Kitabı oku: «Traumatische Verluste», sayfa 3

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1.5Interventionen: Das Erstgespräch und die Verlustdiagnostik

Menschen kommen nach einem traumatisierenden Verlust zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit unterschiedlichen Verlusttrauma-Reaktionen und diversen Symptomen, mit denen wir unterschiedlich umgehen müssen und die wir wie folgt kategorisieren können.

Die Hinterbliebenen kommen also

unmittelbar nach dem Verlusttrauma: Inzwischen kommen Hinterbliebene meist sehr frühzeitig, oft wenige Wochen oder sogar unmittelbar nach dem traumatischen Verlust, an eine Beratungsinstitution oder zu niedergelassenen Psychotherapeuten, weil Kriseninterventionsdienst und Notfallseelsorge dringend eine professionelle Hilfe anraten oder auch vermitteln. Sie kommen in ihrem eigenen Verständnis als Trauernde meist zur Trauerbegleitung oder Trauerberatung. Aber fachlich verstanden sind sie traumatisierte und trauernde Hinterbliebene. Sie stehen in dieser frühen Phase noch ganz unter dem oben beschriebenen Eindruck der unmittelbaren Traumatisierung und des schweren Verlustes und bringen deshalb neben dem Verlustschmerz auch die unmittelbaren psychophysiologischen Reaktionen einer Traumatisierung (vgl. Kapitel 2) mit.

etwa sechs Monate nach dem Verlusttrauma: Häufig kommen die Hinterbliebenen etwa ein halbes Jahr nach dem traumatisierenden Verlust, weil nun die konkreten Pflichten, die mit dem Tod des nahen Menschen verbunden waren, weitgehend abgeschlossen sind. Nun wird meist der Verlustschmerz intensiver. Viele Hinterbliebene leiden aber auch daran, dass das Erleben der Dissoziation wie emotionale Taubheit nicht nachlässt. Dazu kommt, dass sich Angehörige und Freunde mit zunehmender Dauer überfordert fühlen und die Hinterbliebenen zur Inanspruchnahme von professioneller Hilfe drängen oder sich auch zurückziehen. Die Hinterbliebenen befinden sich nach den ersten sechs Monaten noch immer in der unmittelbaren Traumareaktion, insbesondere im dissoziativen Erleben, zugleich werden der Verlustschmerz und offene Fragen beispielsweise nach der ungeklärten Schuld oder Mitschuld stärker.

kurz vor oder nach dem ersten Todestag: Der erste Todestag ist aus vielen Gründen ein belastender, schmerzlicher Einschnitt im Verarbeitungsprozess nach einem traumatischen Verlust, bei dem die Hinterbliebenen oft spüren, dass sie mit den ersten Folgen des traumatisierenden Verlustes (vgl. Kapitel 2 und 3) nicht selbst zurechtkommen. Insbesondere die Erfahrung der bleibenden Dissoziation, der Erstarrung und der Flashbacks sowie die intensiven, oft noch zunehmenden Verlustschmerz-Attacken sind für die Hinterbliebenen sehr verstörend. Auch die Erfahrung, dass nach (!) dem ersten Todestag, also erst im zweiten Trauerjahr, entgegen der eigenen Erwartungen der Verlustschmerz intensiver (!) wird, bewegt Hinterbliebene, professionelle Hilfe aufzusuchen.

nach etwa 18 bis 24 Monaten mit einer Komplizierten Trauma-Trauer-Folge-Störung: Wenn es nach etwa 18 Monaten keine erste Linderung der Verlusttrauma-Folgen, sondern wie häufig vorkommend, eher eine Intensivierung gibt, dann liegt in aller Regel eine Komplizierte Trauma-Trauer-Folge-Störung (im Weiteren abgekürzt als KTTS, vgl. Kapitel 4) vor, bei der sich die Traumareaktionen und die Verlustreaktionen gegenseitig verstärken, sodass sich nun fixierte Traumafolgen einstellen. Die Hinterbliebenen leiden dann z. B. daran, dass die Attacken des Verlustschmerzes intensiver werden und diese die Traumareaktion triggern, sodass sie keinen Zugang zu ihrem verstorbenen nahen Menschen finden oder keinen Lebenssinn mehr sehen. Die KTTS kann oft noch im Rahmen einer Beratungsinstitution als Verlusttrauma-Beratung behandelt werden, meist aber braucht es die Behandlung im Rahmen einer Psychotherapie.

