Kitabı oku: «Trude», sayfa 5

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Valentin setzte sich auf deren Wunsch zu seinen Söhnen hinten auf den Pferdewagen. Sie forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er musste von Leningrad und der Wohnung erzählen, von den großen Schiffen und den Kindern der Straße. Der Vater lauschte den Heldentaten seines Ältesten. Die Eheleute hatten wenig Gelegenheit, sich zu unterhalten. Und es war Trude recht. Sie saß auf dem Kutschbock und hielt die Zügel des Zweispänners in den Händen. Sie hatte keine Eile, den Hof zu erreichen. Ab und an drehte sie sich kurz um, um nach den Kindern zu schauen und Valentin aus dem Augenwinkel zu beobachten. Valentin versuchte dabei immer wieder, ihren Blick zu erhaschen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch Trude wich ihm aus und richtete sich wieder auf den Weg aus. Sie spürte den Blick ihres Mannes in ihrem Rücken.

Trude hatte es ausgeblendet, doch sie anerkannte: Valentin war ein attraktiver Mann mit seinen ebenmäßigen Zügen. Seine Haut war makellos wie eh und je. Er würde mit Leichtigkeit eine neue Frau gewinnen. Dieser Gedanke versetzte Trude einen eifersüchtigen Stich. Würde sie ihn einfach so an eine andere loslassen können?

Abgesehen von ein paar einzelnen grauen Haaren im dichten Braun hatte sich Valentin äußerlich nicht verändert. Ob und was die Wochen ohne seine Familie in seinem Inneren für Spuren hinterlassen hatten, war mit bloßem Auge nicht erkennbar. Trotz Furcht vor dem nächsten und übernächsten Schritt, dem Gespräch unter vier Augen und der unweigerlichen intimen Annäherung wurde Trude neugierig, wie es ihm ergangen war.

Es stimmte Trude milde, den Vater mit den Kindern herumalbern zu sehen, im gestandenen Mann den kleinen Jungen zu finden, der sich im Spiel vergaß. Wie sie auf dem Kutschbock ihre drei Männer in ihrem Rücken beim Schwatzen belauschte, musste sie unverhofft lächeln. Mit einem Mal wurde es ihr leichter ums Herz. Irgendwie würden sie es hinkriegen. Sie anerkannte seine Größe, wie er aufrichtig an den Räubergeschichten der Jungen Anteil nahm und ihnen ungeniert seinen Vaterstolz und seine Liebe bezeugte. Es ebnete einen gangbaren Weg zwischen ihm und ihr, wo sie vorher nur Dickicht und Abgründe gesehen hatte.

Nach dem Abendessen rückte der Moment unausweichlich näher. Olga brachte die Buben ins Bett. Valentin fasste seine Frau am Arm und führte sie ins Freie. Damit wollte er verhindern, dass sie ihm erneut auswich. Doch sie wusste ja selber, dass ein weiteres Hinauszögern keinen Sinn ergab. Nach dem heißen Sommertag strahlte die Erde immer noch Wärme ab und ein angenehmer Abendwind zog auf.

Sie zogen einfach aufs Geratewohl los. Schweigend. Valentin hatte schon immer ein sicheres Gespür für die Stimmungen seiner Mitmenschen, für den richtigen Zeitpunkt. Es war ihm nicht entgangen, dass Trude ihn den ganzen Tag auf Abstand gehalten hatte. Er signalisierte ihr mit seinem Schweigen, dass er seiner Frau den ersten Schritt überließ.

Trude hatte von anderen Frauen gehört, wie deren Ehemänner die eheliche Pflicht einforderten. Es war gang und gäbe, dass die Angetraute als Eigentum eines Gatten betrachtet wurde. Somit durfte ein Mann zu jeder Tages- und Nachtzeit über sie und ihren Körper verfügen. Ungeachtet, ob die Frau selber Lust empfand, in guter Verfassung, schwanger oder gar krank war. Trude wusste, Valentin hätte sie auf der Stelle irgendwo im Gehölz oder auf dem freien Feld vergewaltigen können, ohne dass er zu Rechenschaft gezogen worden wäre. Dazu gab ihm nicht nur die Tradition des Patriarchats, sondern auch die Kirche den Segen.

Aber er tat es nicht.

