Kitabı oku: «Kirche ist Mission», sayfa 6
Quo Vadis?
Der Bericht des Social Concern Track bringt deutlich zum Ausdruck, dass das radikale Segment in der evangelikalen Bewegung unterdessen gut etabliert war. Aber nicht alle sprangen auf diesen Zug auf. In Manila wurde deutlich, dass sich die evangelikale Bewegung in mindestens zwei Lager geteilt hatte: Auf der einen Seite sind diejenigen, die sich der Welt zuwenden und die soziale Verantwortung in den Missionsauftrag integrieren mit dem Ziel der Transformation. Speerspitze dieses Lagers sind die radikalen Evangelikalen. Auf der anderen Seite sind jene, die am traditionellen Missionsverständnis festhalten und mehr auf Evangelisation und numerisches Wachstum der Kirche ausgerichtet sind. Diese beiden Lager sind in ihren Positionen nicht völlig miteinander zu vereinen. Sie sind sich aber darin eins, dass die Verkündigung des Evangeliums, seine Demonstration durch Taten der Barmherzigkeit und der Aufbau der Kirche evangelikale Kernaufgabe ist.
Der Zwiespalt in der evangelikalen Bewegung zeigt sich am Manila Manifest, der Abschlusserklärung des Kongresses. Einerseits wird die Vorrangigkeit der Verkündigung herausgestrichen: „Die Evangelisation ist vorrangig, weil es uns im Sinn des Evangeliums in erster Linie darum geht, dass alle Menschen Gelegenheit erhalten, Jesus Christus als Herrn und Retter anzunehmen“ (Manila Manifest 1989, Abschnitt 2, Absatz 4). Anderseits wird im selben Absatz festgehalten: „Wahre Mission muss immer inkarnatorisch sein.“ Inkarnatorische Mission bedeutet, dass wir „demütig Zugang suchen zu der Welt anderer Menschen, indem wir uns mit ihrer sozialen Wirklichkeit identifizieren, mit ihrer Trauer und ihrem Leid, mit ihrem Ringen um Gerechtigkeit und gegen Unterdrückungsmächte“ (ebd.). Doch gerade an diesem Punkt tat man sich schwer. Kurz vor dem Kongress hatte sich das chinesische Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens ereignet, was die Teilnahme chinesischer Christen am Kongress verunmöglichte. Leighton Ford (1990, 303) bedauerte diesen Umstand in seiner Eröffnungsrede zwar – verurteilt wurde das Massaker aber nicht. Auch am Ende des Kongresses erfolgte keine Reaktion, obwohl man sich im Manila Manifest (Abschnitt 1, Absatz 9) dazu verpflichtete, Unterdrückung zu verurteilen.
Manila brachte einen bemerkenswerten Prozess zum Abschluss. Es war unbestritten, dass Mission die soziale Verantwortung einschließt und durch Wort und Tat geschehen muss. Dieser Standpunkt ist von der evangelikalen Bewegung seit Manila nicht mehr hinterfragt worden. Andere Punkte blieben umstritten. Mission als Transformation hatte sich in Wheaton durchsetzen können, aber es war eine offene Frage, ob die dort gelegte Grundlage reichen würde, um die evangelikale Mission auf transformatorischen Kurs zu bringen. Radikale Elemente wie die prophetische Verwerfung von Ungerechtigkeit waren diskutiert, in der Praxis aber noch nicht erprobt worden. Und immer noch gab es eine beträchtliche Zahl von hauptsächlich westlichen Evangelikalen, welche die Weltzugewandheit der evangelikalen Mission als Gefahr sahen und lieber zur traditionellen Mission zurückgekehrt wären. Nach Manila war die Frage offen, wohin die Mission der weltweiten evangelikalen Bewegung sich entwickeln würde.
