Kitabı oku: «Das Zwillingsparadoxon», sayfa 3

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Ich hätte etwas trinken sollen, dachte Henning, als er den von einem früheren Sturz zerkratzten Helm an den Spiegel des Motorrads hängte. Es parkte an der Hauswand. Hinter ihm die erkerähnliche Ausbuchtung mit den Küchenfenstern. Vor ihm nicht mehr als sechs Schritte bis zur Tür – vermutlich.

Eins, auf Höhe des Vorderrades.

Zwei, drei neben der schmalen Rabatte, in der die Pflanzen der Mutter nie etwas wurden, weil im Sommer die Mittagssonne die jungen Triebe verbrannte.

Vier, es würde eng werden. Er müsste Riesenschritte machen, um beim sechsten auf der Schwelle zu stehen – aber das könnte er nicht gelten lassen. Jedes Spiel hatte Regeln. Auch dieses.

Fünf. Einer seiner Schritte maß knapp einen Meter. Bis zur Tür waren es noch mindestens zwei davon und damit mehr als sechs.

Verschätzt.

Henning nahm das Ergebnis zur Kenntnis. Sonderbar, womit sich Gehirne befassten, wenn sie die Möglichkeit bekamen, unangenehme Situationen etwas hinauszuzögern.

Als er den Flur der Eltern hinunter ins Wohnzimmer ging, kam ihm Steve entgegen.

»Gut, dass du gekommen bist.«

Was soll das Gesülze?, dachte Henning und regte sich über die kriechende Art des kleinen Bruders auf. Klein war dieser mit einsachtundsechzig tatsächlich. In der Regel glich er das durch Schuhe mit höheren Sohlen aus, damit er die einssiebzig überschritt – für Männer geringerer Große ein Meilenstein.

»Was machen die Geschäfte?«

»Ach, das ist doch jetzt unwichtig«, antwortete Steve.

Genau. Henning sparte sich weitere Bemerkungen. Die drohende Privatinsolvenz des Bruders war bekannt, lediglich Steve glaubte, dass das Thema noch als Verschlusssache galt. Aber eigentlich hatte er nichts gegen ihn. Mit seinem schlecht laufenden Internethandel und dem licht gewordenen Haar war der Zweitgeborene gut für sein Ego, in mehrfacher Hinsicht.

»Inge«, begrüßte Henning seine Mutter.

»Und …« Sie lockerte die Umarmung. »Wie geht’s dir?«

Was ist denn heute mit den Leuten los? Henning mochte die Frage nicht. Er fand sie generell unpassend, weil sie fast immer an den falschen Orten gestellt wurde. Meist da, wo kein Raum für eine ehrliche Antwort war. Und heute? Heute war sie geradezu idiotisch. Aber auch das schluckte er herunter.

Den Rest begrüßte er mit Handschlag.

Man rief zu Kaffee und Kuchen. Ohne sich zu sehr aus dem Fenster zu lehnen, hätte jeder der Anwesenden sofort sagen können, was es geben würde. Von der Oma einen Blechkuchen mit Kirschen in der Kirschzeit, mit Äpfeln zur Apfelzeit … man brauchte keine weiteren Beispiele, da das System der Großmutter leicht zu durchschauen war.

»Wie viel Zeit bleibt noch bis zur Testamentseröffnung?«, fragte Steve und angelte sich das erste Stück.

»Kannst es wohl nicht abwarten. Wirst schon genug abbekommen.«

»Jungs!« Die Großmutter versuchte, einen Streit im Keim zu ersticken.

»Steck doch die Knete in dein florierendes Unternehmen.«

»Henning, es reicht!«

Inges Worte sorgten dafür, dass er vom Bruder abließ und mit der Gabel die erste Portion sezierte. Er hatte keinen Appetit und vor allem keine Lust auf das Harmoniebestreben, das der Rest der Familie hatte.

»Ich kann Heucheln nun mal nicht ausstehen«, murmelte er vor sich hin.

»Was willst du eigentlich?« Wütend sprang Steve auf.

Henning hielt es ebenso wenig auf dem Stuhl. »Sag doch einfach, dass dir das Erbe gelegen kommt, und quatsch keine Opern.«

»Anscheinend geht es dir am Arsch vorbei, dass Vater tot ist«, brüllte Steve zurück.