nach etwa 24 Monaten mit chronifizierten psychischen Folgesymptomen wie einer Depression oder psychosomatischen Symptomatik: Hier ist nun die KTTS in eine psychische Folgesymptomatik, oft mit deutlichem Krankheitswert umgeschlagen oder hat sich entsprechend dorthin entwickelt. Nun steht bei den Patienten zunächst die konkrete Symptomatik wie eine Depression (ICD F32) oder eine psychosomatische Erkrankung wie etwa eine anhaltende Schmerzstörung (ICD F45.4) oder massive Herzbeschwerden im Sinne einer Herzneurose (ICD F45.30) im Mittelpunkt des Erlebens und veranlasst die Hinterbliebenen, professionelle Hilfe aufzusuchen, wobei meist der Zusammenhang zum Verlusttrauma gesehen oder geahnt wird.

Für die ersten drei beschriebenen Situationen, oft auch bei einer leichteren KTTS, eignet sich eine

Verlusttrauma-Beratung: Sie setzt in aller Regel unmittelbar nach dem Verlust, oft auch nach sechs Monaten oder in der Zeit um den ersten Todestag ein. Das unmittelbare Ziel der Verlusttrauma-Beratung liegt darin, die Hinterbliebenen bei einer heilsamen Transformation des Verlusttraumas zu unterstützen und damit die Entwicklung in Richtung einer KTTS zu verhindern. Anders gesagt geht es hier darum, die Traumatisierung zu lösen, den Realisierungs- und Beziehungsprozess in Fluss zu bringen und über verschiedene Schwierigkeiten hinweg im Fluss zu halten, sodass ein wieder glückendes Leben mit der Integration des Verlusttraumas und der inneren Beziehung zum Verstorbenen möglich wird (Kachler 2019).

Dieser Beratungsprozess kann an einer Beratungsinstitution oder im Rahmen einer Psychotherapie stattfinden. Beratungsinstitutionen müssen allerdings klären, ob sie für eine Verlusttrauma-Beratung die genügende Anzahl von etwa 30 bis 40 Sitzungen und einen Zeitraum von meist anderthalb bis zwei Jahren zur Verfügung stellen können.

Viele von einem Verlusttrauma Betroffene suchen zunächst auch eine Trauerbegleitung bei Ehrenamtlichen oder eine Trauergruppe auf. Das kann für Betroffene eine wichtige erste Anlaufstelle sein. In aller Regel ist dann aber eine Weiterverweisung an eine professionelle Beratungsinstitution oder Psychotherapie notwendig.

Hat sich nach einem Verlusttrauma über längere Zeit eine schwere KTTS oder eine psychische Folgesymptomatik wie eine Depression oder ein Schmerzsyndrom entwickelt, braucht es eine

Verlusttrauma-Psychotherapie: Betroffene kommen meist nach etwa 24 Monaten mit einem konkreten Symptom wie einer Depression oder psychosomatischen Symptomatik, unter der sie dauerhaft und intensiv leiden. Meist führen sie selbst oder andere Verweisende wie Ärzte oder Familienangehörige die Symptomatik auf das Verlusttrauma zurück. Diese Verlusttrauma-Psychotherapie muss im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung mit wöchentlichen Sitzungen in einer Anzahl von 60 bis 80 Stunden über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren durchgeführt werden. Ist dazu die Stabilität der Patienten gefährdet, bietet sich als Einleitung und Vorbereitung einer Verlusttrauma-Psychotherapie auch der Aufenthalt in einer psychotherapeutischen Klinik an.