Manila bis Gegenwart
Seit dem Kongress in Manila hat es keine Missionskonferenzen mehr gegeben, aus denen grundlegende Neuerungen in der evangelikalen Missionstheologie resultierten. Überblickt man die Zeit seit Manila kann von einer Konsolidierung des ganzheitlichen Missionsbegriffs die Rede sein. Das zeigt sich am Forum für Weltevangelisation, das 2004 in Pattaya stattfand, wo in 31 so genannten Issue Groups die Herausforderungen der Mission diskutiert wurden. Im Vordergrund standen nicht theologische Fragen, sondern die Entwicklung von Szenarien, die es der Kirche, der Mission und christlichen Entwicklungsorganisationen ermöglichen sollten, ihren Auftrag auszuführen. Soziale Verantwortung, inkarnatorisches Handeln und transformatorisches Denken wurden vorausgesetzt. Zwar fehlt der evangelikalen Bewegung ein Konsenspapier, das Mission als Transformation offiziell legitimiert, aber die Praxis hat sich stark zur Transformation hin gewandelt. Das zeigt nicht zuletzt die Erklärung von Pattaya,14 in der es heißt:
Veränderung (Transformation) war ein Thema, das in den Arbeitsgruppen immer wieder in den Vordergrund trat. Wir erkennen an, dass wir immer wieder neu Umkehr und Umwandlung brauchen. Wir müssen uns immer weiter öffnen für die Führung durch den Heiligen Geist und für die Herausforderung durch Gottes Wort. Es ist nötig, dass wir zusammen mit anderen Christen in Christus wachsen. All dies soll in einer Weise geschehen, die zu sozialer und wirtschaftlicher (gesellschaftlicher) Veränderung führt. Wir erkennen an, dass die Breite des Evangeliums und der Bau des Reiches Gottes Leib und Seele sowie Verstand und Geist brauchen. Deshalb rufen wir zu einer zunehmenden Verbindung von Dienst an der Gesellschaft und Verkündigung des Evangeliums auf. (Pattaya II 2004, www.lausannerbewegung.de)
Die missiologischen Veränderungen, die in der Zeit zwischen Lausanne und Manila erstritten wurden, haben sich seit Manila verfestigt und sind in die Praxis übergegangen. Erhalten geblieben sind auch die unterschiedlichen missionstheologischen Positionen. Die evangelikale Bewegung lebt mit dieser Vielfalt und ist daran nicht zerbrochen. Es ist auch nicht so, dass die transformatorische Orientierung der Mission zu einer Verkürzung des Evangeliums geführt hätte. Vielmehr bestehen die traditionelle Sicht von Mission und die umfassendere, auf Transformation angelegte Sicht nebeneinander und ergänzen sich.
Ob die theologischen Grundlagen ausreichen, um Mission im Sinne der Zuwendung zur Welt langfristig zu erhalten, wird sich noch zeigen müssen, wie Tidball (1999, 281) bemerkt: „In diesem Licht muss gefragt werden, ob der evangelikale Aktivismus tief genug gegründet ist, um den eigenen Einsatz für die Welt durchhalten zu können, oder ob er allzu früh austrocknen wird, was zu Entmutigung, mangelnder Ausdauer und einem erneuten Rückzug aus der Welt führen müsste.“ In meiner Dissertation habe ich meine Überzeugung ausgesprochen, dass Tidballs Frage positiv beantwortet werden kann:
Man wird aber davon ausgehen können, dass die breite Aufnahme des erweiterten Missionsverständnisses in der Zwei-Drittel-Welt und in jüngster Zeit vermehrt auch im Westen, ein unumkehrbarer Trend ist, ja man wird von einem Paradigmenwechsel sprechen dürfen, der die missionstheologische Diskussion der Evangelikalen im 21. Jahrhundert prägen wird. (Hardmeier 2008, 75)
Von einer europäischen Warte aus mag die neuere Weltzugewandtheit der Evangelikalen als Aktivismus erscheinen, weil der Gedanke verhältnismäßig neu ist und wenig theologische Arbeit in dieser Hinsicht geleistet wurde. In der Zwei-Drittel-Welt sieht die Situation hingegen anders aus. Die radikalen Vertreter Lateinamerikas waren die ersten Evangelikalen, die sich in den 1960er Jahren mit dem Weltbezug der Mission zu befassen begonnen haben. Von ihnen liegen zahlreiche Publikationen vor, in denen die vielfältigen Aspekte von Mission als Transformation theologisch ausgelotet worden sind. Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag zur Diskussion leisten, denn es steht außer Frage, dass weitere theologische Arbeit geleistet werden muss. Die Fehler der 1970er Jahre dürfen in Europa nicht wiederholt werden. Viele junge evangelikaler Leiter waren damals vom Ruf, die Welt zu verändern begeistert. Die Begeisterung hat sich nicht als nachhaltig erwiesen. Die evangelikalen Kirchen in Europa haben keine soziale Agenda entwickelt und sind im alten Paradigma stecken geblieben. Offenbar fehlte es an gründlicher theologischer Arbeit, die deutlich gemacht hätte, dass die Zuwendung zur Welt, der Dienst an den Armen und die Veränderung der Gesellschaft eine solide biblische Grundlage hat.
