Kitabı oku: «Liebe, wie geht's?», sayfa 2
3. Romeo und Julia
Wenn wir uns verlieben, haben wir immer auch zwei Familiensysteme im Hintergrund. Es ist für eine gelungene Beziehung entscheidend, dass wir uns davon emanzipieren und auf Basis unserer Historie ein eigenes System entwickeln.
Sie hat einen Ferienjob im Handwerks- und Handelsbetrieb der Familie ihres Liebsten begonnen und sitzt als Telefonistin im Büro. Da kommt ihr Schwiegervater in spe herein.
Schwiegervater: Na, wie gefällt es dir bei uns?
Sie: Ja, eh gut. Viel Trubel hier und viel zu tun!
Schwiegervater: Du könntest jederzeit bei uns einsteigen, das weißt du.
Sie: Aber du weißt doch, dass ich ganz bestimmt mein Studium abschließen möchte und dann Psychologin werde.
Schwiegervater: Klar weiß ich das. Aber wenn du richtig arbeiten willst, kannst du jederzeit zu uns kommen.
Sie (entrüstet): Psychologin zu sein ist doch auch richtige Arbeit!
Diese kleine Szene hat sich so ähnlich im Jahr 1980 im Unternehmen der Familie Bösel – einem großen Fleischereibetrieb in Wien – abgespielt. Wir ahnten noch nicht, wie sehr diese doch sehr unterschiedliche Sichtweise auf Arbeit unsere Liebe prägen würde. Für Roland war Arbeit das, was er von seinen Eltern vorgelebt bekam: identitätsstiftend und erfüllend, jedoch auch körperlich anstrengend und unternehmerisch riskant. Seine Eltern und Großeltern arbeiteten quasi rund um die Uhr, nur am Sonntag ruhten sie sich aus. Es war sonnenklar, dass er den Betrieb in der dritten Generation fortführen sollte. Dementsprechend war und ist es für ihn ein hoher Wert, „couragiert zu sein und anzupacken, wo es nötig ist“. Verstärkt wurde diese Sicht auch noch durch die Existenz eines Onkels väterlicherseits, der Künstler war. Es wurde von Rolands Vater erwartet, dass er seinen Bruder ins Unternehmen holt, denn Maler zu sein, „das ist ja kein ordentlicher Beruf“!
Sabine wiederum wurde geprägt durch eine Haltung, die sich in einem Satz ihrer Großmutter manifestierte: „Was du im Kopf hast, kann dir niemand mehr nehmen.“ Kein Wunder, wenn man die Geschichte der Großmutter kennt. Sie hat zwei Weltkriege durchgestanden, ihr gesamtes Geld verloren und die Shoah erlebt. Es war ihre Bildung, die ihr half zu überleben. Sabine besuchte eine teure Privatschule und es war sonnenklar, dass sie einen gehobenen und intellektuellen Beruf wählen würde. Sabines höchster Wert war, ganz in der Tradition ihrer Großmutter, die Bildung. Dass sie ihr Studium abschließen würde, stand völlig außer Frage.
So trafen wir aufeinander, die intellektuelle Sabine und der bodenständige Roland, beide mit unserer unterschiedlichen Sozialisation im Gepäck. Wir waren unter anderem genau deshalb auch so fasziniert voneinander: In Rolands Familie wurde nicht lange diskutiert. Wenn es ein Problem gab, da wurde angepackt – für Sabine eine ganz neue Welt. Und Roland umgekehrt war erstaunt, dass es Urlaube abseits von Erholung und Nichtstun geben kann. Er war schnell begeistert von Sabines Ideen, Bildungsurlaube zu machen und fremde Länder und Kulturen zu erforschen.
So ähnlich ist es bei jedem Paar, das sich ineinander verliebt. Jeder bringt die eigene Geschichte, das eigene So-geworden-Sein mit in die Beziehung. Jeder Mensch hat eine eigene Welt, die geprägt ist von den Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Jede Familie hat eigene Traditionen – und damit meinen wir nicht nur die Art, wie man Weihnachten und Neujahr begeht, sondern jedes Verhaltensmuster, das unbewusst von einer Generation in die nächste übernommen wird: ob man alle Entscheidungen vorher gemeinsam bespricht oder nicht, welche Erwartungen man an die Partnerin bzw. den Partner hat betreffend Familienplanung und -betreuung, ob man als Frau Karriere machen sollte und vieles mehr.