Wir wenden uns zunächst dem Erstgespräch für die Verlusttrauma-Beratung zu, wobei die meisten Elemente auch für die Verlusttrauma-Psychotherapie wichtig sind.

Vor dem Erstgespräch kennen wir aus der Anmeldung per Telefon oder Mail die wichtigsten Informationen über den Tod und die Todesumstände des verstorbenen nahen Menschen, sodass wir meist schon absehen können, ob die oben beschriebenen Kriterien eines traumatischen Verlustes vorliegen. Das Erstgespräch dient neben der Kontaktaufnahme und ersten Beziehungsanbahnung auch dazu, die Schwere der Traumatisierung und der Trauerreaktion einzuschätzen. Dazu möchte ich folgende Prozessschritte vorschlagen:

Begrüßung und Beileid: Wir sprechen bei der Begrüßung unser Beileid für die Betroffenen aus: »Mein Beileid zum Tod Ihres Mannes« oder »Der Tod Ihres Kindes tut mir sehr leid.«

Wir benutzen hier die bekannten traditionellen Formeln, da diese zunächst kommunikative Sicherheit bieten. Dabei geben wir einen festen Händedruck und schauen den Betroffenen – sofern sie nicht die Augen niederschlagen – in die Augen, um von Beginn an zu signalisieren, dass wir ihr Leid und ihren Schmerz aushalten und mit ihm umgehen können.

Mitgefühl für den Verstorbenen und die Hinterbliebenen: Wir sprechen unser Mitgefühl für den Verstorbenen (!) und die Hinterbliebenen aus: »Es ist schlimm, was Ihrem lieben Menschen geschehen ist. Es tut mir leid, dass er nicht mehr leben darf und Sie den schweren Trauerweg gehen müssen.«

Beachte!

Unser Mitgefühl bezieht sich zuerst auf den Verstorbenen, dann auf die vom Verlust betroffenen Hinterbliebenen.

Äußere Stabilität und Versorgung sichern: Wir laden die Hinterbliebenen ein, sich sicher in den Stuhl zu setzen, und fragen nach, ob sie sich dabei gut gehalten fühlen. Wir sollten in jedem Fall ein Glas Wasser zur Verfügung stellen und fragen, ob die Hinterbliebenen jetzt für dieses schwere Gespräch noch etwas Weiteres brauchen.

Fragen zur Person des Verstorbenen: Wir stellen zu Beginn einige objektivierende Fragen zum Verstorbenen, nach seinem Alter, seiner Situation in Ausbildung oder Beruf und seinem Beziehungsstatus. Häufig zeigen uns die Hinterbliebenen auch Fotos von dem Verstorbenen, die wir würdigend aufgreifen. Hier können wir noch einmal unser Bedauern über den Tod gerade dieses nahen Menschen erneuern. Dann erläutern wir, dass wir uns später noch sehr viel Zeit für diesen verstorbenen lieben Menschen nehmen werden und dass auch er im Zentrum der Gespräche stehen wird, um dann zu seinem Sterben und Tod zu gehen.

Einladung zum Berichten über das Sterben und den Tod des nahen Menschen: Wir bitten die Hinterbliebenen, uns zu erzählen, was mit dem verstorbenen nahen Menschen geschehen ist. Dabei ist der Fokus ganz bei dem Verstorbenen, seinem Sterben und seinem Tod. Wir interessieren uns zunächst ganz für ihn. Dies entspricht dem Gefühl und dem Wunsch der Hinterbliebenen, deren Liebe und Mitgefühl für den Verstorbenen ganz bei ihm ist.

Nachfragen auf der Ebene der Ereignisse und Fakten: Wir explorieren dann mit einfachen Fragen nach dem Wann, Wo und besonders nach dem Wie, was mit dem Verstorbenen im Einzelnen bei seinem Sterben und Tod geschehen ist.

Beachte!