Anmerkungen
1Auf diesen Umstand wies Harold Lindsell in Christianity Today hin (Nr. 10, 29. April 1966, 795).
2Latin American Congress on Evangelism vom 21.–29. November 1969 in Bogotá, Kolumbien.
3Der Thanksgiving Workshop on Evangelicals and Social Concern, der von Ronald Sider geleitet wurde. Sider wurde in der Folge zu einem der westlichen Hauptvertreter des radikalen Evangelikalismus.
4Zu den Verbindungen des erweiterten Missionsverständnisses mit der Befreiungstheologie und der kontextuellen Theologie siehe Kapitel 3.
5Zum Begriff „kontextuelle evangelikale Theologie“ siehe Kapitel 3.
6Der Zweite Lateinamerikanische Kongress über Evangelisation in Lima vom 31. Oktober bis 8. November 1979.
7Die All India Conference on Evangelical Social Action vom 2. bis 5. Oktober 1979 in Madras, Indien. Der deutsche Text der Madras Deklaration findet sich bei Sugden (1983, 147–151).
8Der deutsche Text findet sich in Burkhardt (1981).
9Der Konferenzband von Bangkok liegt auf Deutsch unter dem Titel Der ganze Christus für eine geteilte Welt: Evangelikale Christologien im Kontext von Armut, Machtlosigkeit und religiösem Pluralismus vor. Er wurde von Vinay Samuel und Chris Sugden herausgegeben.
10Der Konferenzbericht samt Schlussmanifest liegt auf Deutsch unter dem Titel Evangelisation mit Leidenschaft vor. Er wurde 1990 von Horst Marquart und Ulrich Parzany herausgegeben.
11Der Schotte Houston war damals neu gewählter Direktor der Lausanner Bewegung und früherer Präsident des Hilfswerks World Vision.
12Diese theologische Reflexion ist nicht verwunderlich, entstand der Abschlussbericht doch unter der Federführung von Vinay Samuel, einem radikalen Hauptvertreter. Samuel hatte in den Jahren vor Manila die Bedeutung der Armut für das Evangelium gründlich reflektiert und zahlreiche theologische Beiträge dazu verfasst.
13Das folgende Zitat ist auszugsweise wiedergegeben.
14Der Text entspricht der offiziellen deutschen Übersetzung „Pattaya II – Erklärung des Lausanner Forums 2004“ von Christof Sauer.
3 | DIE NEUE PERSPEKTIVE
Der Auftrag der Kirche in der Welt ist kein humanistisches Unternehmen, sondern ein vom Gott der Bibel verordnetes Geschehen. Unser Bibelverständnis und unsere Gewichtung und Auslegung von Bibeltexten haben direkten Einfluss auf unser Missionsverständnis. Welche Bibeltexte zeigen uns an, was Mission ist und wie der Auftrag der Mission ausgeführt werden soll?
Traditionell haben die Evangelikalen Mission vom stellvertretenden Tod Jesu sowie von Mt 28,18–20 und Parallelen her begründet. Dieser zentralen Heilstatsache und diesem zentralen Text wurden Priorität in der Formulierung eines biblischen Missionsverständnisses gegeben. Das führte zu einer Missionspraxis, in deren Zentrum die Verkündigung der Heilstatsache von Golgata, der Ruf zum Glauben und die Unterweisung in der Jüngerschaft steht. Dieses Missionsverständnis hat einen starken anthropozentrischen Fokus. Dem einzelnen Menschen mit seinem Bedürfnis nach Rettung und ewigem Leben gilt die Aufmerksamkeit der Mission.
