Kitabı oku: «Mobilität und Kommunikation in der Moderne», sayfa 6

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1.4 Dampfschifffahrt

Bevor die Dampfmaschine weit genug entwickelt war, um sie zum Antrieb von Schienenwagen zu benutzen, wurde sie bereits auf Schiffen eingesetzt. Seit den 1810er-Jahren experimentierten Ingenieure vor allem in England, Schottland und Nordamerika mit Dampfschiffen, die zunächst vor allem auf ruhigen Binnengewässern und in der Küstenschifffahrt eingesetzt wurden. Die Entwicklung dampfbetriebener Schiffe baute im Vergleich zur Eisenbahn in vielerlei Hinsicht stärker auf vorhandener Technik und etablierten Praktiken auf. Wurde mit der Eisenbahn durch die Zusammenführung von Schienentransport und Dampfantrieb und den Aufbau eines Schienennetzwerks ein gänzlich neues Transportsystem geschaffen, so drehte sich die Entwicklung des Dampfschiffs hauptsächlich um die Umrüstung des Antriebs in einem hinlänglich bekannten Transportmittel.[29] Zudem konnten Dampfmaschinen auf Schiffen grundsätzlich auch in weniger kompakter und energieeffizienter Form eingesetzt werden. Dadurch war die Einsatzfähigkeit der frühen Modelle der 1810er-Jahre aber auch auf Binnengewässer und die Küstenschifffahrt beschränkt. Der Energiehunger der Dampfmaschinen war noch so groß, dass man in der Nähe von Brennstoffreserven bleiben musste. Hinsichtlich der Navigation auf Flüssen, Seen oder gut ausgebauten Kanälen waren Dampfschiffe durch ihre Unabhängigkeit von den Windverhältnissen reinen Segelschiffen aber bald überlegen. Dieser Umstand ist nicht nur bezüglich der wirtschaftlichen, kapitalistischen Erschließung vieler Weltgegenden im Laufe des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung.

Hochseetaugliche Dampfschiffe waren bis ins späte 19. Jahrhundert hinein eine Hybridtechnologie. Das heißt, sie verfügten neben dem Dampfantrieb auch über Segel. Im Jahr 1819 gelang einem solchen Schiff, der Savannah , erstmals eine Atlantiküberfahrt, die allerdings nur an vier von insgesamt 27 Tagen unter Dampf und ansonsten unter Segel erfolgte. Erst etwa zwanzig Jahre später im Jahr 1838 überquerten die Sirius und die Great Western den Atlantischen Ozean nur mit Hilfe der Dampfkraft. Um die Fahrt der Sirius rankte sich dabei bald der Mythos, dass gegen Ende der Fahrt die Kohle ausgegangen sei und man Teil der Bordausstattung hätte verfeuern müssen, um New York unter Dampf zu erreichen. Diese Geschichte, die einige Jahrzehnte später Jules Verne in seinem Roman In 80 Tagen um die Welt aufnahm, ist zwar so nicht passiert, sie deutet aber auf den großen Brennstoffverbrauch und die mangelnde Energieeffizienz hin, die die Dampfschifffahrt auch in dieser Zeit noch plagten. Zudem waren die Schaufelräder der Schiffe für den Einsatz auf Hoher See nicht gut geeignet und die Dampfmaschinen benötigten unter Salzwasserbetrieb spezielle Wartung. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Einsatz von Dampfschiffen auf langen Ozeanüberfahrten zunehmend praktikabel. Die effizientere und widerstandfähigere Schiffsschraube löste das Schaufelrad ab. Durch den Einsatz von Eisen und später Stahl für den Bau des Schiffsrumpfes konnten größere und damit im Betrieb günstigere Schiffe gebaut werden.

