Form der Perspektive auf die Welt zum Ausdruck kommt (cf. Leiss 2009:61).
Es werden grundsätzlich drei Ebenen der Erfassung der Welt, d.h. der Relationen zwischen res, conceptiones und voces, unterschieden: Die erste Ebene ist die ontologische Ebene, d.h. die der Dinge, die sich in den Modalitäten des Seins ausdrückt, den modi essendi. Diesbezüglich kann nochmal zwischen dem modus entis (Seinszustand) und dem modus esse (Seinstätigkeit bzw. -vorgang) unterschieden werden391 (cf. Bereich der Metphysik bzw. Ontologie). Die zweite Ebene ist die der mentalen Repräsentation, d.h. das Erkennen der realen Welt, welches sich in den Modalitäten des Verstehens, den modi intelligendi ausdrückt. Auf dieser Ebene wirkt der Prozess der impositio, d.h. das Einwirken der Welt auf den Erkennenden, der noch weitgehend passiv ist, so daß die Eindrücke auf den Geist noch ungeformt sind. Auf dieser Ebene wird z.B. noch nicht zwischen den Wortarten unterschieden: So sind z.B. dolor (Nomen), dolēo (Verb), dolēns (Partizip) und dolenter (Adverb) als Teil einer bedeutungsgleichen Einheit (dictio) noch nicht weiter differenziert (cf. Bereich der Logik). Die dritte Ebene ist diejenige, die sich auf die konkreten Wörter bezieht, d.h. die sprachlichen Einheiten, die die mentalen Repräsentationen widerspiegeln und die durch die modi significandi geformt werden. Hierbei findet ein zweiter Prozess der impositio statt, bei dem der Betrachter nun aktiv ist, während die Welt der Dinge (bzw. des Seins) passiv bleibt, und verschiedene Darstellungsmodalitäten der Wirklichkeit selektiert, was sich dann in grammatischen Kategorien äußert (cf. Bereich der Grammatik).392
Das Ganze kann als doppelter semiotischer Prozeß verstanden werden, bei dem auf ontologischer Ebene, d.h. der Ebene der Seinsweisen, die Dinge in Relation zueinander stehen, wodurch lexikalische Relationen abgebildet werden. Dabei findet eine Selektion von Merkmalen statt, da die Realität unendlich vielfältig ist und in einem Abbildungsverfahren nur saliente Merkmale selektiert werden bzw. die Wirklichkeit manche als salient präsentiert. Es besteht also in diesem Fall zwischen der außersprachlichen Realität und der zeichenhaften Abbildung eine Motiviertheit, demgemäß ist ihre Beziehung nicht arbiträr. In einem zweiten Teil des Prozesses tritt der Betrachter, d.h. der Sprachbenutzer hinzu, der den durch den modus intelligendi erworbenen mentalen Eindruck kategorisiert, und zwar durch die grammatischen Kategorien. Durch die modi significandi werden also Wortarten festgelegt und damit eine spezifische Sicht auf die Welt (auch modus consignificandi). Die Wortarten haben daher bei den Modisten einen hohen Stellenwert als maßgebliche Kategorien.
Im gesamten Prozeß wird also erst durch die impositio1 eine Beziehung zwischen dem rohen phonetischen Zeichen (vox) und dem Objekt (significatum (speciale)) hergestellt und zu einer bedeutungstragenden (lexikalischen) Einheit (dictio) geformt, wodurch eine Bezeichnungsrelation (ratio significandi) entsteht. Diese Einheit wird dann schließlich durch die impositio2 grammatischen Kategorien zugeordnet, so daß eine weitere semantische Relation (ratio consignificandi) entsteht, die sich auf die Merkmale der Wortarten und solche anderer grammatischer Kategorien (Numerus, Genus, Person, Tempus, Modus, Diathese) bezieht (cf. Bossong 1990:28–29; Wolters 1992:598–599; Leiss 2009:60–65).
Thomas von Erfurt faßt beispielsweise diese zweifache Zuschreibung der lexikalischen und der grammatischen Bedeutung eines lautlichen Zeichens (vox), die unser Verstand (intellectus) vornimmt, folgendermaßen zusammen:
Intellectus duplicem rationem voci tribuit. Iuxta quod notandum quod cum intellectus vocem ad significandum, et consignificandum imponit, duplicem ei rationem tribuit, scilicet, rationem significandi quae vocatur significatio, per quam efficitur signum, vel significans; et sic formaliter est dictio; et rationem consignificandi, quae vocatur modus significandi activus, per quam vox significans fit consignum, vel consignificans; et sic formaliter est pars orationis; […]. (Thomas von Erfurt, Gramm. spec. I, 3; 1972:136)
Die Modisten sind gemäßigte Realisten,393 da sie zwar die sprachlichen Strukturen von der Struktur der Wirklichkeit abhängig machen, aber nur indirekt, da intellektuelle Operationen nötig sind, um die Zuordnung der in den Einzeldingen angelegten Universalien zu den sprachlichen Entitäten und den grammatischen Kategorien zu gewährleisten. Die sprachliche Wirklichkeit, die nur eine einzige ist, kann dabei jedoch von einer universalen Grammatik widergespiegelt werden, die den einzelsprachlichen Gegebenheiten vorausgeht (cf. Wolters 1992:599).
Denkansätze der modistischen Sprachtheorie findet man auch in späteren sprachtheoretischen sowie modernen linguistischen Theorien. Was die universalistische Position anbelangt, so ergibt sich eine Linie zur Grammatik von Port-Royal, aber auch zum Universalismus Wilhelm von Humboldts (1767–1835) mit seinen dynamischen Prozessen (cf. energeia), bis hin zu Chomsky, in dessen Unterteilung in Oberflächen- und Tiefenstruktur man die Unterscheidung in modi significandi und modi intelligendi widererkennen kann. Dieser bezieht sich wie auch Tesnière mit seiner Dependenzgrammatik und deren Abhängigkeitsrelationen auf die Grammaire générale et raisonnée (1660) von Antoine Arnauld (1612–1694) und Claude Lancelot (1615–1695) als Vorläufer. Die semiotischen Relationen, die auf antiken Vorarbeiten (cf. Stoiker, Platon, Aristoteles, Augustinus) basieren, avancieren zum scholastischen Diktum voces significant res mediantibus conceptibus,394 welches das einfachere aliquid stat pro aliquo395 ablöst und sich in den Zeichenmodellen von Peirce sowie auch Ogden und Richards wiederfindet.
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