»Ja, der feine Vater. Möchtest du das mit der Ehrlichkeit mal probieren?« Henning ging um den Tisch. »Sprich mir nach! Es ist mir völlig egal, ob seine Durchlaucht lebt oder nicht, da er sich nicht für uns interessiert hat. Nicht im Ansatz! Und der Vollständigkeit halber sag auch noch das hier: Ich habe für meinen Pflichtteil zwar wenig getan, aber ich nehme ihn dankend an, als Entschädigung, weil der gute Mann zeit seines Lebens nur mit sich beschäftigt war. Und der gute Mann war gar nicht gut, um bei der Wahrheit zu bleiben, eigentlich war er ein Arsch!«

»Du überheblicher …«

Im selben Augenblick knallte Inges Handfläche auf Hennings Schläfe. Sie hatte die Wange treffen wollen.

Das war’s! Nach der Aktion brauche ich mir den Mist hier nicht länger zu geben.

Er tobte in die Küche, riss den Kühlschrank auf und zog ein Pils heraus.

»Wisst ihr was?«, brüllte er durch den Flur. »Ihr könnt den ganzen Scheiß behalten. Nehmt meinen Teil und dann heult doch alle noch ordentlich rum, weil der Idiot nicht mehr da ist.«

Henning verzog sich vor das Haus. Er trank das Bier in einem Zug, warf seine Maschine an und die Flasche krachend gegen die Garage.

Schwachköpfe!

Halb fünf.

Der Raum des Amtsgerichts erschien schmucklos. Einem Bau, der seit der vorletzten Jahrhundertwende von außen etwas Herrschaftliches ausstrahlte, hatte man von innen mit jedem Jahrzehnt mehr von ebendiesem genommen. Erst den Stuck und die Dielung. Später die hohen Decken. Wenigstens die Türen hatte man im Original belassen, jedoch so oft überstrichen, dass sie heruntergekommen wirkten. Der einzige Blickfang enthielt zehn Zeilen und hing in einem schwarzen Rahmen zwischen zwei Fenstern:

Der Tod ist nicht das Ende.

Er löst einzig die Bande, die dich mit der Zeit verbunden hat … die dich mit ihr vorantreiben ließ.

Du fällst nicht ins Bodenlose. Keine Angst. Du bleibst nur stehen und verhakst dich in einer Minute, die du nicht mehr verlassen wirst.

Anfangs fürchtest du, immer schneller abzutreiben. Aber das kommt dir nur so vor. Denn mit dem Tod bist du lediglich losgelöst von der Gegenwart, zur Ruhe gekommen und nur die übrige Welt strebt weiter.

Ingeborg saß neben Steve. Sie wartete und vermied es, den Text ein zweites Mal zu lesen.

Der Gerichtsmitarbeiter, der sich ihnen vor zehn Minuten mit Nowak vorgestellt und die Formalitäten geklärt hatte, kam nun in Begleitung aus einem Nebenzimmer.

»Bevor wir zur Verlesung kommen, stelle ich Ihnen Herrn Steiner vor. Er wird der Testamentseröffnung beiwohnen.«

Es war den beiden Hinterbliebenen egal, ob der hochgewachsene, kräftige Mann im braunen Anzug zuhörte. Ihretwegen hätte das halbe Amt zuhören können, solange alle, was die Erbsumme angelangte, den Mund hielten und nicht aus der Nachbarschaft stammten.

Nowak räusperte sich und begann.

Letzter Wille und Testament

Ich, Dr. Oswald Geiger, geboren am 25.10.1950, setze für das vor meiner Ehe entstandene Vermögen die Aevum-Stiftung und für den in der Ehe entstandenen Besitz meinen Sohn, Henning Geiger, als Erben ein. Meine Ehefrau, Ingeborg Geiger, enterbe ich hiermit.

Steve Geiger soll nach dem Versterben seines Bruders der Schlusserbe sein. Sollte er nach meinem Ableben den Pflichtteil verlangen, so soll er auch zum Zeitpunkt des Todes von Henning lediglich den Pflichtteil erhalten. In diesem Fall übertrage ich den Rest des Besitzes an die Aevum-Stiftung.