Im Regelverkehr wurden Dampfschiffe auf Überseerouten eingesetzt, zuerst auf der Nordatlantikroute, auf der so genannten „Red Sea Route“ von Europa nach Indien, und ab den 1860er-Jahren auch im Linienverkehr über den Pazifik. Erwähnenswert in dieser Hinsicht ist die schrittweise Vergabe eines Beförderungsauftrags für die Post aus und nach Indien durch die britische Admiralität. Im Jahr 1837 erhielt die private Peninsular Steam Navigation Company (ab 1840 Peninsular & Oriental Steam Navigation Company oder P&O) den Auftrag zur Postbeförderung zwischen Großbritannien und Vigo in Spanien. Der Auftrag wurde 1840 ausgeweitet bis Alexandria, wo man an den Postservice der Indischen Navy anschloss, und zwei Jahre später bis Bombay. Mitte der 1840er-Jahre dehnte die P&O den staatlich subventionierten Linienverkehr bis Penang, Singapur und Hongkong aus. In den frühen 1850ern folgte eine Verbindung nach Australien. Die Peninsular & Oriental und ihre zahlreichen Konkurrenzunternehmen stellten für das britische Weltreich wichtige Lebensadern zur Verfügung. Auf den Dampfschiffen wurden im 19. Jahrhundert nicht nur abertausende Briefe der Kolonialverwaltung, von Händlern, Investoren oder Privatleuten transportiert, auf ihnen bewegten sich privilegierte Kolonialbeamte, Missionare oder Pflanzer ebenso wie verarmte europäische Auswanderer oder asiatische Kontraktarbeiter, wobei die Erfahrung der Überfahrt durch die strikt segregierten Klassen an Bord von großen Dampfern völlig unterschiedlich waren. Die völlig überfüllten, unhygienischen und von Unterversorgung gekennzeichneten Zustände, unter denen ein großer Teil der Auswanderer und Kontraktarbeiter an Bord lebte, waren kaum mit den recht luxuriösen Bedingungen einer Überfahrt in der 1. oder 2. Klasse zu vergleichen. Insbesondere im Zuge der europäischen Auswanderungswelle der 1880er-Jahre spielte der Dampfschiffverkehr über den Atlantik eine zentrale Rolle.

Lange Zeit wurden Dampfschiffe aus Kostengründen hauptsächlich im Personen- und Postverkehr, wo Schnelligkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit von besonderer Bedeutung waren, eingesetzt. Der allergrößte Prozentsatz des Gütertransports und ein nicht unwesentlicher Teil des Passagierverkehrs wurden bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein auf Segelschiffen unternommen. Unter anderem angespornt durch die aufkommende Konkurrenz des Dampfantriebs wurde die Segelschifftechnik erheblich weiterentwickelt. Ab den 1840er-Jahren übernahm mit dem Klipper ein schneller, in den Vereinigten Staaten entworfener Segelschiffstyp eine zentrale Rolle im Asienhandel. Bis zur Eröffnung des nur von Dampfschiffen befahrbaren Sueskanals im Jahr 1869 waren Klipper unter anderem im Teehandel die schnellsten und kosteneffizientesten Transportmittel. Insgesamt standen im Jahr 1870 in der britischen Handelsmarine etwas mehr als 3.000 Dampfer (mit einer Gesamttonnage von ca. 1,1 Millionen) noch mehr als 23.000 Seglern (mit einer Gesamttonnage von ca. 4,6 Millionen) gegenüber. In der Folge ging die Ablöse allerdings relativ schnell. Acht Jahre später hatte sich das Verhältnis zugunsten der Dampfschiffe, die nun bereits die Hälfte der Seglertonnage stellten, verändert. Im Jahr 1883 war die Dampfschifftonnage erstmals größer als jene der Segler. Nochmals 15 Jahre später umfasste sie das Dreifache der Seglertonnage.[30] In dieser Zeit war die Dampfschifftechnik soweit fortgeschritten, dass erstmals ein Dampfer ohne zusätzliche Takelage vom Stapel lief.[31] Kurz vor dem Ersten Weltkrieg spielten Segler im Frachtverkehr gesamtgesehen keine große Rolle mehr.[32]

