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Kitabı oku: «Fabeleien», sayfa 6

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Erster Versuch

Täglich im Morgengrauen, lange bevor die Sonne aufging, verließ der Prophet seine Höhle und wanderte weit durch die Wüste zur Quelle, aus der er trank. Dort grub er nach Wurzeln und sammelte die Früchte der Palmen, um seinen Hunger zu stillen. Die großen braunen Affen, welche die Oase bewohnten, taten ihm nichts zu Leide. Sie behandelten ihn wie ihresgleichen; und wenn sie in den Palmenkronen saßen und die vollen Datteltrauben lärmend plünderten, warfen sie wohl im Übermute der Schwelgerei angebissene Früchte herab. Von diesen Abfällen ihrer Mahlzeiten nährte sich der Prophet. Er befand sich sehr im Nachteil gegenüber den Affen; er besaß kein zweites Paar Hände zum Klettern und war mit einem nachdenklichen Kopfe beschwert.

Neunmal neunmal und abermals neunmal neunmal – der Prophet konnte nur bis neun zählen – wechselte der Mond, während der Prophet in der Wüste wohnte. Tagsüber saß er in seiner Höhle, die Beine kreuzweise ineinander verschlungen, die Hände über dem Hinterhaupt gefaltet, den nackten Rücken an eine scharfe Felskante gelehnt, und dachte, dachte, dachte nach.

Für ihn war das keine kleine Aufgabe; denn er gehörte zu den ersten Menschen, die sich mit Denken beschäftigten. Vielleicht war er der erste. Er konnte sich an keine Tradition halten; keine Autorität kam ihm zu Hilfe; er mußte sich seine Welt völlig aus dem Nichts schaffen. Aber schon er hatte sein entscheidendes Grunderlebnis gehabt, wie alle Propheten seither, das Erlebnis, das sein Schicksal war, und das er in Gestalt seiner Gedanken auf die Nachwelt vererbte, wie alle Propheten seither.

Über die Natur seines eigenen Denkens hatte er eine Theorie erfunden, auf die er seine Weltanschauung gründete. Er dachte, daß in seinem Kopf eine Fledermaus wohne, die mit dunklen Flügeln darin umherfliege und wandelnde Schatten in sein Inneres werfe. Keine andere Annahme schien ihm geeignet, die rätselhaften Zustände zu erklären, die ihn bewegten. Lächelt nicht, ihr späten Enkel des Propheten! Könnte es nicht geschehen, daß auch eure späten Enkel über die Theorie lächeln werden, auf die ihr eure Weltanschauung gründet – – –?

Es war schon lange her, seit die Fledermaus sich das erste Mal im Köpfe des Propheten geregt hatte. Als er noch ein Knabe war und seines Vaters Schafe hütete, geschah es.

Einst fand er bei der Heimkehr seine Sippe in Aufregung. Die Weiber kreischten, der Vater brüllte. Er hatte aus irgend einem Grund eine der Frauen gezüchtigt. Sie lag auf dem Boden mit weitaufgerissenen Augen und rührte sich nicht.

Eben befahl der Vater einem Sklaven, sie an einen bestimmten verrufenen Ort, den niemand betreten durfte, zu tragen. Dort sollte sie bleiben, preisgegeben den Geiern und Hyänen.

Er wußte den Ort; heimlich stahl er sich hin, als er den Sklaven zurückkommen sah.

Auf den brennenden Felsen hingestreckt, starrte sie mit ihren weitaufgerissenen Augen in den Himmel. Er rief sie an, aber sie gab keine Antwort; er faßte ihre Hand, aber ihre Hand war steif und kalt. Senkrecht über ihr kreiste hoch oben ein schwarzer Punkt in der blendenden Bläue.

Und er stand und schaute. Er gedachte der verflossenen Nächte, als er an das Zelt geschlichen war, in dem sie schlief. Hinter dem Vorhang hervor drang Geflüster. Er wußte, was das Geflüster bedeute, und hatte in kommenden Nächten auch mit ihr flüstern wollen. Und nun lag sie hier, stumm, kalt, tot. Ja tot, tot! Was war das: tot? Sie war noch hier und war doch nicht mehr hier; sie war es noch ganz und war es doch nicht mehr.

Er kniete nieder und beugte sich lauschend über sie. Kein Hauch ging aus ihrem Munde aus und ein; sie war stille, ganz still. In seiner Brust, dort, wo es innen klopfte, zog sich etwas schmerzhaft zusammen, und aus seinen Augen fielen heiße Tropfen auf ihr unbewegliches Gesicht. Und schluchzend stürzte er sich mit ausgebreiteten Armen über sie.