Sie schritten, jeder in sich versunken, die Gedanken ordnend, nebeneinander her. Sie berührten sich nicht einmal an den Händen. Von Weitem betrachtet bummelten zwei Menschen wort- und ziellos nebeneinander durch die Gegend.

Jeder spürte das Ringen des andern. Jeder versuchte zu ergründen, was sie voneinander trennte, wie die Lücke zu schließen war. Weder Valentin noch Trude fanden den richtigen Einstieg ins Gespräch. Jedes falsche Wort wäre ein Wort zu viel gewesen. Und darum war Schweigen die bessere Wahl. Augenscheinlich passierte nichts, rein gar nichts. Und doch genau darin geschah das Wesentliche. Im Abwarten, im Aushalten, im Nichts-erzwingen-Wollen, indem sie sich mit gut gemeinten, aber falschen Gesten und Worten verschonten, in dieser Aussparung wurde der Keim spürbar. Da war es wieder! Das vertraute Behagen. Wie wohl es Trude fühlen konnte in seiner Gegenwart, wenn der Druck wegfiel! Valentins unaufdringliche Anwesenheit ließ sie gänzlich entspannen.

Und plötzlich begriff Trude in aller Klarheit: Sie hatten für ihre Ehe viel zu wenig Sorge getragen. Sie war ein zarter, hoffnungsvoller Trieb, der in sich das Versprechen eines prächtigen Baumes trug. In den ersten Monaten hatten die Frischverliebten die Pflanze genährt und versorgt. Doch eines Tages hatten sie ihr keine Beachtung mehr geschenkt. Allem anderen hatten sie Aufmerksamkeit gegeben: den Kindern, Valentins Arbeit, der Bewältigung von Kälte und Alltag. Doch ihnen als Paar, dem Stamm der Familie, hatten sie nicht die gebührende Wichtigkeit eingeräumt. Und alles war aus dem Lot gekommen. Mit dieser Einsicht übermannte Trude der dringende Wunsch, ihren Mann ganz zurückzugewinnen, nicht nur den physisch anwesenden Mann neben sich. Sie hielt abrupt im Gehen inne und wandte sich ihm zu. Erst zögerte sie einen Augenblick, suchte sein Einverständnis in den Augen. Dann schlossen sie sich in die Arme. Der Bann war gebrochen. Eine Welle von Erleichterung, Liebe und Dankbarkeit spülte über sie hinweg. Wie zwei Gestrandete nach einem Schiffbruch hielten sie sich aneinander fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen.

Dem Juliabend folgten sorglose Sommertage in Tartu. Es wurde der erste Familienurlaub. Sie machten Ausflüge, badeten im See und Valentin zeigte Juri das Angeln. Bei der Getreideernte packten alle mit an. Und des Abends wurde an Olgas langer Tafel verspeist, was Hof und Garten abwarfen. Valentin und Trude hatten die Sprache wieder gefunden. In langen Gesprächen erörterten sie, wie es dazu gekommen war, wie die Umstände in Leningrad ihre Kräfte geraubt hatten und wie sie es nicht mehr so weit kommen lassen wollten. Das Paar legte seine Wünsche und Lebenspläne auf den Tisch.

Trudes Körper strotzte dank regelmäßiger, körperlicher Arbeit in freier Natur und gesunder Ernährung vor Vitalität. Es war wieder ein Leichtes, sich ihrem Liebsten zu öffnen und hinzugeben. Sie freute sich an der Wiederentdeckung, dass Brüste und Schoß noch anderes vermochten, als Kinder zu gebären und zu stillen. Nicht nur die schwülen Sommertemperaturen brachten das Paar zum Schwitzen.

Nach drei Wochen kehrte Valentin in die Stadt zurück. Trude folgte ihm mit den Buben im September voller Zuversicht. Die Familie bezog eine geräumigere Wohnung und sie stellten eine Hilfe ein, die Trude im Haushalt und der Kinderbetreuung zur Hand gehen sollte. Dies ermöglichte ihr, ohne Kinder aus dem Haus zu gehen, Arbeit zu suchen und Freundschaften zu knüpfen, was ihrem Gemüt zugutekommen sollte.