Daniel Headrick hat Dampfboote und Dampfschiffe neben anderen Technologien als wichtige Werkzeuge des westlichen Imperialismus, als „tools of Empire“ bezeichnet.[33] Mit ihrer Hilfe konnten die europäischen Kolonialmächte, allen voran die Briten, zum einen ihren Einfluss entlang der großen, für Segelschiffe aber kaum zu befahrenden Wasserwege Afrikas oder Asiens bis tief ins Hinterland ausdehnen. Der erste Opiumkrieg (1839–1842) zwischen Großbritannien und China und die Rolle der britischen Raddampferfregatte Nemesis sind in diesem Zusammenhang nur ein besonders anschauliches Beispiel unter vielen. Hochseetaugliche Dampfschiffe erlaubten es den Europäern aber auch, ihre weltumspannenden Reiche effizienter zu administrieren und wirtschaftlich weiter zu integrieren. Eine besondere Rolle spielte in dieser Hinsicht die Verregelmäßigung und Taktung des Schiffsverkehrs, der durch den Einsatz effizienter Dampfantriebe möglich wurde. Wie auch der zu Beginn dieses Kapitels eingeführte Henry W. Tyler in seinem Bericht festhielt, war die Seefahrt auch unter Dampf stärker von Umweltbedingungen abhängig und damit schwerer berechenbar als der Landtransport.[34] Im Vergleich zu Segelschiffen bewegten sich Dampfer insgesamt aber vor allem auf langen Strecken nach einem erheblich vorhersehbareren Zeit- und damit auch Kostenplan. Durch die Dampfkraft wurde auch im Schiffsverkehr die Etablierung eines Fahrplans mit festen Abfahrts- und Ankunftszeiten möglich. Das wiederum erlaubte die Abstimmung mit anderen Verkehrsmitteln wie zum Beispiel der Eisenbahn, ein koordiniertes Umsteigen bzw. Umladen und im Personenverkehr schließlich das Durchbuchen von Reisen über mehrere Umstiege.[35] Die größere Gleichmäßigkeit von dampfgetriebenem Transport erleichterte die Herausbildung und Feinabstimmung logistischer Ketten, bei denen verschiedene Transportmittel möglichst genau ineinandergriffen. Ein Paradebeispiel für eine solche Kette ist die Strecke zwischen Großbritannien und Indien, mit deren Optimierung sich auch Tyler beschäftigte. In seinem Bericht wird deutlich, dass die Verlässlichkeit einer solchen Kette von der Berechenbarkeit eines jeden Teilabschnitts abhängt. Unvorhersehbare Abfahrts- und Ankunftszeiten an einer Stelle würden sich entlang der gesamten Strecke fortsetzen und weiter steigern. Daher ist der eingangs erwähnte Bau des Mont-Cenis-Tunnels zur leichteren Querung der Alpen auch im Kontext des parallel stattfindenden Baus des Sueskanals zu sehen. Letztere machte den Streckenabschnitt zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer klar kalkulierbar. Die Alpenquerung war damit die letzte logistische Schwachstelle, die es nun mit besonderer Dringlichkeit zu verbessern galt. Dies erklärt den hohen Aufwand, den man mit dem Tunnelbau und dem gleichzeitigen Bau einer Eisenbahnstrecke über den Berg betrieb.

Fein abgestimmte Transportketten machten lange Reisen einfacher und planbarer. Der Postverkehr wurde damit auch auf Interkontinentalrouten berechenbar. Solche logistischen Ketten waren dabei spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich Einzelauszüge aus einem komplexen Transport- und Kommunikationsnetzwerk im eigentlichen Wortsinn. Jeder Hafen, jeder größere Bahnhof, jeder Knotenpunkt bot die Möglichkeit für verschiedene Umstiege und damit für verschiedene Routen, die bestmöglich aufeinander abgestimmt waren. Das Aufkommen von so genannten Kursbüchern in dieser Zeit illustriert die Leistungsfähigkeit dieses Netzwerks nicht nur auf regionaler, nationaler oder kontinentaler Ebene, sondern mit potentiell globaler Reichweite. Ein Kursbuch war nichts anderes als ein Kompendium, in dem die Fahrpläne verschiedener anschließender Verkehrsmittel integriert zusammengestellt werden. Frühe Beispiele dafür finden sich bereits für frühneuzeitliche Postkutschenlinien und die möglichen Anschlüsse. Seine volle Blüte entfaltete das Kursbuch aber ab dem Jahr 1847, in welchem die erste Ausgabe des von George Bradshaw (1801–1853) herausgegebenen Bradshaw’s Continental Railway Guide erschien. Dieses Kursbuch, das auf früheren Zusammenstellungen zu britischen Eisenbahn- und Dampfschifffahrplänen aufbaute, beinhaltete die kontinentaleuropäischen Eisenbahnverbindungen und viele ihrer interkontinentalen Anschlüsse. Ab 1854 wurde im Titel explizit auch auf die „through route and overland guide to India“ verwiesen.[36] Markus Krajewski weist darauf hin, dass Phileas Fogg in Jules Vernes zeitgenössischem Roman In 80 Tagen um die Welt nur mit der Kenntnis der Abfahrtszeit des Zuges aus London und seinem Bradshaw unter dem Arm organisatorisch bestens für seine Weltreise gerüstet war.[37]