Am nächsten Abend eilte er noch einmal zu ihr. Rot glühte der Himmel wie in Flammen. Die Sonne hing als eine blutige Scheibe über dem Rand der Wüste; ihm deuchte, nie sei sie so groß und so rot gewesen.

Auf der Brust der Toten saßen zwei Geier und hackten rote Streifen aus dem schönen, jungen, weißen Leib. Er verjagte sie mit seinem Stabe; widerwillig flogen sie auf und setzten sich auf den Absturz nebenan.

Und er betrachtete die Tote mit wachsendem Leide. Er sah aus ihrer zerfleischten Brust ein rötlich weißes Gerüst hervorragen und darunter rätselhafte, grauenvolle Gebilde, wie wenn ein Lamm geschlachtet worden ist und die Eingeweide herausgenommen werden sollen. Ihr Gesicht aber war seltsam; sie schien zu lachen, mit einem fürchterlichen, grinsenden Lachen; denn die Oberlippe fehlte, und alle die weißen, rundlichen glänzenden Zähne zeigten sich wie bei einem fröhlichen Menschen, der von Herzen in ein lautes Gelächter ausbricht. Ihre Augen schienen noch weit mehr aufgerissen; aber nichts weißes war mehr daran sichtbar, sondern nur zwei große schwarze Höhlen.

Und während er sie so anstarrte, von Grauen geschüttelt wie vom Fieber, öffneten sich ihre Kinnbacken, und etwas, das aussah wie ein rotes Mäuschen, lief heraus.

Da sträubten sich seine Haare, und mit einem lauten Schrei rannte er davon.

Viele Tage lang dachte er nicht mehr daran, wieder an jenen Ort zu gehen; er hätte es nicht gewagt aus Furcht vor dem roten Mäuschen. Und doch fürchtete er sich vor nichts auf der Welt, nicht einmal vor seinem Vater, dem mächtigen Herrn so vieler Schafe, Weiber, Pferde, Rinder und Kamele. Aber einmal in der Nacht erwachte er jählings. Der Mond schien ihm in das Gesicht, hell wie der Tag. Er sprang auf. Mit festem Schritte ging er zwischen seinen Brüdern hindurch aus dem Zelt. Die Wächter sahen ihn nicht; er schlich an ihnen vorbei in die Wüste hinaus. Das Geheul der Schakale und Hyänen drang an sein Ohr, aber er kehrte sich nicht daran. Er wollte die Tote noch einmal sehen, trotz ihrer leeren Augen und ihres gräßlich lachenden Mundes. Er wollte sie anrufen, sie bei der Hand nehmen und ihr sagen, daß er gekommen sei ihretwegen – vielleicht nützte das. Vielleicht konnte sie dadurch wieder lebendig gemacht werden. Er vergaff ihre schrecklichen Wunden, er vergaß ihren langen Todesschlaf – er empfand nur eine alles verzehrende Sehnsucht nach ihr. Also mußte sie noch irgendwo sein und vielleicht nicht unerreichbar für ihn.

Die Wüste glänzte wie Silber. Und in ihren blinkenden Sand halb eingebettet lag ein weißes Gebein, gewölbte Stäbe über einer zerfallenen Kette von kleinen viereckigen Gliedern, und oben ein schöngerundetes Gefäß mit zwei großen Öffnungen und einer kleineren, darunter zwei Reihen Zähne. Das war alles, was von ihr übrig geblieben war.

Da schwand seine Hoffnung, daß sie zurückkehren könnte, für immer. Und mit seiner gebrochenen Stimme, in der die Männlichkeit ihre ersten rauhen Töne anschlug, hub er eine schwermutvolle Klage an. Laut scholl sein Rufen durch die mondhelle Wüste und vermischte sich in den lauen Lüften mit dem Heulen der nächtlichen Tiere.