Im Rahmen meines Letzten Willens wird das Gericht gebeten, die Anwesenden der Testamentsverlesung über die Hintergründe der genannten Stiftung in Kenntnis zu setzen.

9

Als Oswald Geiger zu Lebzeiten darüber nachdachte, nach seinem Tod ganz sicher zu gehen und sich vorsichtshalber vor der Beerdigung eine Giftspritze setzen zu lassen, graute ihm vor dem Gedanken, plötzlich in einem Sarg unter der Erde aufzuwachen. Er hätte sich gleichwohl davor ekeln können, von Würmern zerfressen zu werden, aber womöglich ahnte er, dass sich diese lediglich einen Meter über ihm aufhielten, nicht tiefer als drei Handbreit unter der Grasnarbe, die an seiner Parzelle mit dem überdimensionierten Grabstein endete. Die Sache mit den Würmern wäre ihm vermutlich ohnehin egal gewesen, da seine Furcht nicht dem Tod galt, sondern einem Unglück, bei dem alle von selbigem bei seiner Person ausgingen, ihm im Sarg aber gerade ebendieser fehlte.

Doch dieses Unglück widerfuhr ihm nicht, denn Doktor Geiger befand sich zweifelsohne jenseits der hinteren Schwelle des Lebens. Im rechten Unterbauch hatte am elften Tag nach seinem Auffinden Fäulnis eingesetzt. Eine Mischung aus Schwefelwasserstoff, Methan und Ammoniak füllten nicht nur Teile des Darms – sie dehnten bereits die Haut des Bauches und färbten sie gelbgrün.

Dass zu diesem Zeitpunkt achthundert Meter entfernt in einer Postfiliale ein hellbrauner Umschlag aufgegeben wurde, hatte er vor seinem Tod nicht mehr präzise planen können. Dennoch verlief es in seinem Sinne. Der Umschlag enthielt eine handgeschriebene Notiz des Doktors. Die zweite Anzeige, welche einen Tag später die Hälfte der Titelseite des Stadtanzeigers einnehmen sollte. Ein Dreizeiler:

Niemand hatte bislang auch nur eine Ahnung davon, was zum Zeitpunkt eines Todes tatsächlich geschieht.

Es wird alles verändern!

Dr. Oswald Geiger

10

Das war’s?«, fragte Steve entgeistert.

»Abgesehen von Ort, Datum und Unterschrift … ja.«

Ingeborg sagte nichts. Sie starrte auf eine Stelle oben am Türrahmen, an der Farbe abgeplatzt war. Wahrscheinlich bei einem Umzug passiert.

»Er vermacht uns also keinen einzigen Euro?«, Steve glaubte, sich verhört zu haben.

»So entspricht es dem Letzten Willen Doktor Geigers.«

»Und was soll diese Stiftung? Wen interessiert das jetzt, wenn es eh nichts zu erben gibt?«

»Die Erwähnung war der ausdrückliche Wunsch des Verstorbenen. Aus diesem Grund hatte ich Rechtsanwalt Steiner zu diesem Termin gebeten.«

»Ach ja?« Steve behielt die Beherrschung nur mit Mühe. »Sie können ja auch noch einen Kurzvortrag über den Spreewald halten. Geht’s ihnen eigentlich noch gut?! Ich dachte, der Kern einer Erbschaft wäre, etwas zu erben. Stattdessen verschwenden Sie nur unsere Zeit.«

»Herr Geiger! Es lässt sich nicht ändern.«

»Stimmt. Doch es steht nirgendwo im Testament, dass wir uns das hier weiter anhören müssen.«

»Sie sollten aber.« Steiner verzog keine Miene.

»Sagen Sie mir einen Grund.«

»Ihre Familie wird in den nächsten Wochen das Haus verlieren.«

»Was?« Fassungslos ließ sich Steve zurück in den Stuhl fallen.