Die kostspielige Subventionierung der wichtigsten Poststrecken zeigt, wie wichtig der Aspekt der Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit unter anderem für die europäischen Kolonialmächte war. Die tagesgenaue Ankunft der Post aus anderen Teilen der Welt gab aber nicht nur den Arbeitsrhythmus der Kolonialverwaltung vor, auch die Presse und die Kaufleute orientierten sich an diesem „steamship rhythm“.[38] Eine regelmäßige und verlässliche Kommunikation mit weit entfernten Regionen war für die wirtschaftliche Erschließung derselben von zentraler Bedeutung. Handels- oder Investitionsgeschäfte mit Gegenden, über die man wenig wusste und zu denen man nur rudimentären kommunikativen Zugang hatte, waren für europäische Kaufleute mit großem Risiko behaftet. Berechenbare Reise- und Postrouten trugen zur Risikominimierung und zu einer größeren Investitionssicherheit bei. Das wird unter anderem in einem Artikel deutlich, in welchem die Londoner Tageszeitung Times am 4. April 1857 die Rückkehr des Dampfers Simla aus Australien feierte. Die Simla war Ende 1856 als erstes Dampfschiff von Europa nach Australien losgefahren und hatte nun mit ihrer Rückkehr die Möglichkeit einer regulären Dampferlinie in die Antipoden nachgewiesen. Dazu schrieb die Times:

[We] congratulate the public, and in especial the mercantile community. Nothing could have been more injurious to the operations of trade than the extreme uncertainty which has too long characterized our communications with our Australian Colonies. Had there simply been tediousness and delay, so long as the delay and the tediousness were of regular occurrence the inconvenience, deplorable enough in all cases, might have been borne; but, with dates, varying from three months and a half to two months, it was well-nigh impossible to use forecast for the future. […] Our merchants must acquire the satisfactory conviction that they are not venturing their fortunes on a mere hazard when they engage in Australian operations, or else the trade will fall into the hands of mere speculators. Regularity, and then speed, are the necessary conditions of commercial intercourse.[39]

Hier zeigt sich, wie insbesondere auf langen Strecken Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit von Kommunikation und Transport als wichtiger wahrgenommen wurden als die reine Geschwindigkeit.

[1] House of Commons Parliamentary Paper 466, Eastern Mails, S. 1.

[2] Ebd., S. 12.

[3] Ebd.

[4] Behringer, Zeichen des Merkur, S. 42.

[5] Lucassen, Mobility Transition Revisited.

[6] Behringer, Zeichen des Merkur.

[7] Ders., Communications Revolutions, S. 342.

[8] Gerteis, S. 58.

[9] Beyrer, Postkutschenreise, S. 85.

[10] Börne.

[11] Zit. nach Beyrer, Postkutschenreise, S. 54f.

[12] Krajewski, S. 33.

[13] Roth, S. 18.

[14] Steele, S. 213.

[15] Das führte unter anderem dazu, dass Newcomens Entwicklung später auch dazu gebraucht wurden, Wasser in ein Staubecken hochzupumpen, mit welchem dann ein Wasserrad betrieben werden konnte, das wiederum eine gleichmäßige, runde Bewegung erzeugte (Allen, S. 170).

[16] Ebd., S. 161f.

[17] Ebd., S. 156-170.

[18] Ebd., S. 173, 179.

[19] Vgl. Schivelbusch, S. 11; Ball, S. 205.

[20] Wolfgang Behringer, der sich nicht nur mit der Geschichte des frühen Postwesens, sondern auch mit Fragen der Umweltgeschichte beschäftigt hat, argumentiert, dass auch die Versorgungskrise in der Folge des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815 wichtige Impulse für die Idee einer dampfbetriebenen Eisenbahn gab (Behringer, Tambora, S. 285-287).

[21] Roth, S. 34

[22] Osterhammel, Verwandlung, S. 1018.

[23] Rostow.

[24] Fogel.

[25] Osterhammel, Verwandlung, S. 1019.

[26] Ders., Hierarchien, S. 803.

[27] Ders., Verwandlung, S. 1018.

[28] Zimmer.

[29] Osterhammel, Hierarchien, S. 805.

[30] Torp, S. 32.

[31] Osterhammel, Hierarchien, S. 801.

[32] Torp, S. 32.

[33] Headrick, S. 17‒57, 129‒149, 165‒179.

[34] House of Commons Parliamentary Paper 466, Tyler Eastern Mails, S. 1.

[35] Das Pendant dazu im Postverkehr stellt die Briefmarke und die Einführung eines globalen Einheitsportos in der Folge der Gründung des Weltpostvereins 1874 dar (Krajewski, S. 26). Siehe dazu auch Kapitel III.4 zu Standardisierungsprozessen.