In Kapitel 1 habe ich die Behauptung aufgestellt, dass das traditionelle Missionsverständnis der Evangelikalen für das koloniale Zeitalter ausreichend war. In der heutigen Welt mit ihren sozialen Verwerfungen und ihrer ökologischen Krise stellt es jedoch eine zu schmale Basis dar, um das Missionsgeschehen langfristig zu sichern. Diese Behauptung beruht auf der Überzeugung, dass die gesamte biblische Botschaft zur Begründung von Mission herangezogen werden muss. Nicht allein der Mensch mit seinem Bedürfnis nach Erlösung, sondern die Welt als Schöpfung Gottes ist Adressat der Mission. Dies führt zu einer verbreiterten biblischen Basis des Missionsgeschehens und verändert die Theorie und Praxis der Mission.
In Kapitel 2 habe ich gezeigt, dass seit dem Weltevangelisationskongress in Lausanne 1974 in der Zwei-Drittel-Welt eine solche verbreiterte Missionsbegründung herangereift ist. Sie hat sich unter zum Teil heftigem Widerspruch einen legitimen Platz in der evangelikalen Theologie gesichert. Worin aber besteht diese verbreiterte Missionsbegründung eigentlich? Von wo her argumentieren ihre Vertreter? Welche biblischen Texte oder Themen stehen im Vordergrund? Dieses Kapitel will diese Fragen beantworten. Es geht darum, offen zu legen, welche hermeneutischen Vorüberlegungen einem ganzheitlichen Missionsverständnis zugrunde liegen. Ich werde aufzeigen, dass ein ganzheitliches Missionsverständnis auf der folgenden Art von Bibelauslegung beruht:
• Sie ist kontextueller Natur. Sie bezieht das Umfeld in die Auslegung ein, in dem sich der Ausleger befindet. Der Begriff „Kontext“ steht für das Umfeld bzw. die Situation, um die es geht.
• Sie hat integrativen Charakter. Sie sucht die biblische Wahrheit nicht in Abgrenzung von anderen Denkansätzen zu erkennen, sondern will von ihnen lernen. Sie integriert Erkenntnisse anderer theologischer Positionen in die eigene Sicht, sofern sie ihr nicht widersprechen.
• Sie geht paradigmatisch vor. Sie benutzt das Alte Testament als Denkrahmen für die Aufgabe der Kirche und der Mission. Der Begriff „Paradigma“ steht für einen Denkrahmen bzw. eine Weltanschauung.
Kontextuell, integrativ, paradigmatisch – diese Stichworte liefern den Argumentationsrahmen in diesem Kapitel für ein ganzheitliches Missionsverständnis. Mit der Bezeichnung „ganzheitlich“ beziehe ich mich auf ein Missionsverständnis, das die biblische Ganzheit zurückgewinnen will, indem nicht die geistlichen auf Kosten der körperlichen Bedürfnisse und die jenseitigen auf Kosten der diesseitigen Belange vernachlässigt werden. Der ganze Mensch mit all seinen Bedürfnissen steht im missionarischen Fokus. Diese Ganzheitlichkeit schließt auch die Gesellschaft und die Schöpfung ein, weil diese das soziale und ökologische Umfeld bilden, in dem der Mensch lebt.
kontextuell
Ganzheitliche Mission mit transformatorischer Orientierung gründet auf der Überzeugung, dass der Kontext, in dem Mission geschieht, von entscheidender Wichtigkeit für die Theorie und Praxis der Mission ist. Diese Überzeugung ist der so genannten kontextuellen Theologie entlehnt. Das besondere Merkmal der kontextuellen Theologie ist ihr Wirklichkeitsbezug. Sie versteht Theologie weniger als akademische Disziplin, sondern als Reflexion der Praxis. „Reflexion“ meint ein prüfendes Nachdenken über die Aussagen der Bibel im Lichte einer bestimmten Situation. Der kontextuell Denkende geht davon aus, dass die Situation in der er sich befindet, ihn und das Ergebnis seiner theologischen Arbeit beeinflusst. Und er will durch seine theologische Arbeit oder seine missionarische Praxis die Situation verändern, in der er sich befindet. Kontextuelle Theologie ist weniger auf die Sicherung von Wahrheit ausgerichtet als auf das Bemühen, theologische Relevanz zu erzielen. Kontextuelle Theologie möchte z. B. erreichen, dass das Evangelium für schwarze Minderheiten in Asien relevant wird und ihnen hilft, sich in ihrem Umfeld zu behaupten.