»Mit dem Versterben meines Mandanten«, begann Steiner, »wurde ich beauftragt, Sie nach der Eröffnung des Testaments über Folgendes zu informieren. Am 4. Juli jährt sich zum zweiten Mal das Gründungsdatum der Stiftung meines Mandanten. Bislang ruhte diese. Das soll sich mit seinem Tod ändern. In diese Institution flossen sämtliche finanziellen Mittel, die er vor seiner Eheschließung mit Ingeborg Geiger gebildet hatte. Hierzu zählt eben auch das Haus, in welchem Doktor Geiger bis zuletzt wohnte. Mit Kaufdatum aus dem Jahr 2002 ist es dem Stiftungsvermögen zuzuordnen und wurde mit einem Wert von fünfhundertfünfzigtausend Euro veranschlagt.«

»Mutter, warum sagst du nichts?!« Steves Wut rieb sich an seiner Hilflosigkeit auf. »Was ist mit den Pflichtteilen? Die stehen uns doch zu.«

Ingeborg reagierte nicht.

»Das ist richtig. Aber die Masse des Vermögens ist vor der Ehe entstanden und bei Ihrem Teil der Erbschaft nicht zu berücksichtigen, da diese Mittel bereits vorletztes Jahr in das Stiftungskapital geflossen sind. Sie sind erst spät die Ehe eingegangen. Die zwei Jahrzehnte, in denen Sie vor der Heirat zusammenlebten, wirken sich an dieser Stelle leider zu Ihren Ungunsten aus.«

»Wie kann mein Vater ohne Mutters Wissen einfach das Testament ändern? Dagegen muss es doch Gesetze geben!«

»Der unterzeichnete Ehevertrag regelt ausdrücklich, dass mein Mandant über das Vermögen, das sich vor der Eheschließung angesammelt hatte, zu jedem Zeitpunkt frei verfügen konnte.«

»Mein Mandant? Hören Sie auf mit dem Gerede. Hier geht es um keinen Mandanten. Hier geht’s um unseren Vater!«

»Von welcher Summe sprechen wir?«, fragte Ingeborg zaghaft, aus Angst, von der Antwort erschlagen zu werden.

»Achthunderttausend.«

»Achthunderttausend«, wiederholte sie.

»Ihr Mann war vor der Ehe rund zwanzig Jahre Inhaber einer gut gehenden Praxis.«

»Ich weiß.« Sie wirkte nicht vollständig anwesend. »Was ist das für eine Stiftung? Wem gehört sie?«

»Sie ist eine juristische Person. Damit gehört sie niemandem. Sie ist nur ihrem Zweck und somit dem Stiftungsvertrag verpflichtet.«

»Und wie sieht der Zweck aus?«

»Darüber wurde Stillschweigen vereinbart.«

»Was machen Sie dann hier, wenn Sie uns nichts zu sagen haben?«, fragte Ingeborg.

»Sie sollten stolz auf ihren Mann sein! Bald wird sein Name und damit auch Ihrer in aller Munde sein«, antwortete Steiner.

11

Neben Martin schlug etwas splitternd gegen die Garagenwand, an deren Ende er sich versteckte. Erschrocken duckte er sich noch tiefer hinter den Zaun. Erst jetzt erkannte er, dass es eine Flasche war.

Das war knapp.

Nur einen Moment hatte er nicht achtgegeben und auf das Handy gesehen. Eine Nachricht aus der Redaktion mit der Adresse des Besitzers der KTM, die nun aus der Ausfahrt donnerte. Das ersparte Martin ein ungleiches Rennen mit seinem Passat in einem verwinkelten Viertel.

Seit er Henning verfolgte, schien dieser zu angespannt für ein Interview. Er sollte ihm etwas Zeit lassen.

Zwei Stunden später drückte er auf die Klingel.

Martin war ein gut aussehender Mann Ende zwanzig. Dezent zu große und damit insgesamt lässig wirkende Jeans in Verbindung mit einem Sechzig-Euro-Hemd, plus passendem Pullunder. Früher ganz erfolgreich bei den Frauen.

»Herr Geiger?«

»Herr Geiger war mein Vater. Sagen Sie Henning

»Sie haben mich womöglich bei der Beerdigung gesehen.« Er hielt einen ramponierten Presseausweis in den Fingern.

Henning schüttelte den Kopf.

»Macht nichts. Wir sollten uns trotzdem unterhalten.«

»Kein Interesse.«

»Wir bringen einen längeren Beitrag über Ihren Vater. Wenn Sie uns helfen, könnten Sie auf den Text Einfluss nehmen.«

»Ist mir egal.« Henning war im Begriff, dem ungebetenen Gast die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

»Ich mache Sie aber auch zum Thema«, warf Martin durch den verbleibenden Türspalt ein.

»Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Ja, aber irgendetwas muss gedruckt werden. Und sobald mein Chef sagt, schreib was über Geigers Sohn, dann schreibe ich etwas über Geigers Sohn. Halten Sie es da nicht für vernünftiger, wenn wir kurz reden, bevor ich einen x-beliebigen Nachbarn befrage und Unsinn verfasse?«

Könnte es sein, dass der Tod Ihres Vaters kein Unfall war?«

Henning zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.« In der Hand hielt er einen langen dünnen Stab mit einer in Plastik eingefassten Rasierklinge am unteren Ende. Ruhig schabte er damit die Algen von den Innenseiten seines Aquariums. Grünalgen, ein überschaubares Problem für das Biotop. Nicht zu vergleichen mit den Kieselalgen, die angeblich völlig unproblematisch von allein verschwinden sollten, deren Auswirkung letztendlich aber doch im Juni die halbe Belegschaft des Beckens dahingerafft hatte.

»Vielleicht hab ich mich falsch ausgedrückt. Wir glauben nicht, dass er umgebracht wurde. Es steht eher im Raum, ob es Suizid war. Hatte er sich in der letzten Zeit merkwürdig verhalten? Wie nah standen Sie ihm denn?«

»Sie halten mich wohl für bescheuert. Wenn ich jetzt sagen würde, dass mir der Alte am Arsch vorbei ging, dann finde ich das morgen in der Zeitung wieder. Also behalte ich meine Gedanken besser für mich und mache einen trauernden Gesichtsausdruck. Haben Sie gesehen? Zwei Honigguramis. Vergangenen Monat hat das Männchen ein Schaumnest gebaut, aber irgendwie stellt es sich beim Aufreißen des Weibchens immer zu blöde an. Tja, er bekommt die PS einfach nicht auf die Straße.«

»Wir haben nicht vor, jede Info gleich abzudrucken. Ehrlich gesagt fehlt uns der rote Faden bei dem, was am Abend in der Pflegeeinrichtung passiert ist. Wir wissen kaum etwas über den Unfall und wir kennen Ihren Vater nicht. Und die Sache mit den Patienten, die mit ihm gestorben sind, lässt sich gar nicht einordnen.«

»Dann sind wir ja bereits zwei, für die das keinen Sinn ergibt.« Hennings Hauptinteresse lag noch immer bei den Algen, die wie weiche Haare in der Strömung trieben.

»Ihr Kontakt zu Doktor Geiger war nicht der beste?«

»Können wir es dabei belassen?«

»Henning, wir haben einige Informationen über die laufenden Vernehmungen und wir erhalten Nachrichten Ihres Vaters, die wir regelmäßig drucken. Er hatte das zu Lebzeiten sichergestellt. Die erste Notiz haben Sie ja sicher mitbekommen. Wir beide könnten uns ergänzen.«

»Wie war noch mal Ihr Name?«

»Martin.«

»Gut, Martin. Reden wir Tacheles.« Henning angelte mit einer überdimensionalen Pinzette ein leeres Schneckenhaus aus dem Becken, dessen Außenwände sich aufzulösen begonnen hatten. »Es interessiert mich nicht! Wirklich! Das können Sie so auch gern drucken. Ich habe mit der Sache abgeschlossen und ich finde, eine Beerdigung ist ein guter Abschluss. Dementsprechend wird das Thema von mir nicht mehr aufgemacht. Sehen Sie sich in der Lage, das zu akzeptieren?«

»Aber es sind Menschen gestorben, bei dem, was Ihr Vater in der Einrichtung gemacht hat.«

»Sie sagen es. Es geht um meinen Vater, nicht um mich.«

»Sie müssen doch ein Interesse daran haben, zu wissen, was da gelaufen ist.«

»Lassen Sie mich damit in Ruhe! Schnappen Sie sich am besten einen Nachbarn und befragen den, so wie Sie es vorgehabt hatten.«