Der Fokus der Verlustdiagnostik bezieht sich zunächst ganz auf den Verstorbenen und auf die faktischen Ereignisse bei seinem Sterben und Tod.

Objektivierende Rekonstruktion des Sterbens und Todes des nahen Menschen: Häufig ist der Bericht der Hinterbliebenen fragmentiert, zunächst unvollständig oder an Einzelheiten fixiert. Über das strukturierte Befragen und Ordnen der Fakten rekonstruieren wir die äußeren Abläufe des Sterbens und des Todes des nahen Menschen und bringen diese in eine zusammenhängende Form.

Beachte!

Wir fragen im Erstgespräch noch nicht nach dem Erleben des Verstorbenen bei seinem Sterben. Dies kann zu einer Destabilisierung führen. Bringen die Hinterbliebenen das Erleben des Verstorbenen ein, greifen wir es empathisch auf, aber begrenzen es und sagen eine spätere Bearbeitung zu.

Prozesssteuerung durch Verlangsamung und Pausen: Wir achten sehr genau darauf, dass die Hinterbliebenen bei diesem Befragungsprozess genügend Selbstkontrolle besitzen. Diese wird auch von den Wirkungen des Schocks und den dissoziativen Prozessen unterstützt. Wir fragen immer wieder nach, ob die Betroffenen genügend Kraft zum Fortfahren haben, ob eine Pause nötig ist oder ob wir langsamer vorgehen sollen.

Beachte!

Bei einer Destabilisierung der Hinterbliebenen im Erstgespräch setzen wir die in Kapitel 5.1 beschriebenen Stabilisierungsmethoden ein; bei einer einsetzenden Dissoziation reorientieren wir die Hinterbliebenen ins Hier und Jetzt (vgl. Kapitel 5.4).

Offene Fragen und Themen in Hinblick auf den Verstorbenen: Als Abschluss dieser Rekonstruktion des Sterbens und des Todes des nahen Menschen fragen wir, ob wir in Hinblick auf sein Sterben und seinen Tod etwas außer Acht gelassen haben und ob es noch etwas Wichtiges gibt, das bisher noch nicht benannt wurde.

Fokuswechsel auf das Erleben der Hinterbliebenen: Nun können wir vom Verstorbenen und seinem Sterben und Tod weggehen und uns dem Erleben der Hinterbliebenen zuwenden: »Das alles, was mit Ihrem lieben Mann passiert ist, muss für Sie schrecklich gewesen sein und ist es wohl immer noch!?« oder »Darf ich nun fragen, was mit Ihnen bei all dem passiert ist?« Hier fragen wir zunächst die Traumareaktionen, dann die Verlustreaktionen und auch erste Nähe- und Beziehungsgefühle zum verstorbenen nahen Menschen ab (Kachler 2019). Auch hier bleiben wir im ersten Gespräch auf der objektivierenden Berichtsebene, ohne das Erleben oder die Emotionen durch näheres Nachfragen zu vertiefen. Meist bleibt im Erstgespräch nur eine begrenzte Zeit für diesen Fokus auf die Hinterbliebenen, sodass wir die Fortführung dieser Exploration für die nächste Sitzung ankündigen.

Containing von aufbrechenden Schmerz- und Trauergefühlen: Bei dem Erstgespräch werden sehr wahrscheinlich Verlustschmerz und Trauer aufbrechen. Wir greifen sie auf, benennen sie einfühlsam und halten sie aus. Wichtig dabei ist, dass wir sie nicht vertiefen, sondern sie begrenzen und eine spätere Beschäftigung mit ihnen ankündigen.

Diese Struktur des Erstgespräches findet in aller Regel in der ersten Zeit nach einem Verlusttrauma, also bis zum 18. Monat statt. Kommen die Hinterbliebenen aber schon mit einer beginnenden KTTS oder einer mit dem Verlusttrauma zusammenhängenden Folgesymptomatik wie einer Depression oder einer Schmerzproblematik, beginnen wir das Gespräch mit den Symptomen der KTTS oder mit der Folgesymptomatik und dem damit verknüpften Anliegen (vgl. Kapitel 4 und 10), um dann ebenfalls wie hier beschrieben zur Verlustsituation und zum verstorbenen nahen Menschen zu gehen.

