Kitabı oku: «Trude», sayfa 6

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DARWIN

1938 – 1974

1938 Rote Erde

Das Schiff, auf dem die Familie übersiedelte, hieß Minerva. Für die Kinder war es ein spektakuläres Abenteuer. Die Reise war kurzweilig und verlief zum Glück ohne Zwischenfälle. Ende November 1938 fuhren Trude, Valentin und ihre Kinder in Darwins Hafen ein.

Valentin ging als Erster von Bord und schritt zügig über den hölzernen Landesteg. Als er den ersten Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte, bückte er sich, griff mit beiden Händen in die rote Erde und ließ sie bedeutungsvoll durch die Finger rinnen. Dann richtete er sich auf, drückte die Schulter durch und rückte seinen Strohhut zurecht. Mit beiden Händen bürstete sich Valentin unsichtbaren Staub von den Schultern. Als würde er Europa und damit alle alten Konventionen abwischen. Als wäre er ab jetzt ein freier Mann. Dann kehrte er noch einmal um, schickte sich an, seine hochschwangere Frau, die in der schwülen Hitze schwer atmete, über den Pier zu geleiten. Ihnen folgten drei wirbelnde Buben, die sich förmlich in das neue Abenteuer stürzten.

Valentin trat bereits eine Woche nach der Immigration seine Stelle bei Mikhail Petrowitsch an.

Petrowitsch war ein ungehobelter Kerl mit beeindruckenden Oberarmen. Als gelernter Schiffsbauer hatte er in den späten Zwanzigern als Seemann nach Australien angeheuert. Er trat laut und derb auf. Dadurch verschaffte er sich nicht Anerkennung, aber Respekt. Ihm entsprach Darwin, wie es anzufinden war – schwül, roh und unzivilisiert. Die Stadt war spärlich besiedelt. Es war das Revier für einen wilden Russen.

Petrowitsch war, als Trude und Valentin ihn kennenlernten, eine stadtbekannte Persönlichkeit. Er hatte sich vom Matrosen und Schiffsbauer zum Werftbesitzer hochgearbeitet. Zupacken konnte er und zuverlässig war er. Er konnte am Vorabend noch so betrunken in irgendeinem Bett landen, anderntags stand er pünktlich in seinem Betrieb. Petrowitsch war als Chef respektiert, jedoch mehr gefürchtet als beliebt. Als Vorgesetzter hatte er ein lautes Mundwerk, hatte ständig ein derbes Wort auf den Lippen. Selbst nach vielen Jahren war sein russischer Akzent immer noch unüberhörbar.

Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, dass einige Mischlingskinder der Stadt seinem Schoß entsprungen seien. Laut durfte dies aber nie ausgesprochen werden, denn es war ja bei Gefängnisstrafe verboten, sich mit Aborigines einzulassen. An die Apartheid konnte sich Trude nie gewöhnen. Die Doppelmoral der Weißen war ihr zuwider. Trude musste zugeben, dass ihr die Ureinwohner zu Beginn Angst einflößten. Fremd und finster erschienen sie ihr mit ihrer Sprache und ihrem Auftreten. Trotzdem fand sie es unerträglich, wie die meisten Einwanderer über die Aborigines sprachen und sie behandelten. Als wären sie Vieh. Respektlos spotteten sie über die minderwertige Rasse, über Aussehen und Geruch der Schwarzen. Sie missbrauchten sie als billige Arbeitskräfte in Haus und Hof und hielten sie wie Sklaven. Die weißen Männer bedienten sich der schutzlosen Frauen. Trude musste die Bilder, die vor ihrem inneren Auge entstanden, vehement wegwischen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was die geilen Säcke mit den eingeborenen Mädchen anstellten. Jedermann wusste um das Treiben, doch kein Gesetz schützte die indigenen Menschen. Setzten sich Aboriginesfrauen oder ihre Angehörigen zur Wehr, wurden sie wie wilde Tiere abgeknallt.

Mikhail Petrowitsch hatte Arbeit und er bezahlte gut und pünktlich. Petrowitsch kam die Anfrage von Medwedew wie gerufen, da ihm selbst das Know-how fehlte, anspruchsvolle Schiffe zu konstruieren. Er hatte ehrgeizige Pläne mit Valentin. Mit dessen Erfahrung und Talent wollte Petrowitsch aus seiner Fischkutterschreinerei eine lukrative Werft für Hochseeschiffe machen. Valentin krempelte die Arme hoch und machte sich an die Arbeit. Er liebte seinen Beruf und war sehr motiviert, Petrowitschs hochfliegende Ideen zu realisieren. Valentin war sich seines Wertes bewusst und sagte sich, dass, wenn er gute Arbeit verrichtete, Petrowitsch ihm bald aus der Hand fressen würde.