Wie sollte es auch anders sein? Wir werden in unsere Familie hineingeboren, und alles, was wir beobachten und erleben, übernehmen wir, und dieses Verhalten wird zu unserer Normalität. Unangenehme Erfahrungen oder gar Gewalt empfinden wir zwar auch als Kind nicht als Normalität und spüren, dass etwas nicht stimmt. Doch wir sind zu jung, um solche Erlebnisse zu reflektieren und zu verarbeiten. Stattdessen entwickeln wir Überlebensstrategien. All diese „seltsamen“ Verhaltensweisen sind Teil einer Tradition, und es liegt an uns zu entscheiden: Wollen wir sie fortsetzen oder durchbrechen und etwas Neues etablieren?
Wie stark Familientraditionen auf uns wirken, hat selbst die Weltliteratur vielfach aufgegriffen. Die Geschichte von Romeo und Julia kennen Sie bestimmt. Die beiden versuchen, sich gegen die alte Tradition – in ihrem Fall die Feindschaft zwischen den Familien – aufzulehnen, und scheitern doch sehr tragisch. Wir können uns unserer Geschichte nicht entziehen. Wir sind immer ein Produkt unserer Eltern und damit das Produkt zweier Familiensysteme, und jedes Elternteil ist wiederum ein Produkt zweier Familiensysteme. Wenn Sie sich in Ihren Partner verliebt haben, dann haben Sie nicht nur zu ihm, sondern implizit auch zu seiner Familie Ja gesagt – und dasselbe gilt auch umgekehrt. Dieser Umstand steht in direktem Zusammenhang mit dem, was wir in Impuls Nr. 2 geschrieben haben: 90 Prozent unseres Verhaltens wird geprägt durch unsere Vergangenheit – also unsere Herkunftsfamilie – und nur 10 Prozent durch die aktuelle Situation.
Das ist weder eine gute noch eine schlechte Nachricht, sondern eine Tatsache, die wir akzeptieren und anerkennen sollten. Denn wenn Sie wissen, dass Ihr Verhalten zu 90 Prozent durch Ihre Geschichte determiniert ist und nur zu 10 Prozent durch die Situation, in der Sie gerade sind, dann wirft das doch ein ganz anderes Licht auf die Möglichkeiten, die Sie haben! Um das Beispiel vom Beginn dieses Impulses noch einmal zu bemühen: Wenn Sie gerade darüber streiten, was denn „richtige“ Arbeit ist, dann brauchen Sie sich nicht länger darum bemühen herauszufinden, wer von Ihnen beiden Recht hat. Denn Sie wissen, dass Sie beide eine Meinung vertreten, die in Ihrer jeweiligen Welt nachvollziehbar ist. Gehen Sie diesen beiden Welten besser auf die Spur und versuchen Sie, die jeweils andere zu verstehen. Das bringt Sie viel weiter. Es kann gut sein, dass Sie eine ganz neue Definition von „richtiger“ Arbeit finden und damit eine neue Familientradition begründen.
Es ist unser Glück, dass wir heute viel freier sind und nicht mehr so sehr gefangen in unseren Familienverstrickungen wie Romeo und Julia. Solche Tragödien sind erfreulicherweise zumindest in unseren Breitegraden äußerst selten. Wir haben die Freiheit, jederzeit zu entscheiden, ob wir unsere Traditionen weiter pflegen wollen oder nicht. Goethe fasste das so zusammen: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Schauen Sie sich gut an, was Sie auf Ihren Weg mitbekommen haben, entwickeln Sie es so weiter, dass es zu Ihrem (gemeinsamen) Leben und in Ihre Zeit passt. Das gilt für jede Entscheidung, die Sie zu treffen haben, und für jede Erfahrung und die Art, wie Sie mit ihr umgehen und sie in Ihr Leben integrieren. Denn, so setzte Goethe seine Weisheit fort: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.“
4. Warum wir die Welt so sehen, wie wir sie sehen
Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt auf dieser Welt. Ein psychologischer Blick hinter die Kulissen dieser Weisheit.
Er (sitzt mit seinem Freund beim Kaffee): Stell dir vor, gestern ist Susi erst nach Mitternacht von ihrem Frauenabend heimgekommen. Nach Mitternacht! Also ich glaube, da stimmt etwas nicht.
Freund: Was meinst du? Dass sie in Wahrheit bei einem anderen war?
Er: Na ja, ist das so abwegig? Sie ist ja eine fesche Frau!