Im letzten Abschnitt des ersten Gespräches, für das wir uns 90 Minuten Zeit nehmen sollten, bieten wir aktiv mögliche Ziele einer längeren gemeinsamen Arbeit an (vgl. Kapitel 3.6), fragen nach, ob sich die Hinterbliebenen eine weitere Zusammenarbeit im Sinne einer Verlusttrauma-Beratung oder Verlusttrauma-Psychotherapie vorstellen können, und treffen dann erste Vereinbarungen für das weitere Vorgehen. Wir klären ab, ob die Hinterbliebenen die Zeit bis zum nächsten Gespräch stabil überstehen können und ob sie dafür eventuell Hilfe brauchen.

Für die nächste Sitzung bitten wir die Hinterbliebenen, einige den Verstorbenen kennzeichnende Fotografien mitzubringen und sich zu überlegen, was sie vom und über den Verstorbenen erzählen wollen.

1 Generell benutzte ich gleichrangig wechselnd die weibliche und männliche Form, also z. B. »der Therapeut« oder »die Therapeutin«. Bei dem Begriff »Verstorbener« habe ich aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nur die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind damit immer auch weibliche Verstorbene gemeint.

2 Die Rubrik »Merke!« fasst die wesentlichen Inhalte jedes Abschnittes konzentriert und knapp zusammen.

3 Die Rubrik »Beachte!« fasst Handlungsanleitungen konzentriert zusammen oder macht auf mögliche Behandlungsfehler oder entscheidende Weichenstellungen in der Behandlung aufmerksam.

2Was bewirkt ein traumatischer Verlust akut? – Peritraumatische Verlusttrauma-Reaktionen

Fallbeispiel 2: Der Albtraum, der nicht wahr sein darf

Eine Mutter beschreibt ihr Erleben vier Wochen nach dem Unfalltod ihres 22-jährigen Sohnes so: »Ich bin wie in einem Albtraum. Ich sehe immer wieder die Bilder, wie mein Sohn mit seinem Motorrad gegen den Baum fährt, wie er durch die Luft fliegt und wie er dann auf dem Boden aufschlägt. Die Bilder kommen immer wieder, auch nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Ich kann nichts gegen sie machen. Ich sehe, wie die Polizei vor der Türe steht, und da weiß ich schon alles. Ich sehe mich, wie ich zusammenbreche.

Das alles kann nicht wahr sein, darf nicht wahr sein. Ich gehe wie auf Wolken und habe Angst, gleich abzustürzen. Ich will, dass dieser Albtraum aufhört und sich alles als Irrtum herausstellt. Immer wieder höre ich vor dem Haus das Motorrad meines Sohnes und denke, dass er gleich die Haustür aufschließt und hereinkommt. Ich gehe in den Flur – doch er kommt nicht. Dann breche ich weinend zusammen, und der schreckliche Albtraum hat mich wieder, und dann spüre ich gar nichts mehr, nur Fühllosigkeit, manchmal Kälte, sonst gar nichts.«

2.1Die akuten Traumareaktionen als neurobiologische Reaktion des Organismus

Trauer wird in der klassischen Trauerpsychologie häufig immer noch als vorwiegend psychologische Reaktion auf einen Verlust verstanden. Doch der Verlustschmerz, und dann nachfolgend die Trauer, ist eine Reaktion des ganzen Organismus eines Menschen (O’Connor 2019), und dies gilt noch viel stärker bei einem traumatisierenden Verlust (Pearlman et. al. 2014). Die unmittelbare Traumareaktion und der Verlustschmerz sind als eine zweifache neurobiologische Reaktion des Gehirns und des gesamten Organismus zu verstehen. Daran sind zwei sehr wichtige neuropsychologische Systeme beteiligt: zum einen das dem unmittelbaren Überleben dienende Kampf- und Fluchtsystem (vgl. Exkurs Kapitel 1), zum anderen das Bindungssystem (Brisch 2019), hier besonders der Teil des Paniksystems (Panksepp 2004).