»Wohin bist du gegangen, du Schöne, du Geliebte! Wohin bist du gegangen, daß du nicht mehr zurückkehren kannst zu dem, der durch die Nacht wandert nach dir! Wo sind deine Haare, die um dein Gesicht hingen wie die Mähne des schwarzen Pferdes, das auf den Triften weidet? Wo sind deine Wangen, die lieblich waren wie die Wolken, die gegen die Morgensonne gewendet stehen? Wo sind deine Augen, mit denen du mich angesehen hast wie eine Gazelle, vor deren Blick das Herz des Jägers erzittert, daß er den Pfeil nicht abdrücken kann? Wo sind deine Arme, deine Brüste, deine Hüften, die ich begehrt habe wie ein Mann ein Weib begehrt? Ach, es ist alles dahingegangen; du bist dahingegangen in deiner Schönheit und Jugend, und ich werde dich nicht wiederfinden, nicht an den Weideplätzen, die am Strome liegen, und nicht dort, wo alles Land sich in das große Wasser stürzt. Wehʼ mir, ich werde dich nie wiederfinden!«

Von dieser Stunde an hatte er kein Verlangen mehr nach Weibern; wenn sie ihm winkten oder mit den Augen blinkten, begann die Fledermaus in seinem Kopfe zu kreisen, und dann fragte er wohl: »Weißt du, wohin du gehst, wenn du tot bist?« Aber die Schönen verstanden nicht, was er meinte; sie lachten über ihn, oder sahen ihn scheu an mit furchtsamen Lämmeraugen.

Und als die Zeit gekommen war und er unter die Männer aufgenommen werden sollte, trat er vor die

Ältesten seines Stammes und fragte: »Wißt ihr, wohin die gehen, die tot sind?«

Aber auch die Ältesten verstanden nicht, was er meinte; sie schüttelten ihre kahlen Köpfe über seine Frage. Der Allerälteste und Weiseste räusperte sich und sagte:

»Wer weiß nicht, wohin die Toten gehen? Sie gehen in das Feuer, in dem sie verbrannt werden. Das ist jedem offenbar, der es gesehen hat. Du aber hebe dich hinweg mit deiner eitlen Frage; willst du uns zum Besten haben, du Narr?«

Hierauf ergrimmten die Ältesten und hoben Steine auf, um ihn zu steinigen.

Er aber entfloh in die Wüste. Dort konnte er ungestört seiner Frage nachhängen; die braunen Affen verstanden sie zwar auch nicht, doch steinigten sie ihn wenigstens nicht deswegen.

Und der Bart wuchs ihm lang und länger, und die Nägel wuchsen ihm lang und länger, und er dachte, dachte, dachte nach.

Schwer war das Denken, unsäglich schwer; eine so gewaltige Arbeit war es, daß man sie mit keiner anderen vergleichen konnte. Der Prophet ließ nichts unversucht, um sich in dieser Arbeit zu fördern. Stundenlang schüttelte er den Kopf, als es ihm zum Bewußtsein kam, daß der Kopf der Sitz jenes widerspenstigen Wesens war, welches Gedanken hervorbrachte. Oder er drehte den Oberkörper mit diesem sonderbaren Kopfe unter beschwörendem Klagegeheul so lange im Kreis herum, bis er ohnmächtig hinfiel, oder bis er sich in Krämpfen auf dem Boden wälzte.

Anfänglich hatte er in der Oase gewohnt; allein er fand bald, daß dieses liebliche Wohlleben seinen Bestrebungen nicht zuträglich war. Wenn er in angenehmer Sattheit auf dem kühlen Rasen lag und dem besänftigendem Murmeln der Quelle lauschte, indes die Palmen im Abendwind säuselten, bemächtigte sich seines Gemütes eine solche Zufriedenheit, daß seine Gedanken einschliefen und nicht wieder erwachen wollten. Er aber liebte seine Gedanken mehr als das Wohlleben; deshalb ging er hinaus in die Wüste und peinigte sein Fleisch.

So saß er in seiner Höhle, einsam, als wäre er allein auf der Welt, und so dachte er nach, neunmal neun Monde lang und nochmals neunmal neun Monde lang.

Da begab sich in einer Vollmondnacht etwas unerhörtes. Ferne am Saum der Wüste tauchte eine breite dunkle Schlange auf, eingehüllt in eine helle Staubwolke. Und als die Schlange sich näherte, sah der Prophet, daß es eine große Horde Menschen war, die da einherzog mit Pferden und Eseln und fremdartigen Tieren, deren Nasen bis an die Erde reichten, mit hochgeschnürten Bündeln und mannigfachen Gerätschaften.

Neugierig ging der Prophet dem Zuge entgegen. Er war ein primitiver Weiser und betrachtete Neugierde noch nicht als etwas, das ein Mann sich nicht eingestehen darf. Ja sein Herz schlug höher bei dem langentwöhnten Anblick menschlicher Gestalten; freundlich begrüßte er die ersten, die in seine Nähe kamen. Allein sie antworteten ihm nicht; scheu und ängstlich wichen sie vor ihm zurück, wie vor einem wilden Tiere. Sie sahen traurig aus und matt bis zum Tod.