Geschichtlich gesehen gingen die kontextuellen Theologien von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie der 1960er Jahre und der ökumenischen Diskussion um dieselbe Zeit aus. In manchen Fällen führte der kontextuelle Ansatz zu theologisch liberalen Positionen und zur Preisgabe der biblischen Mitte des Evangeliums. Unter den Evangelikalen hat dieser Umstand in aller Regel zur Ablehnung der kontextuellen Theologie geführt. Es kam von evangelikaler Seite zu einer Ineinssetzung von kontextueller und liberaler Theologie. Die liberalen Tendenzen bedeuten jedoch nicht, dass die kontextuelle Theologie grundsätzlich abzulehnen ist, denn unterdessen hat sich eine kontextuelle Leseart evangelikalen Zuschnitts entwickelt. Ihr Ziel ist es, Erkenntnisse der kontextuellen Theologie im Rahmen eines evangelikalen Schriftverständnisses fruchtbar zu machen. Es ist diese neue Perspektive, die in der evangelikalen Bewegung ein ganzheitliches, auf Transformation ausgerichtetes Missionsverständnis erzeugte.
Prämissen
Wir werden später der Frage nachgehen, worin der Unterschied zwischen dem liberalen und dem evangelikalen Zuschnitt kontextueller Theologie liegt. Zuerst wollen wir uns einen Überblick verschaffen und erläutern, was mit einer kontextuellen Theologie aus evangelikaler Perspektive gemeint ist. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass in der evangelikalen kontextuellen Theologie alle historischen Wahrheiten des christlichen Glaubens von Herzen bejaht werden. Sie unterscheidet sich von der klassischen evangelikalen Theologie hauptsächlich in der Art und Weise wie versucht wird, Wahrheit zu erkennen, und sie gewichtet bestimmte Themen neu. Die kontextuelle evangelikale Theologie hebt sich durch vier Prämissen vom klassischen Ansatz ab:
Erstens geht die kontextuelle evangelikale Theologie davon aus, dass die biblische Wahrheit nur adäquat erfasst werden kann, wenn der Kontext mit bedacht wird, in dem sich der Theologe oder Missionar befindet. Orlando Costas (1974b, 191–193) schreibt: „Jede Generation muss mit ihrer eigenen Situation zur Bibel und zum Evangelium gehen, wenn sie all die Dimensionen der erlösenden Mission Gottes in ihrer Mitte wirklich verstehen will.“ Der Ausgangspunkt des theologischen Prozesses muss der Kontext sein, in dem sich der Missionar oder Theologe befindet. Sein Engagement (Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen oder kirchlichen Leben) ermöglicht es ihm, Fragen zu formulieren und Prinzipien zu entdecken, die für die Situation relevant sind, in der er sich befindet. Mit den Fragen, die sich aus seiner Situation ergeben, tritt er an die Bibel heran und versucht er ihre Botschaft im Lichte dieser Situation zu verstehen (Sugden 1983, 124). Dieses Vorgehen wird als „Reflexion der Praxis“ bezeichnet. Es geht um einen ständigen Prozess, in dem Fragen, die sich aus der Situation ergeben, an die Bibel gestellt werden und in dem Antworten, die sich in der Bibel finden, wieder auf die Situation angewendet werden.