Freund: Ja, schon. Aber deswegen muss sie ja noch lange nicht fremdgehen.
Er: Also ich weiß nicht … Wer weiß, ob sie mich wirklich liebt!
Wie wir bestimmte Situationen bewerten und wie wir uns verhalten, ist immer davon abhängig, was wir dazu in unserem Gehirn abgespeichert haben. Die Wissenschaften haben sich viel damit beschäftigt und die unterschiedlichen Phänomene systematisiert. Eines davon ist der sogenannte Priming-Effekt. Dabei geht man davon aus, dass die Art, wie wir Situationen betrachten, von einem aktuellen Reiz ausgelöst und dann mit früheren Erlebnissen und Erfahrungen gekoppelt wird. Das heißt, wir sehen, hören, riechen, schmecken oder empfinden etwas, und das ruft bestimmte Inhalte in unserem Gehirn ab. Je nachdem, worauf wir dabei zurückgreifen können, interpretieren wir die Situation. Das heißt, es werden durch eine Erfahrung Kerben in unserem Gehirn geschlagen, und die werden aktiviert, sobald wir in eine ähnliche Situation kommen. Ein klassisches Beispiel dafür: Wir haben ein Fahrrad gekauft – und plötzlich stellen wir fest, wie viele Menschen in unserer Umgebung Rad fahren.
Unser Gehirn lässt sich da relativ leicht austricksen. Machen wir ein kleines Experiment. Beantworten Sie bitte die folgenden Fragen: Welche Farbe haben Häuser in Griechenland? Ein Blatt Papier hat welche Farbe? Und ein Schneefeld? Eine Braut trägt meistens ein Kleid welcher Farbe? Was trinken Kühe?
Wenn Sie die letzte Frage mit „Milch“ beantwortet haben, dann herzlich willkommen im Club, denn dann ist es Ihnen ergangen wie den meisten Menschen. Keine Frage, die richtige Antwort wäre „Wasser“ gewesen. Doch die Fragen davor haben in Ihrem Gehirn eine Kerbe zur Farbe Weiß geschlagen, und da fällt uns im Zusammenhang mit dem Stichwort „Kuh“ sofort Milch ein.
Solche Kerben haben wir im Laufe unseres Lebens sehr viele entwickelt. Manche von ihnen haben sich zu wahren Autobahnen ausgewachsen. Jede Bewertung, die wir vornehmen, hat etwas mit dem zu tun, was wir erlebt haben, das betrifft sowohl positive wie auch negative Erfahrungen. Ein blühender Kirschbaum löst angenehme Gefühle aus, wenn er zum Beispiel mit vielen schönen Geburtstagen verknüpft ist, die immer zur Zeit der Kirschblüte gefeiert wurden. Der Anblick eines Kirschbaums kann aber auch traurig machen, wenn wir bei seinem Anblick von den Eltern erzählt bekommen haben, dass sie sich scheiden lassen werden.
Die gute Nachricht: Wir können diese Kerben umlenken und neu definieren. Wir können den armen Kirschbaum von seinem in unseren Augen schlechten Image befreien, indem wir die negative Erfahrung vom Baum entkoppeln und ihn mit anderen, positiven Assoziationen verknüpfen. Mit Frühlingsbeginn, blitzblauem Himmel und einer Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken zum Beispiel.
Der Mann in unserer Einstiegsszene, der seiner Susi nicht vertrauen kann, hatte vermutlich bisher keine guten Erfahrungen in Sachen Vertrauen, und ihn plagt Unsicherheit. Vielleicht hat er bereits gescheiterte Beziehungen hinter sich, in denen er oder seine Partnerin Außenbeziehungen hatten, oder andere Erlebnisse, bei denen sein Vertrauen enttäuscht oder missbraucht wurde. Vielleicht hat er auch von seinem konservativen Elternhaus mit auf den Weg bekommen: „Frauen, die sich nach Mitternacht noch auf der Straße herumtreiben, sind leichte Mädchen.“
Was können Sie tun, um Ihre neuronalen Autobahnen umzulenken? Machen Sie sich bewusst, in welchen Situationen Sie von tiefen Kerben geleitet werden, und fokussieren Sie ganz bewusst auf das, was mehr Sinn macht. Im Falle des enttäuschten Vertrauens könnten Sie sich zum Beispiel darauf besinnen, wann und von wem Ihr Vertrauen in der Vergangenheit belohnt wurde. Welche guten Gründe fallen Ihnen ein, Ihrer Partnerin zu vertrauen?