[36] Ebd., S. 36.

[37] Ebd., S. 30.

[38] Anim-Addo.

[39] Times of London, 4. April 1857.

2. Dematerialisieung
2.1 Die Entkoppelung von Transport und Kommunikation

Es ist eine der Grundannahmen der Historischen Kriminalitätsforschung, dass die Beschäftigung mit Kriminalität und abweichendem Verhalten als Sonde für das Verständnis größerer gesellschaftlicher Transformationsprozesse dienen kann.[40] Dieser Annahme folgend soll neben der Einleitung auch dieses Kapitel mit der Schilderung eines historischen Kriminalfalls eröffnet werden: dem so genannten Salt Hill murder und der damit verbundenen Festnahme und Verurteilung von John Tawell (1784–1845) im Jahr 1845. Dieser sich in den frühen Jahren der Telegrafie zutragende Fall brachte, auch dank seiner spektakulären Details, die erstaunlichen Qualitäten der Telegrafie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis. Der zum zweiten Mal verheiratete Tawell hatte am Neujahrstag des Jahres 1845 seine Geliebte Sarah Hart in deren Haus in Salt Hill bei Slough mit Blausäure vergiftet, um zu verhindern, dass ihre Affäre bekannte wurde. Als man die Tote entdeckte, erinnerten sich Zeugen, dass Tawell zuvor in der Kleidung eines Quakers das Haus verlassen hatte. Die „Times of London“ berichtete am 3. Januar 1845 ausführlich über den weiteren Verlauf der Geschichte und zitierte dabei einige der beteiligten Personen wie folgt:

The Rev. E. T. Champnes, vicar of Upton-cum-Chalvey, examined.—Hearing of the suspicious death of the deceased, and that a person in the dress of a Quaker was the last man who had been seen to leave the house, I proceeded to the Slough station, thinking it likely he might proceed to town by the railway. I saw him pass through the office, when I communicated my suspicions to Mr. Howell, the superintendent at the station. He left for London in a first-class carriage. Mr. Howell then sent off a full description of his person, by means of the electric telegraph, to cause him to be watched by the police upon his arrival at Paddington. [41]

Tawell wurde demnach bei seiner Ankunft in Paddington (London) von der Polizei erwartet, in die Stadt verfolgt und schließlich in einem Londoner Kaffeehaus festgenommen. Er wurde wegen Mordes vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und am 29. März 1845 öffentlich gehängt. Die Zeitungen berichteten intensiv über den ganzen Fall bis hin zu den recht unappetitlichen Details der Hinrichtung.[42] Die Medien stürzten sich auf Tawells illustre Lebensgeschichte und breiteten diese bis ins Kleinste aus. In jüngeren Jahren war Tawell wegen des Besitzes von Falschgeld[43] (nicht aber wegen der Herstellung desselben)[44] zum Transport nach Australien verurteilt worden. Aufgrund von Straferleichterungen konnte er in Sydney als Apotheker arbeiten und erwirtschaftete dort ein kleines Vermögen, mit dem er nach England zurückkehrte. Nach dem Mord an seiner Geliebten, mit der er zwei Kinder hatte, konnte er schließlich mit Hilfe einer völlig neuartigen Technologie und auf bisher nicht vorstellbare Weise festgenommen werden. So zumindest das gängige zeitgenössische Narrativ, das in den Medien der Zeit ausgebreitet und von einer großen Leserschaft rezipiert wurde. Es war diese fantastische Geschichte vom Fall, Aufstieg und abermaligen Fall des John Tawell, die erstmals öffentliches Augenmerk auf die scheinbar wundersamen Kräfte des Telegrafen lenkte. Nur wenige Monate zuvor war die Telegrafenleitung entlang der Eisenbahnlinie zwischen Paddington und Slough überhaupt erst eröffnet worden. Wäre Tawell vorher in den Zug nach London gestiegen, hätte es keine Möglichkeit gegeben, den Zug aufzuhalten oder die Behörden in Paddington über die Sachlage zu informieren. Schließlich war die Eisenbahn zu diesem Zeitpunkt das schnellste verfügbare Transport- und damit auch Kommunikationsmittel. Durch die Entkoppelung von Transport und Kommunikation aber konnte Tawell in London auf eine Art und Weise abgefangen werden, die er mitnichten erwarten konnte.