Im Oktober 1933 trat die zwanzigjährige Marija bei der Familie in den Dienst. Sie bezog das kleine Gästezimmer. Marija war eine Perle! Sergeij himmelte die junge Frau an und sie wurde den Kindern eine geliebte große Spielkameradin. Trude gewann in Marija eine unbekümmerte Gesprächspartnerin. Die alltäglichen Verrichtungen erledigten sich in ihrer angenehmen Gesellschaft wie fast von selbst. Was Trude auf Olgas Hof schätzte, stets einen Gesprächspartner zu haben, hatte sie nun auch in der Stadtwohnung. Sie erkannte, dass sie den Austausch mit anderen Erwachsenen brauchte. Trude war nicht dazu geschaffen, alleine zu sein.

Den Eltern kam Marija am meisten zugute. Die Kinder in ihrer guten Obhut wissend, konnten sie unbekümmert ausgehen. Sie gingen ins Theater oder zu Kinovorführungen, die als neue technische Errungenschaft besonders aufregend und gefeiert waren. Endlich konnte Trude Valentin auf seine Geschäftsessen begleiten. Daraus erfolgte auch für sie immer mehr Zutritt zu interessanten Kreisen. Es gefiel Trude, sich schön zu kleiden, sich zu pflegen. Sie entdeckte wieder ihre kindliche Freude am Tanzen. Wenn sich das Paar ins Schlafzimmer zurückzog, sich vergaß und etwas lauter herumalberte, als es sich schickte, ließ sich Marija am nächsten Tag nichts anmerken.

Mit Doktor Medwedew und seiner Frau entwickelte sich allmählich eine herzliche Freundschaft. Medwedew besaß einen köstlichen Humor. Er schaffte es, die Menschen mit seinen Episoden aus der Arztpraxis und von seinen Reisen abendfüllend zu unterhalten. Rita Katarina Medwedew wirkte auf den ersten Eindruck schüchtern, doch half ihr ein Gläschen Champagner stets auf die Sprünge. Sie stand ihrem Mann in Sachen Wissen, Kultur und Witz in nichts nach. Es war ein Vergnügen, mit den beiden auszugehen.

Das Familienleben fügte sich in die Rhythmen der Jahreszeiten ein. Die Winter verbrachte die Familie in der Stadt. Von Juni bis September lebte sie auf dem Land. Die drei Wochen, die Valentin jeweils mit Trude und den Buben auf Olgas Gut verbrachte, waren ein Glückskonzentrat. Jedes Jahr erneuerten Trude und Valentin ihr Eheversprechen.

Rita Medwedews Beziehungen und ihren Sprachkenntnissen verdankte sie, dass sie im Januar 1934 an erste Übersetzungsaufträge kam. Zu Beginn übersetzte sie einfache Korrespondenz für kleinere Exportunternehmen vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt. Die Auftraggeber waren zufrieden mit ihrer Arbeit und sie wurde weiterempfohlen. Bald hatte Trude einen festen Kundenstamm. In der Folge wurde sie zu Essen und Vertragsabschlüssen mit deutschen Geschäftspartnern zugezogen. Und es ergaben sich gelegentliche Aufträge vom Militär.

Trude liebte ihre Arbeit. Es war die Ausgewogenheit zwischen stiller Schreibarbeit und regem Menschenkontakt, die sie so spannend machte. In der Auseinandersetzung mit den Sprachen lernte Trude, die Zusammenhänge zwischen Kultur, Geschichte und Sprachentwicklung zu verstehen. Sie machte sich ein Spiel daraus, hinter der Sprache den Geist eines Landes zu erforschen. Die deutsche Grammatik war in ihren Augen ein Gerüst aus Struktur und Disziplin. In ihr findet der Deutsche Klarheit. Trude erinnerte sich an Vaters breites und gemächliches Berner Schweizerdeutsch. Wenn er sprach, klang seine Stimme weich und wohlklingend. In Gedanken reiste Trude in die ferne Schweiz und sie stellte sich die Heimat ihrer Eltern mit lieblichen, hügeligen Landschaften und die Menschen als gemütliche Zeitgenossen vor. Bei Estnisch schwang immer etwas Humorvolles mit, als hätten die Trolle unter der Erde die Sprache erfunden. Und im Russischen schwangen die Schwermut, Poesie und die unergründliche Weite des Landes mit. Es bereitete Trude Freude, mit den Bausteinen der Sprachen zu spielen.