Dadurch, dass in der kontextuellen Theologie dem Kontext große Aufmerksamkeit geschenkt wird, kommt es zu einem veränderten Zugang zur Wahrheit. Während die traditionelle evangelikale Bibelauslegung deduktiven Charakter hat, zieht die kontextuelle Auslegung die induktive Vorgehensweise vor. Deduktiv bedeutet, dass von der Schrift her Wahrheit auf eine bestimmte Situation abgeleitet wird. Induktiv steht für den Prozess in umgekehrter Richtung. Es wird von einer konkreten Situation her die Bibel befragt. Sugden erklärt:
Wir gehen … von der Situation aus, in der wir leben, den Problemen, vor denen wir stehen, den Entscheidungen, die wir bei der Erziehung unserer Kinder zu treffen haben, der Rolle, die wir in unserer Nachbarschaft spielen. Wir können aus diesen Problemen einige Grundprinzipien, Wertvorstellungen, Fragen und Entscheidungen ableiten, mit diesen dann an die Bibel herangehen und fragen, in welcher Weise Gottes Wort und die biblische Vorstellung vom Menschen Licht in unsere Problematik bringen. (Sugden 1983, 124)
Durch die induktive Vorgehensweise entsteht eine Bibelauslegung mit einem starken Wirklichkeitsbezug. Die kontextuelle Theologie räumt gründlich mit der Illusion auf, dass es möglich sei, eine neutrale Theologie zu formulieren, die nur noch angewendet werden müsse. Sie sieht die christliche Theologie nicht als ein Medikament an, das in einem Pharmaunternehmen im Westen produziert wird und bei Weißen ebenso wirkt wie bei Asiaten oder Afrikanern. Der kontextuelle Theologe rechnet damit, dass die Betroffenheit des Auslegers das Ergebnis seiner Auslegung mit bestimmt. Kontextuelle Theologie geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie behauptet, dass nur innerhalb des jeweiligen Kontexts die Bedeutung der Bibel für diesen Kontext richtig erfasst werden kann. Konkret: Was das Evangelium von Jesus Christus für verarmte Kleinbauern im ländlichen Indien bedeutet, kann nur von diesen Bauern selbst verstanden werden und von denen, die ihr kärgliches Leben solidarisch teilen und mit ihnen die Bedeutung der Bibel zu ergründen suchen.
Zweitens müssen nach kontextuellem evangelikalem Verständnis Missiologie und Theologie nicht vom Zentrum der Macht aus entwickelt werden, sondern von der Peripherie her (Escobar 2000a, 112). In dieser Forderung widerspiegelt sich der Umstand, dass die kontextuelle Leseart der Bibel von der südlichen Hemisphäre ausging, von dort also, wo sich nach westlichem Verständnis die Peripherie der Weltgemeinschaft befindet. An eben dieser Peripherie entdeckte man durch den Entschluss, die Bibel durch die eigene Wahrnehmung zu lesen, vergessene Aspekte des Evangeliums. Zu diesen vergessenen Aspekten gehört die Bedeutung der Armen, die in der Missionstheologie lange eine untergeordnete Rolle spielten.
Die Sorge um die Armen ist eines der beherrschenden Themen in der Bibel. Eine ganze Reihe alttestamentlicher Gesetze sind der Verhinderung oder der Milderung der Armut gewidmet. Die Propheten haben beständig auf die Verantwortung für die Armen hingewiesen. Und Jesus nahm sich den Armen an und definierte seine Mission als Sendung zu ihnen (Lk 4,18). Die meisten kontextuellen Theologien gingen von peripheren Regionen der Welt aus (z. B. Lateinamerika, welche die Befreiungstheologie hervorbrachte) oder wurden von marginalisierten Gruppen entwickelt (z. B. der schwarzen Bevölkerungsschicht, welche die Black Theology hervorbrachte).
Die Evangelikalen Lateinamerikas haben unter der Führung von Radikalen der ersten Stunde wie René Padilla, Orlando Costas und Samuel Escobar diese periphere Sichtweise übernommen und in Verbindung mit dem evangelikalen Schriftprinzip gebracht. Sie erkannten, dass die traditionelle evangelikale Theologie stark mit der Kultur des Westens verbunden war und dass die peripheren Regionen der Erde durchaus ihren eigenen Beitrag zum Verständnis des Evangeliums leisten können.
Drittens spielen die Armen eine wichtige hermeneutische Rolle im Auslegungsprozess der kontextuellen evangelikalen Theologie. Einer der ersten Evangelikalen aus dem Westen, der auf diesen Umstand hinwies, war Waldron Scott, ehemaliger Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz. Er verlangte, dass wir es lernen müssen, „die Bibel durch die Augen der Armen zu lesen, denn Armut ist der bestimmende Lebensumstand von mindestens Dreivierteln der Weltbevölkerung. Wir müssen sie durch die Augen derer lesen, die nicht weiß, schwach, unterdrückt und verzweifelt sind“ (Scott 1997 [1980], 241).