Gern hätte der Prophet gewußt, woher sie kämen, wohin sie gingen; er redete lauter und eindringlicher zu ihnen, damit sie doch vielleicht Vertrauen zu ihm gewännen. Endlich blieb ein alter Mann, der wohl der Anführer sein konnte, vor ihm stehen und sagte: »Wir haben seit drei Tagen nicht getrunken, wir sind dem Tode nah. Der du hier lebst, weise uns die Quelle, aus der du trinkst!«

Das zu hören, war dem Propheten nicht lieb. Wenn diese ganze, große Menschenmenge in seine Oase kam, würden sie die Quelle zertrampeln und die Palmen kahl fressen. Wie sollte er dann sein eigenes Leben fristen?

Indes der Prophet solchergestalt klüglich überlegte, begann aber die Fledermaus, dieses wunderliche, fremde, höhere Wesen, in seinem Kopfe zu kreisen. Und es schien ihm plötzlich, daß auch er ein Dürstender unter Dürstenden sei; und er beschloß, daß er seine Quelle denen schenken wolle, die da durstig waren. Seine gebeugte Gestalt richtete sich auf, seine schwarzen Augen erglühten. Hoch erhob er seine abgemagerten Arme und rief mit starker Stimme: »Heil ist euch widerfahren; denn ich will euch weisen den Weg, der zur Quelle führt«.

Und die Horde zertrampelte seine Quelle und fraß seine Palmen kahl. Schreiend entflohen die braunen Affen; das älteste Männchen sprang im Vorübereilen auf den Propheten los, zauste ihn weidlich und ohrfeigte ihn. Der Prophet empfand die volle Berechtigung dieses Grimmes; denn hätte er, ohne seine innerliche Fledermaus, selbst anders gedacht als der erfahrene alte Affe?

Als sich alle gesättigt hatten, kam der Führer und erzählte das Schicksal seines Volkes. Sie wohnten an den Niederungen des großen Stromes, in dem fruchtbaren und gesegneten Streifen Landes, der zwischen den Sümpfen und der Wüste liegt, reich und glücklich, ein zahlreiches Volk, bis von den Sümpfen her ein giftiges Wehen entstand und sie mit einer grimmen Seuche heimsuchte, die gewütet habe viele Monde lang und dahingewürgt fast alles Volk. Da hätten die Oberlebenden beschlossen, um dem großen Sterben zu entrinnen, auszuwandern aus dem Lande ihrer Väter und sich eine neue Heimat zu suchen, wo das große Sterben sie nicht mehr ereilen könnte. Aber die Furcht des Todes sei über sie gekommen und wandere mit ihnen; und alle Oberlebenden seien ergriffen von großer Trauer und Unruhe.

Der Prophet hörte gedankenvoll zu. Dann stellte er seine große Frage:

»Wißt ihr, wohin die gehen, die tot sind?«

»Wir wissen es nicht,« sagte der Führer; »aber wenn du es weißt, so sage es uns. Denn wir waren ein großes und mächtiges Volk, und jetzt sind wir ein Haufen verlorener Flüchtlinge, verlassen von unseren Weisen und Mächtigen; die Seuche hat sie uns hinweggeführt, wir wissen nicht wohin.«

Da erkannte der Prophet, daß seine Zeit gekommen war.

Er hieß den Führer, sich einen zu wählen aus seinem Volk, der für ihn zeuge. Und als es Nacht war, führte er die beiden Männer in seine Höhle und befahl ihnen, niederzuknien auf die spitzen Steine und die Arme auszubreiten und den Kopf auf die spitzen Steine niederzubeugen und in dieser ehrfurchtsvollen Stellung den Morgen zu erwarten.

Der Prophet bereitete sich auf das Kommende. Noch einmal durchlief er alle seine Methoden und Systeme des Denkens; er schüttelte den Kopf und drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst; er schlang sich die Beine um den Rumpf in wilden Verknüpfungen und zog sich die Zunge heraus bis auf die Brust; er heulte, er stöhnte, er brüllte, und der Schaum stand ihm vor dem Munde.

Die beiden Profanen hörten es schaudernd. Zuweilen hoben sie ein wenig die Köpfe, um nach ihm hinzuschielen. Dann sahen sie, wie er sich mühte in ungestümem Eifer, und senkten ihre Köpfe wieder schleunig auf die spitzen Steine. Am liebsten wären sie davongelaufen; allein sie fühlten, daß dieser außerordentliche Mann sie festbannte mit unbegreiflicher Macht.