Ein ebensolches Vergnügen war es für Trude, sich in Männerrunden zu bewegen. Sie wurde in ihrer geistigen und sprachlichen Kompetenz geachtet und war nicht zur Dekoration reduziert, wie andere Damen der Gesellschaft. Der Status als verheiratete Frau und Mutter verlieh ihr bei den Herren eine gewisse Unantastbarkeit. Es kam nur einmal vor, dass ein hanseatischer Geschäftsmann nach mehreren Gläsern seinen Anstand vergaß und sie mit aufs Hotelzimmer bat.

Die Kinder wohl versorgt zu wissen, war es ein Einfaches, das Haus zu verlassen und nach getaner Arbeit wieder heimzukehren. Trude war geistig ausgeglichen und erfüllt. Hausarbeit und Kindererziehung gingen ihr nun leicht von der Hand, weil sie zufrieden und vor allem ausgeschlafen war. Es war wirklich ein Privileg, Marija in der Familie zu haben. Für Trude, sie als helfende Hand und mitdenkende Person im Haus zu haben. Für Marija war es ein Glück, weil sie mit dem Einkommen ihre Eltern und die sieben jüngeren Geschwister unterstützen konnte.

Die folgenden Jahre flossen dahin wie ein ruhiger Strom. Auch Philips Geburt im April 1935 brachte niemanden mehr aus der Ruhe. Der Säugling reihte sich reibungslos in die Kinderschar ein. Trude erholte sich schnell von Geburt und Wochenbett. Ihren Beruf übte sie weiter aus. Die Aufträge ließen sich gut mit dem Stillen koordinieren. Sergej hatte unter Marijas sanftem Einfluss seine Borstigkeit abgelegt und Vertrauen in seine Mitmenschen gewonnen. Mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule bekamen die Großen einen neuen Rhythmus, dem sie sich mühelos anpassten. Und mit den neuen Spielkameraden wurde das Haus der Familie noch lebendiger.

Trudes Leben war rund. Bis 1938.

1938 Vorzeichen

Es gab kein einschneidendes Ereignis, das man als Wendepunkt hätte benennen können. Die Veränderung hatte sich langsam eingeschlichen. So wie der kurze Augenblick der Virusübertragung nicht erkannt wird, die Inkubationszeit einer Grippe unbemerkt erfolgt und man sich plötzlich mit hohem Fieber im Bett wiederfindet.

Im Juni 1938 wurde Trude stutzig. Sie fand sich einmal mehr in Medwedews Wartezimmer mit einem Jungen auf dem Schoß. Dieses Mal hatte Juri bei einer Rauferei eine Platzwunde am Kopf abgekriegt. Es war bereits das fünfte Mal in diesem Jahr, dass einer der Buben ärztliche Hilfe brauchte. Die Kinder benahmen sich seit einiger Zeit auffällig daneben. Häufigkeit und Rohheit der Prügeleien überstiegen bei Weitem das Maß von alltäglichem Geplänkel. Schnittwunden, Brüche, Quetschungen, Bisse wurden bei den acht-, sieben- und dreijährigen Knaben zur bedenklichen Tagesordnung. Sie kehrten mit Blessuren aus Schule und Kindergarten zurück oder fügten sie sich gegenseitig zu. Wie nie zuvor musste die Mutter ihre Kinder an die Kandare nehmen. Regelmäßig schickten die Eltern einen der Knaben ohne Abendessen ins Bett oder maßregelten sie mit einer anderen Strafe.

Was hatte sich verändert? War es das hitzige Temperament der Buben, die zunehmenden körperlichen Kräfte, die sie an den Geschwistern auslassen mussten? Reichten die Hinterhofspiele nicht mehr aus, sich leer zu toben? Fußballspiele und Wettrennen schienen den Jungs nicht mehr genug Ventil für die Testosteronschübe. Irgendetwas musste die kleinen Kerle streitsüchtiger machen.

Auch bei Trudes Arbeit begann sich eine Veränderung abzuzeichnen. Lange Zeit waren ihre Übersetzungsdienste sehr gefragt. Sie musste sich nie um Arbeit bemühen. Und plötzlich fand sie sich vor einem leeren Schreibtisch wieder.

Es lag etwas in der Luft.