Merke!

Bei einem traumatisierenden Verlust bilden zwei fundamentale neurobiologische Überlebenssysteme die Basis für das Erleben und die neurophysiologische Reaktion des ganzen Organismus: das evolutionsbiologisch angelegte Kampf- und Fluchtsystem und das ebenfalls in der evolutionären Entwicklung von Säugetieren entstandene Bindungssystem.

Entscheidend ist nun, dass das Verlusttrauma in beiden Systemen auf die subcortikale Ebene des Gehirns wirkt, besonders im limbischen System, dem emotionalen Zentrum des Gehirns, und im Hirnstamm. Das limbische System reagiert auf eine Lebensbedrohung und auf die Bedrohung einer wichtigen Bindung sehr schnell und unwillkürlich. Es alarmiert den gesamten Organismus über die Amygdala, den Hypothalamus, die Hypophyse, die Nebennierenrinde und den Hirnstamm. Viele dieser körperlichen Reaktionen wie die Erhöhung des Blutdrucks bleiben unbewusst oder halbbewusst.

Das Kampf- und Fluchtsystem reagiert mit Schock und Freezing: Der Tod eines nahen Menschen wird als Vernichtung der Existenz des nahen Menschen und als fundamentale Bedrohung der eigenen Existenz erlebt. Diese Bedrohung aktiviert das Kampf- und Fluchtsystem (Flatten 2012; Peichl 2012). Der ganze Organismus wird über Adrenalin und Noradrenalin auf Kampf oder Flucht eingestellt. Doch beim Tod eines nahen Menschen kann man nicht mehr um den nahen Menschen und seine Rettung kämpfen, ebenso lässt sich gegen die eigene existenzielle Bedrohung nichts mehr tun. Auch Weglaufen und Fliehen vor der schrecklichen Realität des Todes ergibt keinen Sinn mehr. Deshalb gerät der Körper der Hinterbliebenen in einen Schock, der dann wie beim Totstellreflex anderer Säugetiere zum parasympathischen Shutdown und Freezing wird. Lähmung, Betäubung und Fühllosigkeit breiten sich im ganzen Organismus aus und sind die Grundlage der peritraumatischen Reaktionen in der Verlustsituation.

Das Bindungssystem reagiert mit Verzweiflung: Auch das Bindungssystem (Cozolino 2007; Brisch 2019) ist ein altes, das Überleben sicherndes neurophysiologisches, im Gehirn verankertes System (vgl. Exkurs unten) des Säuglings und des Kleinkindes, das die überlebensnotwendige Beziehung zur Mutter und zum Vater herstellt und sichert. Dieses System, insbesondere der Teil, den wir als Paniksystem bezeichnen, springt bei einem Verlust eines nahen Menschen unwillkürlich, automatisch und zunächst unbewusst an. Hier wird der Tod des nahen Menschen als ein abrupter Abbruch einer lebenswichtigen Bindung und als überwältigende Erfahrung von Verlassenwerden erlebt. Dies stellt ein Bindungstrauma dar. Die einsetzende Panik ist eine allumfassende Angst, ohne die Bindungsperson verloren zu sein und selbst sterben zu müssen. Zugleich reagiert das Bindungssystem mit dem Verlustschmerz, der sich in einem einzelnen Schrei und in einem länger anhaltenden Schreien äußert. Das Schreien soll die verlorengegangene und vermisste Bindungsperson zurückrufen, denn ohne sie ist der Säugling bzw. das Kleinkind selbst der Vernichtung ausgesetzt. Kommt die Bindungsperson nicht mehr, setzt die Trauer über die bleibende Abwesenheit ein. Die Trauer führt zu einem Rückzug und zur Anpassung an den Verlust. Wird der Säugling und das Kleinkind dabei gänzlich alleingelassen, stellt sich Verzweiflung ein, die zu einer resignativen und apathischen Depressivität führen kann.