So kam der Morgen heran.

Der Prophet warf sich zwischen seine Auserwählten auf den Boden hin und hieß sie sich aufrichten auf den Knien. Und sie erhoben ihr Angesicht. Da stand der Himmel vor dem Höhleneingang in rotem Feuer; und über dem dunkelblauen Rande der Felsenhügel schwebte ein flammender Streifen, der langsam wuchs und sich zu einer ungeheuren Scheibe wölbte.

Und in Schauern der Ergriffenheit bebend, hub der Prophet an:

»Das ist sie! Das ist sie! Sehet hin und schauet! Das ist die Mutter alles Lebendigen! Das ist der heilige Schoß, der alles gebiert, was da lebet! Das ist der Quell, aus dem das Leben träufet! Das ist das Urlicht, das die Strahlen aussendet, das sind die Strahlen, welche die toten Gehäuse in lebendiges Fleisch verwandeln! Und abermals ist es der heilige Schoß, der alles wieder aufnimmt, was da gelebt hat! Der Quell, in den das Leben zurückträufet! Das Urlicht, in das die Strahlen zurückkehren, wenn die Nacht einbricht!«.

Die beiden Andern starrten ihn erschrocken mit großen Augen an. Er sah, daß sie ihn nicht verstanden hatten, und daß er sich deutlicher ausdrücken mußte.

»Also vernehmet und höret mich an: Das ist die große Urmaus, die große Muttermaus, die Gebärerin aller einzelnen kleinen Mäuse! Denn wisset: was im Menschen sich regt und macht, daß er hierhin schreitet und dorthin, daß er aufsteht und sich niedersetzet, daß er Wohlgefallen empfindet und Schmerz, Freude und Zorn, daß der Hauch aus seinem Munde geht und die Sprache aus seinem Halse, dies alles bringt ein Wesen hervor, das in ihm wohnet in Gestalt einer kleinen roten Maus. Täglich früh, wenn die große Urmaus glanzvoll über den Rand der Welt heraufsteigt, sendet sie auf ihren Strahlen die kleinen roten Mäuse aus. Die laufen einher auf dem goldenen Wege wie hurtige Wiesel und laufen hinein in die Leiber der Kinder, die an diesem Tage geboren werden, und bleiben wohnen in ihnen, bis sie tot sind. Und allabendlich, wenn die große Urmaus schlafen geht hinter den Rand der Welt, laufen die kleinen roten Mäuse aus den Leibern der Verstorbenen zurück auf dem goldenen Wege in den seligen Schoß der großen Urmaus. So lebt der Mensch, so stirbt der Mensch. Von wannen er kommt, wohin er geht, ihr habt es gehört, ihr habt es gesehen.«

Da fielen die beiden Andern vor ihm nieder auf ihr Angesicht und küßten den Staub von seinen Füßen. Jetzt hatten sie ihn verstanden.

»Auf, künde unseren Brüdern die Botschaft des Heils,« schrien sie begeistert. »Du sollst hinfort unser Herr und Hort sein, unser Führer und Fürst!«

Und die Menge huldigte dem Propheten. Er führte das Volk über das große Gebirge hinab in fruchtbare Täler und siedelte es dort an, und gab ihm den Anführer als König und dessen Zeugen als Oberpriester. Er selbst zog sich wieder in die Einsamkeit zurück. Denn er liebte die Regierungsgeschäfte nicht; er hatte zuviel nachgedacht in seinem Leben.

Als er aber zu sterben kam, berief er zu sich den König und den Oberpriester, und sprach zu ihnen:

»Meine Freunde, ich habe nicht alles mitgeteilt, was ich weiß. Jetzt in der Stunde, da ich scheide, will ich aussprechen, was mein eigen war als das Süßeste und als das Bitterste meines Lebens. Vernehmt denn: es gibt Menschen, in denen wohnt nicht ein gewöhnliches rotes Mäuschen, sondern ein Mäuschen, das Flügel besitzt. Flügel, meine Freunde, versteht mich wohl! Und das geflügelte Mäuschen flattert in ihrem Kopfe herum und erhebt sich überall dorthin, wohin die gewöhnlichen roten Mäuschen nicht laufen können. Die Menschen der geflügelten Mäuschen aber, das sind die Auserwählten; daran sollt ihr erkennen, wer ein König und Herr ist unter den Menschen, und ihnen Ehre erweisen und sie heiligen vor allem Volk.«

Nachdem er also gesprochen hatte, sank er zurück und schloß die Augen.