Trude kümmerte sich derweil um das Haus, das Petrowitsch in der Nähe des Hafens für die Familie gemietet hatte. Ihr neues Zuhause war ein einfacher Holzbau, der auf Pfosten einen Meter über dem Boden errichtet war. Eine überdachte Veranda entlang der Frontseite wurde zu einem beliebten Schattenplatz. Wie alle anderen Häuser hatte es ein Wellblechdach. Die breite Holztreppe erkoren die Buben zu ihrem Lieblingsort. Sie war Ausguck, Treffpunkt und Rampe für Sprung- und Spuckwettbewerbe in einem. Sie hatten drei Zimmer und eine Küche. Möbel aus der alten Wohnung, auf die unabkömmlichen Lieblingsstücke reduziert, waren mit dem Schiff verfrachtet worden. Das kunstvoll gedrechselte Handwerk passte überhaupt nicht zu den rohen Holzdielen, doch füllten die Möbel die Räume mit Vertrautheit. Trude hatte vorher nie auf Spitzendecken und Vorhänge Wert gelegt, doch hier klammerte sie sich an alles aus der alten Heimat. Fieberhaft versuchte sie, sich einen neuen Alltag einzurichten.

Das beißende Heimweh behielt sie für sich. Denn Valentin war begeistert von seinem neuen Leben. Wenn er zu den Mahlzeiten heimkam, sprang er mit Schwung die Treppen empor, riss die Tür auf, konnte es kaum erwarten, seine Lebensfreude mit seiner Familie zu teilen. Doch die gedrückte Stimmung, die ihm dort von seiner Frau entgegenschlug, bremste ihn aus. Bei Tisch streifte Trude sein vorwurfsvoller Blick. Er konnte es nicht begreifen, wie sie sich innerlich gegen die einzigartige Chance aufbäumte. Ein mächtiger Graben tat sich zwischen ihnen auf, was Trudes Kummer und Einsamkeit noch verstärkte

Valentin legte ihr nahe, eine Eingeborene als Haushaltshilfe einzustellen, wie alle anderen Siedler. Doch sie wollte nicht. Trude fürchtete sich zu sehr vor den Aborigines, als dass sie eine in ihre vier Wände lassen wollte. Sie würde es schon irgendwie schaffen. Trudes Erschöpfung in Leningrad steckte Valentin noch tief in den Knochen. Er befürchtete, dass seine Frau mit Ankunft des vierten Kindes wieder zusammenbrechen würde. Er drängte Trude: „Zier dich doch nicht so. Alle Zuwanderer stellen Eingeborene ein!“ Darüber stritten sie sich jeden Abend, bis Trude nach Russland schrieb und Marija bat, der Familie nach Australien zu folgen.

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Die feuchte Hitze machte Trude fertig. Die Regenzeit hatte wenige Tage nach der Ankunft eingesetzt und verwandelte die staubige Erde in eine rote Schlammsuppe. Trude erkannte jetzt den Sinn der Stützen, auf die die Häuser aufgebaut waren. Sie boten Schutz vor Tieren und dienten zur Luftzirkulation in der Hitze. Trude war froh, dass die intensiven Niederschläge, die zu Fluten anschwollen, nicht in den Wohnbereich flossen, sondern unter dem Haus durchströmten.

In den Tagen vor Weihnachten drapierte Trude Eukalyptuszweige statt eines Tannenbaums in einem Eimer und schmückte sie mit Papiergirlanden. Der Regen prasselte ununterbrochen auf das Wellblechdach. Die Dekoration war ein Versuch, weihnachtliche Stimmung herzustellen. Doch es erschien absurd, bei den tropischen Temperaturen und dem Lärm des Regens Leise rieselt der Schnee zu singen.

Es gelang über die Mission, Zutaten für die Lieblingsplätzchen der Kinder zu bekommen. Doch weder die noch die Weihnachtsgans vermochten es, die Familie am Heiligen Abend feierlich zu stimmen. Die Knaben in ihre schicken Feiertagsanzüge zu stecken, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war Hochsommer, heiß und schwül. Jedes Stück Stoff zu viel auf der Haut grenzte an Folter. Trude sah ein, dass die zugeknöpfte, europäische Mode hier nicht diente, und begann es den Bewohnern der Stadt gleichzutun und sich an saloppe Bekleidung zu gewöhnen.

Sechs Wochen nach der Immigration hatte sie sich jedoch immer noch nicht mit dem Schweißfilm auf der Haut abgefunden. Schwangerschaft und Luftfeuchtigkeit pressten alle Säfte aus ihrem Körper. Die Flüssigkeitsdepots verlangten umgehend Nachschub. Reinster Sisyphus. Trude schwitzte und tankte sofort Wasser nach. Sie fühlte sich wie ein rinnendes Sieb. Des Nachts fand sie keinen Schlaf. Die Temperatur sank nie unter fünfundzwanzig Grad. Die Moskitos fraßen Eltern und Kinder in den ersten Nächten fast auf. Sie schafften Moskitonetze für die Betten an, doch vor dem nervtötenden, bis in alle Gehirnwindungen dringenden Gesurre der Plagegeister schützten auch die Netze nicht.