»Kommen Sie, Henning.«

»RAUS!«

12

Henning betrachtete die Roséflasche, die er vor vier Tagen in einer kleinen Drogerie gefunden hatte. Zufällig hatte er sich seinerzeit in der Leipziger Straße aufgehalten. Eine Gegend, zu der ihm grundsätzlich der Bezug fehlte. Die Weinabteilung war unerwartet – nicht nur vorhanden, sondern auch ganz ordentlich. Wahrscheinlich hatte er mit dem Bardolino ein Exemplar gegriffen, das vorwiegend weibliche Käufer fand. Getöntes Glas mit Schmetterlingen darauf und ein tief rosafarbener Ton, der sich erst voll entfaltete, wenn man den Wein gegen das Licht hielt. Kaufentscheidend war die Rückseite. Trocken, fruchtig und ein Rosé, was im Sommer durchaus Sinn ergab. Henning hatte immer mal wieder Phasen, in denen er eine Abwechslung zum Bier brauchte.

Neuneinhalb Prozent, kein Wunder, dass er nicht dreht. Henning schenkte der leeren Flasche keine Beachtung, während er überlegte, ob er sich noch eines der Plasteflaschenbiere aus dem Discounter genehmigte.

Auf seinem Handy leuchtete der Name Steve auf. Er ignorierte ihn. Stattdessen kramte er im Gemüsefach des Kühlschranks nach dem Bier. Erneut schellte es.

Es war selten, dass Steve mehrfach anrief.

»Ja?!«

»Du Pisser!«

»Was?« Henning konnte sich nicht erinnern, dass ein Gespräch mit seinem Bruder jemals so angefangen hatte.

»Was hast du mit Vater am Laufen gehabt?«

»Komm mal runter, Junge.«

»Einen Teufel werd’ ich.«

»Einen Teufel werd’ ich«, äffte er ihn nach.

»Sag mir, warum Mutter enterbt wurde!«

»Weiß ich doch nicht.«

»Genau. Wenn du das nächste Mal im Dunkeln vor die Tür gehst, solltest du dich vielleicht einmal mehr umdrehen.»

»Alter, was soll der Scheiß?«

»Das bereust du!«

»Leck mich doch!« Henning beendete das Gespräch. Ihm fehlte der Nerv, sich mit seinem hysterischen Bruder auseinanderzusetzen. Es brauchte auf dem Telefon drei Displayberührungen, um die gespeicherte Nummer der Mutter anzuwählen.

»Inge?«

»Was willst du?«

»Ich hatte Steve eben in der Leitung. Der dreht völlig durch.«

»Henning, solange ich nicht weiß, was zwischen euch und Vater gelaufen ist, habe ich keine Lust zu telefonieren.«

Was zwischen MIR und Vater gelaufen ist, meinst du wohl eher, hatte er auf der Zunge, doch bevor er es in Worte bringen konnte, hatte Inge aufgelegt.

13

Hennings Finger flogen wütend über das Touchpad.

Scheiß Familie!

Vor einigen Tagen noch konnte er von sich sagen, dass ihn sein Vater nicht im Geringsten interessierte. Das ließ sich nun nicht mehr behaupten. Nicht, dass sich seine Beziehung zu ihm mit dessen Tod verbessert hätte, es standen inzwischen nur zu viele Fragen im Raum – ein Defizit, mit dem Henning noch nie umgehen konnte.

Er kramte in älteren Nachrichten, auf der Suche nach der E-Mail-Adresse seines Vaters. Anfang des Jahres hatte er ihm ein Dokument geschickt. Welches, war nicht von Bedeutung. Er brauchte nur die Adresse.

Yahoo war es nicht. Googlemail gab es vermutlich noch nicht, als er ihm den Account damals eingerichtet hatte. dr.oswald.geiger, soviel wusste er. Nur die Endung bekam er nicht mehr ins Gedächtnis.

Bis er sie fand.

dr.oswald.geiger@web.de

Anmeldung.

Passwort vergessen.

Sicherheitsfrage.

Der Laptop brauchte einige Sekunden, sie anzuzeigen.

Geburtsname der Mutter?