»O, Erhabener, deine Rede sei gepriesen,« sprach der König; »aber woran sollen wir denn erkennen, ob in einem Menschen ein gewöhnliches Mäuschen oder ein geflügeltes wohnt?«

Darauf gab der Prophet keine Antwort mehr. Der Oberpriester beugte sich über ihn und horchte an seinem Munde. Nach einer Weile sagte er erschüttert: »Sein Mäuschen ist entschwebt!« – – –

Mein Traum

Ich pflege selten zu träumen. Aber wer kann sich ganz ohne Träume durchʼs Leben schlagen? Kaum nickt der Kutscher ein wenig ein, so geht der Hippogryph durch; und das arme liebe Ich, das ahnungslos wie ein reisender Engländer hinten im Wagen sitzt, sieht sich plötzlich fortgerissen über Stock und Stein, aus allen Geleisen heraus, in die Hölle oder in den Himmel, ohne daß es um seine Wünsche und Absichten gefragt würde.

Auf diese Weise kam ich jüngst in den Himmel. Vorher war ich ganz vulgär menschlich in einem irdischen Garten herumgegangen und hatte über irgend etwas nachgedacht. Ich glaube, über die Unzulänglichkeit der Weltregierung, die unbefriedigenden Fortschritte der Menschheit, oder dergleichen müssige Dinge. Es mußte lange schlechtes Wetter geherrscht haben, denn eine kleine Lücke in dem bewölkten Firmament über mir, durch die der blaue Himmel hereinschien, machte mir einen besonderen Eindruck. Und mit der überraschenden Logik der Träumer dachte ich: Holla! Warum sollte man nicht einmal versuchen, durch diese Lücke hineinzugelangen? Zuversichtlich entschlossen schöpfte ich tief Atem, blies die Backen auf – und in der Tat, ich begann wie ein Luftballon senkrecht in die Höhe zu steigen, höher und immer höher. Ich fand dies nicht im geringsten erstaunlich; ich wunderte mich sogar flüchtig darüber, daß die Menschen nicht längst auf dieses einfache Mittel, das langweilige Gesetz der Schwere zu überwinden, verfallen waren.

Oben an der Wolkendecke stieß ich mit dem Kopf unsanft an, denn ich konnte die Öffnung nicht gleich finden. Ich versuchte es ein zweites, drittes, viertes Mal. Glücklicherweise stammen meine Vorfahren aus dem Lande ob der Enns; solche Schädel halten einen Puff aus. Schließlich traf ich doch ins Schwarze; und ich schlüpfte durch einen engen Schlot, der nach Geräuchertem roch wie ein ländlicher Kamin, aufwärts.

Als ich glücklich draußen war, befand ich mich in einem unermeßlich großen Treppenhause, in dem nach allen Seiten hin krystallene Stufen und goldene Geländer in zahllosen Wendungen zwischen wolkenfarbenen Marmorpfeilern emporführten.

Bei diesem Anblick dachte ich gleich an die biblische Himmelsleiter; und da die Menschheit seit den Tagen der Patriarchen wenigstens auf den Gebieten der Technik und des Komforts unleugbare Fortschritte gemacht hat, schien es mir ganz angemessen, daß sich die primitive Leiter des Erzvaters indessen in solch ein herrliches Treppenwerk verwandelt habe. Von den auf- und abwandelnden Engeln hingegen bemerkte ich nichts. Alles war leer und still; kein himmlischer Portier fragte den Ankömmling, wohin er wolle; kein beflügelter Lakai nahm ihm seine Visitkarte und seine Überkleider ab. Aber mit einiger Anstrengung erspähte ich doch vereinzelte, geisterhafte Gestalten, die sich in größerer oder geringerer Ferne von einander fortbewegten. Schwach schimmerten sie durch die weltweiten Räume wie Sterne auf einem nebeligen Winterhimmel. Nirgends gingen ihrer zwei zusammen; es schien mir, daß jede für sich einen der unzähligen Treppenarme benützte, die sich wohl erst weiter oben, in einer Höhe, in die mein Blick nicht hinaufreichte, vereinigten.

So entschloß ich mich auf gut Glück, die Stufen, die mir zunächst lagen, zu betreten. Wenn ich nur immer tapfer aufwärts stiege, konnte ich ja, so dachte ich, das Ziel nicht verfehlen.