Exkurs:

Das Bindungssystem, der Verlustschmerz und die Trauer

Auch das Bindungssystem ist bei Säugetieren und beim Menschen evolutionsbiologisch angelegt (Cozolino 2007). Schon bei der Geburt und beim Stillen wird durch die Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin beim Säugling und bei der Mutter, aber auch beim Vater eine enge Bindung hergestellt. Der Säugling sucht Schutz, Sicherheit, emotionale Wärme und körperliche Berührung. Die Bindungssignale des Säuglings und Kleinkindes aktivieren das Bindungssystem bei den Eltern. Gelingt Bindung, werden bei beiden Eltern neben dem Oxytocin auch Dopamin und Endorphine im Belohnungssystem ausgeschüttet. So wird die Bindung gefestigt und gestärkt, sodass dann das Kleinkind später auch eine vorübergehende Trennung zeitweise aushalten kann. Auch bei der partnerschaftlichen Liebe und anderen engen Beziehungen von Geschwistern und nahen Freunden bildet das Bindungssystem eine wichtige neurophysiologische, deshalb meist unbewusste Basis einer nahen, bindenden Beziehung.

Wird die Bindung aber bedroht oder gar durch das Weggehen unterbrochen, wird das sogenannte Paniksystem als Teil des Bindungssystems aktiviert: Beim Säugling oder Kleinkind, aber auch später beim Erwachsenen, setzt Panik und Verlustschmerz (sogenannter separation distress) ein. Das Kind weint und schreit, um voller Panik die verlorengegangenen Eltern herbeizurufen; zugleich wehrt sich das Kleinkind mit seinem Schreien gegen die Trennung. Der Bindungsforscher Bowlby (vgl. Brisch 2019) bezeichnet diesen Abschnitt der Reaktion deshalb auch als Protestphase. Für die Trauerarbeit ist zu beachten, dass vor der Trauer meist der akute, oft schreiende Verlustschmerz einsetzt, gefolgt von einer schmerzenden, intensiven Trauer mit einem oft laut schluchzenden Weinen. Im Gehirn entsteht der körperliche und emotionale Schmerz im sogenannten periaquäduktalen Grau im Mittelhirn, in der Insula und im anterioren cingulären Cortex. Diese im emotionalen Gehirn liegenden Regionen bilden das Verlustschmerzzentrum. Der Verlustschmerz zeigt sich im Schreien und Weinen und soll die verlorengegangene Bindungsperson herbeirufen.

Kommt nun trotz der Paniksignale und des Protestes die wichtige Bezugsperson nicht mehr zurück, setzt allmählich die Verzweiflungsphase ein, in der der wütende und schreiende Protest in ohnmächtige Hilflosigkeit und Verzweiflung, dann in Resignation und schließlich in einen stillen Rückzug in sich selbst umschlägt. Den gesamten Prozess bezeichnen wir als Bindungstrauma, bei dem ein zentrales überlebensnotwendiges Bedürfnissystem verletzt wird.

Erwachsene erleben durch die bleibende Abwesenheit des verstorbenen nahen Menschen eine verzweifelte Trauer, die oft von einem leisen Weinen und Wimmern begleitet wird. In dieser leisen und doch intensiven Trauer liegt die Chance, den Verlust zu realisieren, aber auch das Risiko, über die Resignation in eine Depression zu geraten.

Bei einem Verlusttrauma reagieren und interagieren nun beide neurobiologisch angelegten Systeme des Organismus und verstärken sich gegenseitig (vgl. Kapitel 4.3). Dies erklärt die Intensität des Erlebens bei einem traumatischen Verlust und das mögliche Risiko eines destruktiven Verlaufes dieser zweifachen psychophysiologischen Reaktion.

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