Trude musste dem nachgehen. Außer ihrem Gang zu Dowskis Bäckerei hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt alle Besorgungen Marija überlassen. Das Mädchen hatte die Kinder zum Unterricht begleitet und war die Ansprechperson bei den Lehrern. Trude beschloss, sie nun zu begleiten. In keiner Weise, um sie zu kontrollieren, sie genoss zurecht das ganze Vertrauen der Eltern. Nein, Trude drängte eine große Unruhe unter das Volk. Sie musste herausfinden, was los war. Sie begann die Menschen auf der Straße zu beobachten, schenkte den Gesprächen in der Straßenbahn mehr Beachtung und fing an, bis dahin politisch gänzlich desinteressiert, den Zeitungsaushang zu lesen.

Lange hatten die Entwicklungen in Europa Valentins und Trudes Familie nicht betroffen. Es ging ihnen existenziell gut. Sie fühlten sich vogelfrei, hatten keine Lust, sich mit Parteien und staatspolitischen Geschäften auseinanderzusetzen. Valentin war von den Ambitionen seines Vaters, ihn in die Politik zu drängen, derart angewidert, dass er sich all die Jahre gänzlich von ihr abgewandt hatte. Trude lauschte, las, beobachtete und zählte eins und eins zusammen: Valentins deutsche Herkunft könnte ihrem beschaulichen Leben ein Fallstrick werden. Bei Valentins Arbeit war es bisher nie relevant gewesen, welche Nationalität er hatte. Den Menschen, mit denen Trude zu tun hatte, war es egal, ob ihr Mann Deutscher war, oder sie wussten es nicht. Und Trude wurde in erster Linie als Estin wahrgenommen.

In diesem Jahr kristallisierte sich heraus, dass Valentins Herkunft verhängnisvoller war, als ihnen bewusst war. Die Buben spürten es mit Ausgrenzung und Prügeleien in der Schule. Trude blieben als Übersetzerin die Aufträge aus. Am 7. Juli 1938 traf es Valentin. An diesem unheilvollen Tag kehrte er am frühen Nachmittag nach Hause zurück. Er wurde nach elf Jahren mit der fadenscheinigen Begründung, dass seine Arbeitsstelle ersatzlos gestrichen wurde, entlassen.

Als gar die unerschütterlichen Bäckersleute Dowski den deutschen Schriftzug von der Markise verschwinden ließen, wusste Trude, dass es ernst wurde. Nach Jahren großzügigen Gleichmuts wurde Deutschtum für den Familienbetrieb plötzlich existenzbedrohend.

Der Stimmungsumschwung und die Kündigung bescherten Valentin und Trude schlaflose Nächte. Was war geschehen? Wie sollte es weitergehen? Valentin kontaktierte alte Freunde in Berlin. Er schöpfte alle Möglichkeiten aus, um eine neue Anstellung zu finden. Die Bekannten telegrafierten zurück und berichteten von den Entwicklungen in Deutschland. Es wurde ihm zugetragen, dass Valentins Eltern in Hitlers Entourage verkehrten. Valentin zog es nicht eine Sekunde in Erwägung, seinen Vater um Hilfe zu bitten.

Später, als Trude auf diese Leningrader Jahre zurückblickte, wären die Vorzeichen schon immer zu erkennen gewesen, hätte sie nur einen Blick dafür gehabt. Doch sie hatte kaum Berührungspunkte mit dem einfachen Volk. Sie kümmerte sich um ihre Kinder, ging in ihrer Arbeit auf, bewegte sich in Künstlerkreisen oder in der besseren Gesellschaft. So war Trude lange blind dafür, dass die einfachen Menschen auf der Straße hungerten. In den Schaufenstern war die Ware weniger geworden und die Arbeitslosigkeit angestiegen. Waren die Deutschen bis dahin geduldet, begannen die Leningrader in ihrer Armut den Fremden am Tisch zu hassen.

Trude begriff, dass man die politischen Zusammenhänge verstehen muss, um den Alltag in einem ethnischen Minenfeld zu meistern, und studierte die russisch-deutsche Geschichte.