Manche dieser gedanklichen Trampelpfade sind schwer zu identifizieren. Wenn Sie beispielsweise vor einem Berg Arbeit sitzen, es schon kurz vor Dienstschluss ist und sich der Schreibtisch immer noch biegt, fühlen Sie vielleicht Verzweiflung aufkommen. „Das schaffe ich nie, schon gar nicht heute, und dabei sollte ich doch noch diesem Kunden ein nettes Mail schreiben.“ Dann beschließen Sie, wenigstens diesem Kunden noch zu schreiben, bevor Sie heimgehen. Und stellen fest, dass Ihnen kein einziger netter Satz einfällt. Kein Wunder, wenn Ihre neuronalen Bahnen bereits komplett auf Verzweiflung und Versagen eingestellt sind!
In solchen Fällen empfehlen wir Ihnen: Drehen Sie den Computer ab, gehen Sie nach Hause und entspannen Sie sich. Machen Sie einen Spaziergang oder joggen Sie eine Runde durch die Siedlung, essen Sie etwas Feines. Tun Sie sich etwas Gutes, damit Ihr neuronaler Trampelpfad sich wieder glättet. Überlegen Sie, wo dieser Trampelpfad seinen Ursprung haben könnte. Liegt es daran, dass Ihre Eltern beruflich gescheitert sind oder Sie in jungen Jahren schwierige Phasen durchstehen mussten, in denen Sie nicht wussten, wie Sie über die Runden kommen sollen? Visualisieren Sie: Wie sieht mein aufgeräumter Schreibtisch morgen aus, sodass ich mit Leichtigkeit eine Sache nach der anderen angehen kann?
Je öfter es Ihnen gelingt, Ihre persönlichen Trampelpfade zu erkennen und sie zu positiven Bildern umzuleiten, desto besser. Es mag sein, dass Sie Rückschläge erleiden, doch dann denken Sie daran, wie oft es Ihnen schon gelungen ist, aus einem solchen Pfad auszusteigen und in ein anderes Erleben zu kommen. Und wenn Sie bemerken, dass Ihre Partnerin bzw. Ihr Partner gerade aus alten Pfaden aussteigt und neue entwickelt, geben Sie ihr bzw. ihm dafür eine dicke, fette Wertschätzung!
5. Geerbte Sätze
Sie machen uns manchmal das Leben schwer und beschränken uns in unseren Möglichkeiten. Über Glaubenssätze und innere Richter und wie sie unser Denken und Handeln prägen.
Sie und er sind mit ihrem sechsjährigen Sohn unterwegs, da treffen sie auf der Straße eine Bekannte.
Er: Wir waren gerade dabei, eine geeignete Volksschule in der Umgebung zu finden.
Bekannte: Ach, so groß ist euer Sohn also schon! Ja, ja, jetzt beginnt der Ernst des Lebens!
Zu Hause im Vorzimmer legen sie alle drei ihre Jacken und Schuhe ab.
Sie: Ich weiß nicht, irgendetwas ist mir über die Leber gelaufen.
Er: Du bist schon komisch, seit wir unsere Bekannte getroffen haben.
Sie (nach einigem Nachdenken): Jetzt, wo du es sagst: Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand meint, mit der Schule beginne der Ernst des Lebens. Da kommen in mir nur noch Stress und negative Gedanken an schwierige Lehrer und Zwänge hoch. Furchtbar!
Stellen wir uns ein Baby vor, ganz frisch zur Welt gekommen. Ist es nicht ein vollkommen wahrhaftiges Wesen? Frei von Zuschreibungen und Bewertungen schaut es in die Welt und saugt alles auf, aus reiner Neugierde, ohne die Nase zu rümpfen oder ein schlechtes Gewissen zu haben, ohne Empörung und Scham. So lang, bis wir es erziehen, denn dann beginnt der Prozess der Sozialisation. Der Begriff „Erziehung“ trifft es auf den Punkt: Wir ziehen an diesem neuen Erdenbürger herum und verbiegen seine neutrale, neugierige Weltsicht, damit er sich aus unserer Sicht richtig verhält.