Dem Telegrafen brachte diese Geschichte unter den Zeitgenossen den Spitznamen „Electric Constable“ ein. Das besondere Talent dieses elektrischen Polizisten lag in der Dematerialisierung [45] von Informationsflüssen, also deren Entkoppelung von materiellen Trägern. Information bewegte sich üblicherweise gemeinsam mit Menschen, Tieren oder Objekten – und tut das natürlich auch heute noch. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Reisende trugen Nachrichten aus fernen Regionen mit sich. Brieftauben überbrachten seit der Antike wichtige Botschaften. Briefe wurden per Kutsche, Eisenbahn oder Schiff transportiert. In all diesen Fällen ist die Bewegung der Information an die Bewegung des materiellen Trägers gebunden und unterliegt damit auch deren Beschränkungen – zum Beispiel in der Bewegungsgeschwindigkeit oder der Wahl möglicher Routen. Durch die Dematerialisierung von Informationsflüssen werden Kommunikations- von Transportprozessen entkoppelt. Information wird in nichtmaterielle – zum Beispiel optische oder elektrische – Zeichen encodiert und kann sich entlang eines entsprechenden Leiters rasend schnell und mehr oder weniger ungehindert fortbewegen. War ein solcher Leiter – zum Beispiel in Form einer Kette von Signaltürmen oder eines Telegrafendrahts – vorhanden, so spielten Faktoren wie die räumliche Distanz oder die Unwegsamkeit des Geländes für die Kommunikation nur noch eine untergeordnete Rolle.

Eine solche Entkoppelung führte zu einer Beschleunigung von Kommunikation im doppelten Sinne. Durch die insgesamt schnellere Bewegung optischer oder elektrischer Signale verkürzte sich zum einen die absolute Kommunikationsdauer. Dies schlug sich insbesondere auf längeren Strecken eindrucksvoll nieder. Distanzen, für deren Überbrückung man bisher Stunden, Tage oder sogar Wochen benötigt hatte, waren nun kommunikativ binnen weniger Minuten zu bewältigen. Von noch größerer sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung war aber die relative Beschleunigung von Kommunikationsprozessen, also der Umstand, dass dematerialisierte Informationsflüsse für gewöhnlich schneller waren als die materielle Bewegung von Menschen, Tieren oder Dingen. Der eingangs vorgestellte Fall von John Tawell kann hier als illustratives Beispiel dienen. Neue Kommunikationstechnologien wie etwa der elektrische Telegraf wurden zu wichtigen Kontrollinstrumenten, mit deren Hilfe man die Bewegung von Transportmitteln überwachen und koordinieren konnte. Dies führte nicht nur zur spektakulären Verhaftung von John Tawell, sondern machte vor allem den Transport von Menschen oder Waren schneller und effizienter. So ließen sich entgegenkommende Züge auf eingleisigen Strecken effizient und sicher aneinander vorbeileiten. Im Zeitalter der Unterwassertelegrafie und insbesondere in der später einsetzenden Ära der Funktelegrafie konnten auch aus dem Heimathafen bereits ausgelaufene Schiffe gesteuert werden – zunächst erst bei Einlaufen in einen Hafen mit Telegrafenanbindung, später per Funk auch auf Hoher See. Aber auch wenn Privatpersonen im späten 19. Jahrhundert Telegramme versandten oder empfingen, so ging es dabei in kleinerem Maßstab ebenfalls häufig um die Bewegungen von Menschen oder Dingen. Ein substantieller Teil privater telegrafischer Nachrichten diente dazu, Besuche anzukündigen, Waren zu bestellen oder Sendungen umzuleiten.[46] Dematerialisierte Kommunikationsformen – und allen voran die Telegrafie – eröffneten daher im Großen wie im Kleinen Möglichkeiten zur effektiven Kontrolle von Transport und damit zur Kontrolle der Bewegung von Menschen, Dingen und den weiterhin an diese gebundenen Informationen. Hier liegt der Bruchpunkt, an dem durch die Dematerialisierung von Informationsflüssen nicht nur schnellere Kommunikation möglich wurde, sondern sich letztlich eine qualitativ neue Form von Kommunikation entwickelte, die in die verbundenen Gesellschaften hinein rückwirkte und den Denk- und Handlungshorizont der historischen Akteure neu gestaltete.