Was die europäischen Metropolen ausgangs des 19. Jahrhunderts im Eifer der Industrialisierung verband, hat der Weltkrieg zunichtegemacht. Vorher wetteiferten die Staaten um die neusten Errungenschaften und spornten sich gegenseitig zu neuen geistigen Höhenflügen und Erfindungen an. Europa stand in Hochblüte. Der Eiffelturm wurde zum Symbol der modernen Architektur. Die ersten waghalsigen Flüge von Lilienthal und den Gebrüder Wright demonstrierten die kühnen Fortschritte in der Luftfahrt. Freud revolutionierte die Psychiatrie. Doch der Krieg 1914 setzte der enthusiastischen Entwicklung abrupt ein Ende. Und das aufstrebende Europa wurde zutiefst in seiner Seele gespalten.

Trude war neun, als die russischen Bauern 1917 demonstrierten und den Zaren stürzten. Sie erinnerte sich an die Aufregung und die Sensation, die auf den Hof drangen. Die Russische Revolution war wochenlang Gesprächsstoff der Erwachsenen. Doch sie verstand damals die Zusammenhänge nicht. Vor und während des Krieges hatte Russland im Inneren und im Außen an vielen Fronten zu kämpfen und war als Nation geschwächt. Russland und Deutschland waren die Verlierer des Krieges. Sie mussten zusehen, wie die Gewinnerstaaten die neuen Spielregeln bestimmten. In der Demütigung suchten die Regierungen beider Staaten die Verbündung, die durch den Berliner Vertrag 1926 besiegelt wurde. Daraus erfolgte eine langjährige, unheilvolle Allianz. Unverhohlen missbilligte das Fußvolk die Bemühungen der politischen Elite.

Mit der Weltwirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit in Europa bekam Valentin wie alle Deutschen in Leningrad blanke Feindseligkeit zu spüren. Im Kampf um den Arbeitsplatz und das tägliche Brot ist sich jeder selber am nächsten. Feindbilder helfen die Existenzangst zu bewältigen. Alte Sündenböcke müssen herhalten, wenn man den Grund für die eigene Not nicht versteht. Als Estin war Trude eine geduldete Migrantin. Als Frau eines Deutschen jedoch nicht. Sehr schnell lernte sie, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Obwohl sie immer ein und dieselbe Person war, wurde sie, je nachdem, welche Sprache sie benutzte, von den Mitmenschen anders behandelt. Von nun an war es überlebensnotwendig, alles, was annähernd nach Deutsch klang, aus dem Wortschatz zu streichen. Wenn sie über ihre Herkunft befragt wurde, vermied sie tunlichst, die verschwägerte deutsche Verwandtschaft zu erwähnen. Je nach Bildungsstand eines Gegenübers, die Schweiz wurde öfters salopp zum Großreich Deutschland gezählt, war sie sogar mit Schweizer Abstammung unerwünscht.

Trude begann, sich wie nie zuvor mit dem Begriff Heimat auseinanderzusetzen. Wo waren ihre eigentlichen Wurzeln? War sie nun Schweizerin? Estin? Deutsche? Oder mittlerweile Russin? Wo war sie zugehörig? Prägten Wohnort oder Land das eigene Wohlbefinden? Oder kam es ausschließlich auf die Menschen an, mit denen sie das Leben teilte?

Trude kam zur Einsicht, dass sie überall würde wohnen können, wenn sie Valentin und die Kinder bei sich hätte. Diese bedeutungsvolle Erkenntnis trug zur Lösung ihrer Überlebensfrage bei. Sie waren nicht an Leningrad gebunden. Sie könnten mit den Kindern überall auf der Welt leben, sofern sie in einem Land willkommen waren.

Den Sommer verbrachte die Familie bei Olga. Und zum ersten Mal war Valentin die ganze Zeit mit Trude und den Buben. Bis September hatten die Eltern Schonfrist. Es gelang Valentin und Trude, zeitweise die Not der Situation zu vergessen, weil das Glück, als vollzählige Familie den Sommer zusammen zu verbringen, überwog. Sie brachten eine reiche Ernte ein. Das Land warf dieses Jahr einen besonders hohen Ertrag ab. Wie nie zuvor wurde Trude der Wert der Landwirtschaft bewusst. Während in der Stadt Entbehrung in den Gesichtern der Menschen abzulesen war, fuhren sie auf dem Land volle Getreidesäcke ein. Die Keller füllten sich mit Kartoffeln, Gemüse und Obst für den langen Winter.