Der indische Missionstheologe Vinay Samuel hat sich ausführlich mit der theologischen Bedeutung der Armut befasst. Seine Ausführungen über die hermeneutische Rolle der Armen widerspiegelt die theologische Bedeutung gut, welche die Evangelikalen der Zwei-Drittel-Welt den Armen zuschreiben:1
Die Fokussierung auf die Armen ermöglicht eine Demonstration des Evangeliums, das für alle Menschen gilt. Im Alten Testament ist die Gnade Gottes für alle verfügbar. Die Realität der Gnade und ihre wahre Natur wird durch das offenbart, was sie für Israel bedeutete. Im Neuen Testament ersetzen die Armen Israel als Fokus des Evangeliums. Dadurch, dass die Armen gerufen werden und die Massen sich an der Erfahrung des Evangeliums freuen, wird die wahre Natur des Evangeliums für andere deutlich. Das bedeutet in keiner Weise, dass das Evangelium nicht für andere Gruppen ist. Es bedeutet vielmehr, dass es durch die Erfahrung der Armut vermittelt werden muss. Die Fülle des Evangeliums konnte nur erkannt werden, wenn seine Natur durch diese marginalisierte Gruppe [die Armen] offenbart wurde. (Sugden 1997, 159–160)
Es geht Samuel und anderen radikalen Vertretern nicht um eine Idealisierung der Armen. Die Armen sind nicht besser oder schlechter als etwa die Reichen. Eine „hermeneutische Rolle“ der Armen gibt es deshalb, weil ihnen das Evangelium im Besonderen gilt. Wenn das Evangelium wirklich gute Nachricht für die Armen ist, wie Mt 11,4–5 und Lk 4,18 sagen, dann verstehen wir die Bedeutung des Evangeliums in der Tat am besten durch die Erfahrung der Armut. Armut ist ein Übel, aber es ist ein Übel, das die Augen für die Bedeutung des Evangeliums öffnet.
Viertens geht die evangelikale kontextuelle Theologie davon aus, dass die Bibel als kontextuelles Buch verstanden und entsprechend ausgelegt werden muss. Die Bibel ist nicht ohne Bezug zur Wirklichkeit entstanden. Die biblischen Autoren haben immer eine bestimmte Antwort auf eine bestimmte Situation gegeben. Deshalb ist die Bibel selbst ein zutiefst kontextuelles Buch. In den Worten von Orlando Costas: „Biblische Kontextualisierung gründet in der Tatsache, dass der Gott der Offenbarung nur innerhalb der Geschichte erkannt werden kann. Solche Offenbarung ereignet sich unter bestimmten Völkern und konkreten Situationen durch spezielle kulturelle Symbole und Kategorien“ (Costas 1982, 5). Costas erkennt diesen kontextuellen Zug vor allem im Alten Testament: „Man kann das Alte Testament nicht lesen ohne erstaunt zu sein über den menschlichen Charakter seiner großen Behauptungen. Die Theologie des Alten Testamentes ist eine kulturgebundene, geschichtlich verankerte Reflektion Gottes in menschlicher Sprache“ (ebd.).
Wahrheit und Kultur bzw. Kontext sind nach kontextueller Leseart also eng miteinander verbunden. Die biblischen Autoren befanden sich in ihrem je eigenen Kontext. In diesem Kontext haben sie über den Glauben Israels oder die Mission der Kirche nachgedacht und nach göttlichen Antworten gesucht. Die inspirierten Antworten, die sie unter der Leitung des Heiligen Geistes gaben, waren eine direkte Folge ihres Nachdenkens in ihrem Kontext. Weil die Bibel im Kontext vieler verschiedener Geschichten entstand, ist sie ein kontextuelles Buch, das entsprechend ausgelegt werden will.
Die Beachtung des Kontexts, eine periphere Perspektive und eine Hermeneutik der Armen – damit ist die kontextuelle Theologie evangelikaler Prägung umrissen. Wie wir noch sehen werden, hat dies profunde Auswirkungen auf Kirche und Mission.