Oswald Geiger hatte selten E-Mails geschrieben. Er nutzte sein Postfach nur, um wichtige Dokumente hochzuladen und sie nicht zu verlieren, falls es wieder so ein heißer Sommer wie 2014 würde oder ein beliebig anderer Grund seinen Praxisrechner auf dem Gewissen haben könnte. Es hatte den angenehmen Vorteil, über die Unterlagen an praktisch jedem Ort mit Internet verfügen zu können.

Schillack.

Neun Buchstaben und Henning befand sich im Postfach des Vaters. Nachdem die Polizei den PC aus der Arztpraxis sichergestellt hatte, wäre dies der einzige Weg, in Erfahrung zu bringen, warum die ganze Familie gerade verrückt spielte.

Die zuletzt hochgeladene Datei war ein Protokoll. Henning überflog es. Fachchinesisch. Er brauchte einen Arzt, der ihm dabei half. Er würde sich einen suchen und hatte bereits jemanden im Hinterkopf.

Er klickte auf das vorletzte Dokument, das auf einem der Web.de-Server lag. Ein kurzer Bericht des Vaters von einem Tag, dessen Datum sich nicht mehr nachvollziehen ließ.

Ich musste innehalten, mich am Geländer abstützen. Gleich sollte es wieder gehen. Nur einen Augenblick.

Alles um mich machte den Eindruck, als zöge urplötzlich die Geschwindigkeit an. Menschen unterhielten sich. Doch die Worte fielen ihnen viel zu schnell aus dem Mund, sodass es mir nicht gelang, sie zu Sätzen zusammenzusetzen.

Nur waren es nicht allein die Menschen, denn diese Beschleunigung betraf ausnahmslos jedes Detail, jede Bewegung.

Wolken schossen über den Himmel, aber es stürmte nicht. Ein Feuerzeug flammte auf und erlosch wieder, als es die Hitze an eine Zigarette weitergegeben hatte. Zu schnell für mein Auge. Ich sah es nicht, obwohl ich in die Richtung starrte, registrierte nur, wie die Frau Qualm ausstieß, die bis eben noch in ihrer Tasche nach etwas gesucht hatte.

Ein Rollladen fiel. Ich schaffte es nicht den Kopf rechtzeitig zu drehen, um einen Rest davon mitzubekommen.

Der Ort, an dem ich mich befand, hatte ein Mehrfaches von der Geschwindigkeit aufgenommen, bei der ich hätte Schritt halten können. So kam es mir zumindest vor. Doch es war nicht der Ort, der den Pulsschlag erhöht hatte. Ich war die Ursache.

Angst zerrte an meiner Lunge, lähmte sie. Ein Ausläufer des Schocks, der selbst auf dem Herzen lag und das Blut kaum noch voran schob. Alles in mir wurde derart langsam, dass ich hinter die Zeit zu geraten drohte.

Genauso fängt es an. Erst mit kaltem Schweiß. Später mit dem Unvermögen, dem Lauf der Zeit zu folgen, und dem ekelhaften Gefühl, welches immer dann eintritt, wenn nur noch Sekunden fehlen, bis man das Bewusstsein verliert – etwas, das sich nicht beschreiben lässt, weil es keine Übelkeit und kein Schwindel ist. Früher dachte man, es wäre die Konsequenz dessen, dass der Kreislauf absackte. Aber es war vielmehr das, was alle empfinden, sobald sie mit der Zeit nicht mehr synchron laufen. Eine Gratwanderung, bei der nur ein Quäntchen zu viel ausnahmslos im Tod endet.

Wie heilsam schien da die Ohnmacht, in die ich fiel, und die geeignet war, meinen Zustand ein weiteres Mal zu heilen. Wenn ich aufwachte, würde es wieder gut sein, mit mir und der Zeit.

Anfang Mai, vier Monate bevor Doktor Geiger starb, kam er das dritte Mal dem Tod nahe. Er verhielt sich nicht anders als jemand, der Kontakt mit dem Sekundenschlaf gemacht hatte.

Beim ersten Mal überkam ihn Entsetzen – der kurze Verlust des Bewusstseins hätte für ihn das Ende bedeuten können. Dann geschah es erneut und er gewöhnte sich an den Gedanken. Hoffte, dass es ihn auch in Zukunft sicher zurückbrächte. Bis er darauf vertraute und davon überzeugt war, dass er immer wieder unbeschadet aufwachen würde.

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