Es sind viele Sätze, die unser Erwachsenwerden begleiten. „Lass das Baby ruhig schreien, es muss auch lernen, alleine zurechtzukommen“ oder später dann „Das macht man nicht“ oder „Sei ja schön brav und ärgere den Papa nicht“. Mit dem Älterwerden werden diese Sätze vielschichtiger: „Mach schneller!“ oder „Sei nicht so egoistisch“ oder „Es gehört sich nicht, so viele Fragen zu stellen“, „Sei nicht so naiv“ oder „Das steht dir nicht zu“. Die Variationen könnten wir hier wohl endlos fortsetzen, doch wir sind sicher: Sie haben bestimmt sofort selbst Sätze parat, die Sie von klein auf kennen – und die Sie vielleicht auch zu Ihren Kindern sagen oder gesagt haben. Viele dieser Anweisungen sind auch gut und hilfreich: „Setz eine Haube auf, es ist eiskalt draußen“ oder „Sag danke zu der freundlichen Frau“. Damit lernen wir den Umgang mit Gefahren und wie wir uns so verhalten, dass ein gutes und friedliches Miteinander in der Gesellschaft möglich ist.
Jede dieser Anweisungen nimmt das heranwachsende Kind auf. Es geht davon aus, dass sie wahr sind, und irgendwann werden sie zu einer Selbstverständlichkeit. Es verinnerlicht diese Anweisungen. Wenn es also von klein auf hört: „Mach schnell“, dann lernt es, dass man immer schnellmachen muss im Leben. Es lebt entsprechend dieser Prämisse und versagt sich damit aber auch die vielen Erlebnisse, die man nur hat, wenn man sich auch einmal Zeit lässt. Es wird ihm ein Teil seiner Potenziale genommen, die zu seiner Persönlichkeit gehören.
Zunächst – in der Kindheit – ist diese verinnerlichte Stimme unsere Verbündete. Wenn die Mutter vermittelt „Reiß dich zusammen, das tut doch nicht weh“ und wir uns dementsprechend verhalten, werden wir mit der Mutter weniger Konflikte haben. Das heißt, dass diese Verinnerlichung uns als Kind das Überleben sichert, weil wir schließlich in einer Abhängigkeit von den Eltern stehen. Beim nächsten Sturz mit dem Rad werden wir also die Zähne zusammenbeißen, weil wir nicht wehleidig sein dürfen, oder ganz im Gegenteil noch mehr den Schmerz zeigen und übertreiben, um dann endlich doch die ersehnte Aufmerksamkeit von Papa und Mama zu erhalten.
Fatal ist jedoch, dass diese Anweisungen und Ermahnungen sich zu einem inneren Richter entwickeln, den wir mit in unser Erwachsenenleben nehmen. Um beim Beispiel mit der Wehleidigkeit zu bleiben: „Das halte ich schon aus“, sagen wir, wenn wir aufgefordert werden, beim Umzug von Freunden zu helfen, obwohl wir seit Jahren chronische Kreuzschmerzen haben. Heimlich leiden wir dann vor uns hin, und wenn die Freunde merken, wie sehr uns die Schmerzen plagen, wundern sie sich über unser „komisches“ Verhalten: „Warum hast du denn nichts gesagt, es wäre doch in Ordnung gewesen, wenn du nicht geholfen hättest!“
Dieser innere Richter ist ziemlich ungnädig und kann sehr mächtig werden. Er manifestiert sich beispielsweise in den sogenannten fünf Antreibern, die der Psychologe Eric Berne in der Transaktionsanalyse definiert: Sei perfekt! Mach schnell! Sei stark! Mach es allen recht! Streng dich an! Innere Richter bilden sich auch dann in uns, wenn wir das Verhalten der Eltern kopieren oder auf die eine oder andere subtile Art manipuliert werden. Etwa, wenn eine Tochter vom Vater sexuell missbraucht wurde. Als wäre das nicht schlimm genug, wird sie auch noch angewiesen, nur ja nichts zu sagen. So vermittelt er ihr gleichzeitig, dass sie es ist, die etwas Böses getan hat. Die Einstellung „Mit mir stimmt etwas nicht“ kann sich aus dieser tragischen Konstellation entwickeln, eine Überzeugung, die ein überaus strenger Richter in allen Fragen der Körperlichkeit sein kann.
Ähnlich ist das mit Glaubenssätzen, die wir von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen übernehmen. Der Unterschied zum inneren Richter ist, dass Glaubenssätze als eine Art Lebensweisheit in Sprüchen daherkommen: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Frauen gehören an den Herd. Geld verdirbt den Charakter. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Männer denken immer nur an das eine. Frauen können nicht logisch denken. Unternehmer sind Ausbeuter. Oder eben jener, der oben in unserer Szene ausgesprochen wurde: Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens. Wir sind sicher, Sie können diese Liste mit Glaubenssätzen aus Ihrer Familie ergänzen. Wie eine Tradition übernehmen wir diese Sätze und hinterfragen sie meistens nicht.