Viele hundert Jahre lang ging ich fort auf den breiten schimmernden Stufen. Von ihnen schien das Licht auszuströmen, das diese Räume mit reiner Klarheit erhellte und alle Schatten in Glanz auflöste. Unersättlich weidete ich mich an der Pracht, die mich umgab. Geschoß auf Geschoß erhob sich herrlich und herrlicher; in immer neuen Perspektiven reihten sich Säulen, Bogen, Wölbungen übereinander; die goldenen Geländer schlangen sich aufwärts ohne Ende – unter mir, neben mir, über mir Stufen und Stufen bis in die blaue Ewigkeit.

Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick nach hinten, ob nicht jemand nachkäme; aber es kam niemand nach. Auch hoffte ich im Stillen, eine jener Gestalten einzuholen, die ich früher wahrgenommen hatte; aber ich holte niemanden ein. Im Gegenteil: ich erblickte weit und breit keine Spur mehr von ihnen; sie hatten sich in den ungeheuren Entfernungen dieses glanzvollen Labyrinthes verloren, und ich war mutterseelenallein auf meinem Wege.

Eine große Stille herrschte, eine völlige Lautlosigkeit, wie sie auf Erden auch in den schweigsamsten Mondnächten nicht besteht. Ich hörte nur meine eigenen Schritte mit einem knappen, trockenen Ton auf die Stufen schlagen – tapp, tapp, tapp, eintönig fort.

Allmählig begann das scharfe, kalte, klare Licht mich in den Augen zu schmerzen; die empfindliche Kühle dieser marmornen Hallen durchfröstelte mich bis ins Innerste.

Und in meinem Gemüt regte sich ein Zweifel, ob ich denn auf dem rechten Wege sei. Vielleicht gelangte man nach dieser Richtung hin gar nicht in die bewohnten Räume des Himmels? In die Appartements des lieben Gottes, wo die neun Chöre der Engel musizieren und die Muttergottes mit den Heiligen Cercle hält? Vielleicht führte dieser Treppenarm nach jenen Teilen des Himmels, die, vorläufig unbenützt, erst zum Aufenthalt für die Seelen kommender Jahrtausende bestimmt sind? Und ich mußte dann zur Strafe dafür, daß ich den Mund vollgenommen und mich mit einer voreiligen Umgehung der Naturgesetze in den Himmel eingeschlichen hatte, all die lange Zeit hindurch einsam und verlassen harren, bis jene späten Gäste ankämen? Bis die Überzüge von den Möbeln entfernt, die Jalousien aufgezogen und die Flügeltüren geöffnet werden, weit auf, daß der strahlende Glanz und die unsterbliche Musik jener anderen Sphären hereinfluten können –?

Mit einem Male hatte sich die Umgebung ganz verändert. Verschwunden waren die unabsehbaren Fernen mit ihren endlosen Reihen leuchtender Stufen; undurchsichtige kalkige Mauern engten den Gesichtskreis ein, die Wölbungen senkten sich niedriger herab, die Stufen wurden schmal, steil, dunkel, und bald unterschied sich mein Weg kaum mehr von der kahlen Treppe, die in eine von armen Handwerkern und dürftigen Witwen bewohnte Mansarde hinaufführt.

Es befremdete mich, daß es im Himmel hergehen sollte wie in irdischen Häusern, wo die Treppen desto schlechter werden, je weiter man sich von der Beletage entfernt. Zugleich drückte mich das Bewußtsein nieder, daß ich allem Anschein nach auf die Dachbodenstiege des Himmels geraten war, und also wirklich den rechten Weg verfehlt hatte. Denn man stellt seiner Intelligenz immer ein schlechtes Zeugnis aus, wenn man einen Weg verfehlt.

Ich überlegte, ob ich nicht lieber umkehren sollte. Aber der Gedanke an Umkehr erweckte in mir eine seltsame Traurigkeit, eine schmerzliche Wehmut, so daß ich mich an die Mauer lehnte und, überwältigt von unerklärlichen Gefühlen, den Tränen, diesem Universalheilmittel der weiblichen Natur, freien Lauf ließ.

Da war mirʼs, als hörte ich durch die tiefe Stille schwache, verlorene Töne dringen. Sie schienen aus der Höhe zu kommen; je länger ich lauschte, desto deutlicher vernahm ich sie. Es war eine alte, schlichte, einfältige Weise; sie erinnerte mich an eine Melodie, die ich in meiner Kindheit gehört und längst vergessen hatte. Aber ein wundersamer Trost ging von ihr aus; mit neuem Mute kletterte ich noch eine erkleckliche Zahl von Stockwerken aufwärts, bis ich bei einem hölzernen, leiterartigen Treppchen anlangte, das in einen engen Gang mündete. Von dort her kamen die Töne.