Wie sich in den bisher genannten Beispielen zeigt, ist die elektrische Telegrafie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die zentrale Technologie der Dematerialisierung. Mit ihr erreicht die Entkopplung von Kommunikation und Transport eine technische Reife und Praktikabilität, die eine breite Anwendung möglich und sinnvoll macht. Wie in den folgenden Abschnitten zu sehen sein wird, wurde die elektrische Telegrafie in dieser Zeit schnell zu einem Kommunikationsmittel von tatsächlich globaler Bedeutung. Bei aller historischen Bedeutung ist der elektrische Telegraf aber nicht das erste Kommunikationswerkzeug, das die Dematerialisierung von Informationsflüssen erlaubt. Streng genommen könnte man argumentieren, dass menschliche Kommunikation in ihren grundlegendsten Formen – zum Beispiel als Zeigen oder Sprechen – nichtmateriell ist. Solche Kommunikationsweisen sind in ihrer räumlichen und zeitlichen Reichweite aber beschränkt. Um Raum und Zeit kommunikativ zu überwinden, banden Menschen Informationen an Materie – zum Beispiel in Bild oder Schrift. Gleichzeitig gab es aber bereits früh in der Menschheitsgeschichte auch Kommunikationsinstrumente, die rudimentäre Informationen dematerialisierten und in optische oder akustische Signale encodierten – man denke etwa an Rauch- und Feuersignale oder so genannte Nachrichtentrommeln. Allerdings waren all diese Kommunikationspraktiken entweder in ihrer Reichweite, Praktikabilität oder ihrer Flexibilität stark eingeschränkt. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit dem optischen Telegrafen erstmals eine Kommunikationstechnologie entwickelt, die in all diesen Bereichen neue Maßstäbe setzte und die Übermittlung flexibler Informationen über relativ große Reichweiten mit einer zumindest grundlegenden Verlässlichkeit möglich machte.

Die Erfindung des optischen Telegrafen oder Semaphor geht auf den Franzosen Claude Chappe (1763–1805) und seine Brüder zurück.[47] Das System bestand im Wesentlichen aus einer Kette von Türmen oder hohen Gebäuden, auf denen große Schwenkarme befestigt waren, die ganz unterschiedliche Positionen einnehmen konnten. Jede Position stand für ein bestimmtes Zeichen. Mit Hilfe dieser von weiten sichtbaren Schwenkarmen konnten Nachrichten von Turm zu Turm weitergegeben werden. Der effektive Betrieb dieses Systems war aufwändig, bei sachgemäßer Handhabung ermöglichte es aber eine erhebliche Beschleunigung des Kommunikationsflusses. Eine erste Linie wurde im Jahr 1794 zwischen Paris und Lille eröffnet. Den hohen Bau-, Instandhaltungs- und Betriebskosten zum Trotz leistet sich in der Folge vor allem das napoleonische Frankreich ein gut ausgebautes Netzwerk an Semaphoren, das sich von Paris ausgehend sternförmig in alle Richtungen erstreckte. Das System wurde vom Staat selbst betrieben und diente hauptsächlich militärischen und administrativen Zwecken. Lange Zeit ließ der französische Staat praktisch keine private, kommerzielle Nutzung zu.

Hauptsächlich aus Furcht vor einer französischen Invasion investierte auch die britische Admiralität rasch in den Aufbau einiger optischer Telegrafenlinien, welche die wichtigsten südlichen Häfen mit London verbanden und als eine Art Vorwarnsystem dienen sollten. Bereits 1796 wurde die lange Linie zwischen London und Portsmouth eröffnet. Im Jahr 1805 folgte eine Linie nach Plymouth. Anstatt langer Schwenkarme verwendeten diese so genannten shutter telegraphs der Admiralität ein hohes Gerüst mit sechs individuell verstellbaren Blenden. Jedem Buchstaben war eine andere Blenden-Kombinationen zugewiesen. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft in Frankreich wurden diese teuren shutters wieder abgebaut und auf wenigen Hauptlinien durch ein simpleres, aber weniger effektives System ersetzt. Anders als in Frankreich gab es kein landesweites optisches Telegrafennetz. Dafür wurden aber alsbald shutter telegraphs auf private Initiative errichtet, die vor allem über kürzere Strecken – zum Beispiel von einem Seehafen zur nächsten wichtigen Stadt – kommerziell relevante Informationen transportierten.[48] Unter dem Eindruck der Julirevolution in Frankreich begann man in Preußen 1832 mit dem Bau einer staatlich betriebenen optischen Telegrafenlinie zwischen Berlin und Koblenz, die die rheinischen Gebiete des Königreichs besser mit der Hauptstadt verbinden sollte.