Sowohl Glaubenssätze als auch diese strengen Sätze des inneren Richters beeinflussen unser Denken und Handeln, indem sie uns einschränken. Frauen sind nicht gut in Mathematik? Wenn ich als Frau diesen Satz verinnerlicht habe und dann während meines Soziologie-Studiums in einer Statistik-Vorlesung nur das Wort „Mittelwert“ höre, werde ich reflexartig abschalten und mich gar nicht erst bemühen, die Zusammenhänge zu verstehen. Oder ein anderes Beispiel: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Es liegt nahe, dass ich viel eher burnoutgefährdet bin, wenn ich an diesem Glaubenssatz festhalte. Der innere Richter kann da ganz schön grausam und ungnädig sein, so sehr, dass wir uns damit gar nicht gerne konfrontieren wollen.
Doch darin liegt auch ein großes Heilungspotenzial, und deswegen haben wir uns eine Partnerin, einen Partner ausgesucht, der dann unbewusst an genau den richtigen Stellen zupft. Um mit diesen inneren Stimmen zurechtzukommen, brauchen wir Menschen als eine Art Blitzableiter, auf die wir diese Stimmen projizieren. Da ist der Partner, die Partnerin die beste Adresse. Mitunter wird daraus ein richtiger Machtkampf, der damit beginnt, dass der Partner einem genau die Sätze des eigenen inneren Richters um die Ohren haut. Denn möglicherweise hat er einen sehr ähnlichen inneren Richter.4 Wenn der Partner zu uns sagt „Jetzt reiß dich zusammen, ist doch nicht so schlimm“, dann hat er vielleicht einen inneren Richter, der ihm zuraunt „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – und schon ist die höllische Mixtur beisammen und wir werden protestieren. Wie komme ich dazu, mir so etwas sagen zu lassen! So redest du nicht mit mir! Denn natürlich haben wir Gefühle und es geht nicht immer nur ums Zusammenreißen. Es geht genauso darum, dass der andere uns zuhört und uns tröstet. Gefühle zu zeigen ist die Würze des Lebens! So weist der eine auf das hin, was sie sich beide als Kinder nicht getraut haben, nämlich sich aufzulehnen gegen dieses strenge Regime. Letztlich aber ringen die zwei kleinen Kinder um die Befreiung von diesen inneren Richtern.
Achten Sie einmal darauf, was Ihr innerer Richter Ihnen so ins Ohr flüstert. Welche Glaubenssätze haben Sie mit auf den Weg bekommen? Prüfen Sie diese Sätze dann genau. Es muss ja nicht sein, dass sie Ihnen Probleme bereiten. „Mach schnell“ beispielsweise hat den großen Vorteil, dass private Projekte schnell voranschreiten und bald abgeschlossen sind, sodass sie einen nicht unnötig lang belasten. Wer jedoch deshalb sein Essen immer so schnell wie möglich hinunterschlingt oder im Urlaub nicht entspannt, weil er von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten rennen muss, tut sich nichts Gutes – und der Beziehung meist auch nicht.
Glaubenssätze prüfen Sie am besten, indem Sie überlegen, wie es wäre, ohne sie zu leben. Wir erinnern uns an ein Paar, bei dem beide den Glaubenssatz „Wir sind etwas Besseres“ hatten. Als sich das Paar vorstellte, ohne ihn zu leben, bekamen beide Angst. Wir haben einen Blick in ihre Vergangenheit geworfen und fanden auch den Grund: Beide kamen aus Familien mit Fluchthintergrund. Dieser Glaubenssatz half schon der Generation davor zu überleben. Das Paar selbst plagten die Ängste, ihre Heimatberechtigung, ihren Platz in unserer Welt zu verlieren.
Es ist eine Herausforderung, all diese geerbten Sätze loszuwerden. Manchmal hilft es, sich nach dem Motto „fake it until you make it“ auszuprobieren, um sich letztlich von ihnen zu befreien und etwas Neues gestalten zu können.
4In den Impulsen zum Thema „Wie konnte ich mich nur in den verlieben!“ können Sie lesen, warum dieser Gedanke naheliegt.