Es mangelte der Familie auch nicht an Geld. Sie waren ziemlich vermögend. In den Jahren hatten sie dank Valentins gutem Einkommen einiges ansparen können. Doch wenn es nichts mehr zu kaufen gibt, macht auch Geld nicht satt. Eine akademische Bildung mag Ansehen, geistige Erfüllung und ein pralles Portemonnaie einbringen. Doch in den Hörsälen wird kein Weizen gepflanzt und auf Pflastersteinen gedeihen keine Kartoffeln. Der Mensch wird immer fruchtbaren Boden brauchen, ihn mit Fleiß und Ausdauer bearbeiten müssen, wenn er satt sein will. Beherzter denn je packte Trude in diesen Monaten auf dem Feld mit an. Das Kriegsgerassel in Europa mahnte sie, den Augenblick mit aller Intensität zu leben.

Valentin lotete währenddessen in Tallin, Riga, Helsinki und anderen Hafenstädten Arbeitsmöglichkeiten aus. Er kontaktierte in Finnland und Russland Werften. Ohne Erfolg. Und je näher der Herbst kam, die Kinder wieder zurück zur Schule sollten, und Klarheit über ihre Zukunft gefordert war, desto mehr freundeten sie sich mit dem Gedanken an, ein Gut in Estland zu kaufen. Die Idee, sich mit eigenem Land und Vieh zu versorgen, schien nicht mehr abwegig, wenn auch in Anbetracht von Valentins Beruf und Geschick nicht die Lieblingsvariante. Valentin bereiste von da an Estland, um ein Zuhause für die Familie zu finden.

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Trude kehrte Ende August nach Leningrad zurück, während die Buben in Olgas Obhut blieben. Es gab einiges zu regeln. Die Wohnung, die Schule der Kinder, ihr verwaistes Büro, Marijas Zukunft. Trude wollte sie mit nach Estland nehmen, sobald sie den Wohnsitz geregelt hatten. Marija verbrachte während der Abwesenheit ihrer Arbeitgeber den Urlaub bei ihrer Familie in der Datscha am Stadtrand und schaute gelegentlich nach der Wohnung.

Trude freute sich darauf, sich eine Woche lang ohne Kinder an der Hand in Leningrad zu bewegen. Ausgehen! Ausschlafen! Sie nahm sich vor, nur dann zu essen, wenn sie hungrig war, nicht wenn die Uhr, die den Familientakt bestimmte, es vorgab. Das gab es noch nie, dass sie ganz alleine in der Stadtwohnung war. Wenn nicht Kinderlärm die Räume füllte, dann Marijas, Valentins oder der der Gäste.

Beim ersten Rundgang durch die Zimmer vergewisserte sie sich, ob alles am angestammten Platz war. Nicht aus Misstrauen zu Marija, mehr um die Gegenstände, die ihren Alltag zierten, wie alte Freunde zu begrüßen. Trude riss die Fenster auf, um die abgestandene Luft entweichen zu lassen und die spätsommerliche Sonne hereinzulassen. Sie zog ihre Schuhe aus, schleuderte sie lustvoll, weil kein Zwang zur Vorbildlichkeit da war, durch den Raum, fläzte sich auf das grüne Sofa und streckte die Beine über die Seitenlehne. Auf dem Gehsteig hörte sie hektische Schritte von Stöckelschuhen vorbeitrippeln. Von weiter weg schnappte sie barsche Gesprächsfetzen von einem Geschäftsmann auf, der seinem Laufburschen die Leviten las. Ein Automobilist trat quietschend auf die Bremse und eine Fahrradklingel ertönte. Sonst war es still. Aus der Wohnung drang kein Laut. Obschon Trude diesen Augenblick der Ruhe genoss, verkrampfte sich ihr Herz. Sie sehnte sich bereits innerhalb weniger Stunden nach ihren vier Männern! Sie wusste ganz genau, wohin sie gehörte.