Da stand ich nun vor einer armseligen, niedrigen Dachbodentür, auf welcher ich mit Staunen die Inschrift: »Zum Paradies« entzifferte. Ich hatte mir freilich unten, in den wunderbaren Hallen des Treppenraumes, ein anderes Ziel vorgestellt – aber gleichviel! Es war ein Ziel nach langer Wanderschaft; und wer so lange kein Ziel gesehen hat, der weiß Ziele erst zu schätzen.

Ich klopfte an und trat ein.

Inmitten eines kleinen Stübchens stand ein alter Mann. Vor sich auf einem Gestelle hatte er einen altmodischen Leierkasten stehen, der mit einem primitiven Gemälde, die Erschaffung von Adam und Eva, geziert war. Er orgelte mit friedlicher Gelassenheit, ohne sich durch meinen Eintritt stören zu lassen. Sein Bart war eisgrau, sein Gesicht voll Runzeln; aber aus seinen Augen strahlte eine wahrhaft himmlische Verklärung, und um seine Lippen lag ein Zug von gütiger Heiterkeit, wie ich ihn noch bei keinem menschlichen Wesen wahrgenommen hatte. Er lauschte mit so frommer Ergriffenheit der Musik, die er hervorbrachte, daß die Würde seiner Persönlichkeit durch die einfältige Beschäftigung, der er sich ergab, nicht beeinträchtigt wurde.

Auf meine Bitte, mich einen Augenblick niedersetzen zu dürfen, nickte er mit seinem weißen Kopfe und spielte immer zu.

Wie einladend war dieses Stübchen! Am Fenster blühten Geranienstöcke, und frischgewaschene Musselingardinen hingen davor. Ein geschweifter Kasten mit blinkenden Messingbeschlägen stand an der blendend weiß getünchten Wand; das Kanapee, auf dem ich saß, war mit geblümtem Kattun überzogen, und auf dem Tisch daneben lag die Bibel aufgeschlagen. In der Ecke erhob sich ein gebuckelter, grüner Kachelofen, von dem eine milde Wärme ausging; über der Eingangstür hing ein Kruzifix mit einem Palmkätzchenzweig dahinter.

Mich plagte die Neugier, zu erfahren, wer denn der Alte sei, der hier in dieser Mansarde des Himmels das Gnadenbrot genoß und sich die Zeit mit einer Drehorgel vertrieb.

Um ein Gespräch einzuleiten, sagte ich: »Eine freundliche Wohnung, aber ein wenig hoch gelegen!«

»Freilich wohl,« versetzte er mit einer sanften, schwachen, alten Männerstimme. »Es kommt auch selten jemand da herauf, liebes Kind.«

»Und wohnen Sie hier in diesem Trakte so ganz allein?«

»Was soll man machen, wenn man alt wird? Dann finden die Kinder, daß man ihnen den Platz wegnimmt. Der Mensch oder ich – für uns beide,

ist in der Welt kein Raum, heißt es jetzt. So habe ich mich hieher zurückgezogen.«

Da ich diese Antwort nicht recht verstand, fragte ich mit himmlischer Höflichkeit – denn warum sollte man im Himmel nicht auch mit einem Leiermann höflich sein? –

»Dürfte ich vielleicht fragen, mit wem ich die Ehre habe?«

Er lächelte geheimnisvoll. »Ich bin«, sagte er nicht ohne Schalkhaftigkeit in seinen wundervollen Augen, »ich bin derjenige, den du dir vorstellst, mein Kind.«

»Woher wissen Sie, wen ich mir unter Ihnen vorstelle?«

Er vergaß im Anhören seiner kindlichen Musik zu antworten. Und in dieser einsamen Verlassenheit schien er mir so uralt, so hinfällig und so hilfsbedürftig; es kam mir vor, als schwanke er vor Müdigkeit auf seinen gebrechlichen, alten Beinen. Er dauerte mich: »Wollen sie sich nicht ein wenig zu mir aufʼs Kanapee setzen?« fragte ich ihn. »Sie müssen ja schon müde sein vom vielen Stehen?«

»Das wäre!« versetzte er mit seinem rätselhaften Lächeln. »Ich darf nicht aufhören zu spielen.«