In allen genannten Beispielen wird deutlich, welche Bedeutung die relative Beschleunigung von Kommunikation im Verhältnis zu Transportprozessen hatte. Im französischen, britischen und auch preußischen Fall diente der optische Telegraf als Vorwarn- und Kontrollinstrument. Aber auch in kleineren Zusammenhängen, die nicht unmittelbar mit militärischen oder strategischen Belangen zu tun hatten, kann dies durchaus manifest werden. So wurde im Jahr 1836 in Frankreich ein bereits seit zwei Jahren laufender, gut organisierter telegrafischer Betrug aufgedeckt. Zwei Geschäftsmänner aus Bordeaux hatten einzelne Signalleute bestochen, um so indirekten Zugang zum optischen Telegrafen zu bekommen. Es war das Ziel, in Bordeaux vor allen anderen an wichtige Informationen über die Börsenentwicklungen in Paris zu bekommen. Zu diesem Zwecke ließen sie durch die bestochenen Helfer zusätzliche Zeichen in bestimmte Übertragungen einbauen. Die optische Telegrafenlinie von Paris nach Bordeaux verlief über Tours, wo zur Kontrolle des fehleranfälligen Systems alle Nachrichten decodiert und überprüft wurden. Dort wäre eine Manipulation aufgefallen. Daher schickten die Betrüger Börseninformationen mit normaler Post nach Tours. Erst auf dem Streckenabschnitt Tours-Bordeaux konnten dann die zusätzlichen Zeichen in die Übertragungen geschmuggelt werden.[49] Auf diesem Weg konnten zwar nur sehr rudimentäre Informationen über die Börsenentwicklungen im fernen Paris übermittelt werden, diese erreichten Bordeaux aber zuverlässig vor der Postkutsche. Die beiden Geschäftsleute stellten so einen äußerst lukrativen Informationsvorsprung sicher.

Dieser relativ schlecht dokumentierte und nur in seinen Grundzügen überlieferte Betrugsfall gewährt uns einige Einsichten in die Funktionsweise des optischen Telegrafen und die Rolle der Dematerialisierung von Informationsflüssen. Das Zeitfenster, das die Betrüger durch ihre Manipulationen für ihre Geschäfte nutzen konnten, war nicht besonders groß. Schließlich erreichten die Börseninformationen – in viel größerem Detail – ungefähr einen halben Tag später auch auf herkömmlichem Wege die Stadt Bordeaux. Dieses Fenster schien aber genügend finanzielle Optionen zu bieten, um den Manipulationsaufwand zu rechtfertigen. Im Kern führte die Entkoppelung von Kommunikation und Transport zu einer Ungleichzeitigkeit von Informationsflüssen, die in dieser Ausprägung ein Novum darstellte und für die Zeitgenossen schwer einzuordnen war. Nur so lässt sich erklären, dass die Manipulation über zwei Jahre unentdeckt blieb. Die Anatomie dieses Betrugsfalls offenbart auch einige der technischen Schwächen des optischen Telegrafen. Die Übertragungen waren häufig fehlerhaft, so dass eingeschmuggelte Zeichen nicht weiter auffielen. Unzählige Signalleute und andere Mitarbeiter waren zur Aufrechterhaltung des Netzwerks nötig. Ihr ungleicher Ausbildungsstand führte immer wieder zur fehlerhaften Bedienung der Apparate. Gleichzeitig bot die schiere Anzahl von Beteiligten eine große Angriffsfläche für Bestechung und Manipulation. Zudem war das System leicht abzuhören. Schließlich konnte jedermann – zum Beispiel die Betrüger und ihre Helfer – ganz einfach und mit freiem Auge sehen, welche Zeichen entlang der Linie übertragen wurden. Auch über diesen speziellen Beispielfall hinaus, hatte der optische Telegraf als Kommunikationsmittel in der Praxis bestimmte Nachteile. Die Errichtung, der Erhalt und der Betrieb des Systems waren aufwändig und sehr kostenintensiv. Zudem war das Funktionieren des Telegrafen auf freie Sicht zwischen den einzelnen Stationen angewiesen, was eine Nutzung bei Nacht oder anderweitig schlechten Sichtverhältnissen (zum Beispiel bei Nebel) schwierig bis unmöglich machte. Zusammengenommen schränkten diese Faktoren die Praktikabilität der Technologie letzten Endes doch erheblich ein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich andere Formen der Dematerialisierung von Informationsflüssen ab den 1840er- und 1850er-Jahren rasch gegenüber der optischen Telegrafie durchsetzen konnten. Die Rede ist hier von der elektrischen Telegrafie und Folgetechnologien wie der Telefonie oder der Funktelegrafie.

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