Am anderen Tag suchte sie die Praxis des Bären auf. Sie wollte sich von ihm bestätigen lassen, dass die dumpfen Bauchschmerzen und die gelegentliche Übelkeit, die sie schon eine Weile plagten, nur die letzten Zuckungen einer lästigen sommerlichen Darmgrippe waren. Auch wollte sie sich mit ihm und seiner Frau verabreden. Die Sprechstundenhilfe kannte Trude wegen der häufigen Arztbesuche mit den Kindern bestens und schleuste sie, einen Notfall vortäuschend, an den wartenden Patienten vorbei ins Sprechzimmer. Die Wiedersehensfreude war groß. Die Diagnose weniger. Natürlich wusste Trude nach drei Kindern die frühen Anzeichen zu deuten. Erfolgreich hatte sie die Möglichkeit einer Schwangerschaft weggedrängt und hoffte, von Medwedew einen anderen Befund zu bekommen. Sollte er doch Menopause, Anämie und weiß der Geier was diagnostizieren. Doch der Arzt tat ihr den Gefallen nicht, sondern verkündete mit einem breiten Grinsen, dass ihr viertes Kind voraussichtlich im Januar 1939 zur Welt kommen würde. Als guter Freund durfte er sich die Bemerkung erlauben: „Ihr müsst halt, wenn ihr schon die ganze Zeit über einander herfallt, aufpassen!“

Trude konnte es ihm nicht übel nehmen. Er hatte ja recht. Sie war körperlich und seelisch in bester Verfassung, sie wurde im Oktober ja erst dreißig. Und dennoch war dies so ziemlich der schlechtmöglichste Zeitpunkt für ein weiteres Kind. Die Bestätigung des Arztes überwältigte Trude und sie brach in Tränen aus. Der Bär drückte sie als Arzt und Freund wortlos an seinen fülligen Körper und ließ sie, wissend, dass seine Patienten in der Sprechstunde warteten, leer weinen. Seiner Meinung nach war Trude ein begründeter Notfall. Die werdende Mutter schilderte ihm schließlich in wenigen Worten den Stand der Dinge und die beiden verabredeten sich zum Nachtessen.

Rita Katarina war bereits in alles eingeweiht, als Trude am Abend bei Familie Medwedew eintraf. Sie schloss die Freundin mit einer langen wortlosen Umarmung in die Arme. Darin drückte sie Wiedersehensfreude, Anteilnahme, Solidarität und auch den berechtigten Anteil Freude am neuen Menschlein aus. Bei Tisch schwatzten sie über Belangloses, über Dinge, die geschahen, gesehen wurden, einen nicht wirklich tangierten, aber einen unterhielten. Trude fühlte sich federleicht in Rita Katarinas Gesellschaft. Der Bär, der inzwischen zu ihnen gestoßen war, hörte ihrem Gezwitscher belustigt zu, bis ihm der Zeitpunkt gekommen schien, den Nichtigkeiten Einhalt zu gebieten und Wichtigerem Gehör zu verschaffen. Er räusperte sich, hielt einen kurzen Moment inne, was die Stimmung im Raum bedeutungsvoll anhob. Dann sprach er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme: „Ich habe nach deinem Besuch in der Praxis mit meinem Vetter telegrafiert. Mikhail Petrowitsch ist Ende der Zwanzigerjahre nach Darwin ausgewandert und hat sich eine kleine Werft aufgebaut. Er hat mir postwendend geantwortet, er könnte Hilfe gebrauchen. Valentin kann im Herbst bei ihm als Schiffsbauer anfangen.“

Wie ein Felssturz den Verlauf eines Flusses umlenkt, brachte das Angebot aus Australien eine neue, unerwartete Wende für die Familie. Als Trude zum Birkenhof zurückgekehrt war, von der Schwangerschaft und Petrowitschs Option berichtete, riss Valentin wie ein Sportler beim Zieleinlauf die Arme hoch. Er stieß sogar einen Jubelschrei aus. Seine spontane Reaktion war eindeutig.

Valentin legte sich ins Zeug, Ausreisepapiere und Schiffskarten zu beschaffen und den Hausrat aufzulösen. In dieser Aufbruchphase lernte Trude eine neue Seite ihres Mannes kennen. Er, der nüchterne Pragmatiker, wenn es um Existenzielles, der Romantiker, wenn es um künstlerisch-ästhetische Belange ging, verwandelte sich in einen ungestümen Abenteurer.

Während Trude der Auswanderung nach Australien der Kinderschar wegen mit gemischten Gefühlen entgegenblickte, sah Valentin darin den großen Gewinn seines Lebens. Für ihn bedeutete sie die einmalige Gelegenheit, in die neue Welt zu reisen. Diese Chance würde nie mehr kommen. Also war seiner Ansicht nach keine Zeit und Energie mit zögerlichem Abwägen zu verschwenden und es galt, nur noch die Koffer zu packen.

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