Die Kinder und Valentin hatten keine Mühe. Für sie war Australien ein Abenteuer, in das sie sich vom Fleck weg mit Begeisterung stürzten. Kein Zögern beim Aufbruch aus Estland, kein Heimweh während der Überfahrt. Von Beschwerden mit der Umstellung auf die neuen tropischen Lebensumstände keine Spur. Valentin war der Motor, die treibende Kraft. Er glaubte unerschütterlich an ihre gute Zukunft. Mit Hilfe der Arbeitskollegen und dank seines Ehrgeizes eignete er sich schnell einen ansehnlichen Wortschatz in der neuen Sprache an. Die Jungen spürten sein Feuer und ließen sich von ihm anstecken und nicht von der Mutter dämpfen. Es machte die Sache leichter. Trude teilte die Begeisterung für das exotische Australien überhaupt nicht. Ihr jugendlicher Abenteuergeist war mit der zunehmenden Kinderschar erloschen. Sie war einfach froh, dass ihnen zum richtigen Zeitpunkt eine Lösung in den Schoß gefallen war. Es war unumstritten, dass Leningrad keine Perspektiven mehr für die Familie bot. Doch Trude hätte die näher liegende Lösung, Estland, vollauf genügt.

In ihrer vierten Schwangerschaft war sie so froh wie nie um einen Nistplatz. In dieser fremden Umgebung verlor sie alle Ambitionen, außer Haus arbeiten zu wollen. Sie freundete sich mit dem Gedanken an, dass Frauen Brüterinnen und Männer Pioniere sind. Trudes Fokus war, sich häuslich einzurichten, für den Säugling ein Nest zu bauen und Valentin und die Buben um sich zu scharen. Sie vermisste Marija und Olga schmerzlich. Wieder war Trude ohne Hilfe einer Schwesternschaft auf sich alleine gestellt, musste sich neu ausrichten, sich wieder mit Ungewissem auseinandersetzen. Wieder ausfindig machen, wo Milch und Brot zu beschaffen waren, wie mit Nachbarn umzugehen war. Sie musste ihren Alltag und die Sprache wieder neu erlernen und eine Brücke zu den Mitmenschen schlagen. Und dessen war sie müde. Australien war für sie wie eine Expedition zum Mond ohne Rückfahrkarte. Und so tat sie sich schwer. Hitze, Feuchtigkeit, das schüttere Holzhaus, die Furcht einflößenden Eingeborenen mit ihren finsteren Gesichtern machten ihr zu schaffen. Sie klammerte sich an alles, was in entferntester Form europäisch war. So auch an Weihnachtsbaum, Gans und Plätzchen.

1939 Die Rückkehr des Glücks

Anne kam am siebten Februar 1939 am frühen Morgen zur Welt. Sie schlüpfte einfach heraus, legte sich zur Familie ins gemachte Nest und sagte: „Hallo ich bin jetzt da!“ Eine Missionsschwester versorgte Mutter und Kind bei der Hausgeburt. Valentin wollte unbedingt der Ankunft seines vierten Kindes beiwohnen. Rohheit und Schönheit des Aktes übermannten ihn. Er weinte hemmungslos, als er die winzige Schwester den Brüdern, die aufgewühlt an der Schlafzimmertür gelauscht hatten, vorführte. Alle waren vom Fleck weg in das Mädchen vernarrt, hübsch, wie sie war. Nach drei kleinen Kerlen, Trude konnte es nicht leugnen, war sie überglücklich, eine Tochter geschenkt bekommen zu haben. Sie hätte ihr Mädchen gerne Esmeralda genannt, doch bei der demokratischen Abstimmung setzte sich Valentins Vorschlag Anne durch. Den Buben lag Esmeralda zu sperrig im Mund. Und schon am zweiten Tag kam Trude wie von selbst ein zärtliches Annie über die Lippen, wenn sie ihre Tochter liebkoste.

Marijas Antwort traf wenige Tage nach Annes Geburt ein.

„Liebe Trude, liebe Familie!

Euer Angebot freut und ehrt mich. So gern ich folgen würde, ist es mir unmöglich, aus Russland auszureisen. Alles ist unübersichtlich und chaotisch geworden. Wir müssen Beamte bestechen, um an Nahrungsmittelmarken zu kommen. Unser Geld ist kaum noch etwas wert. Die Zeitungen schaukeln sich im Kriegsgerassel hoch. Es ist schwierig, Propaganda von der Wahrheit zu unterscheiden. Es liegt in der Luft, man sieht es an den Gesichtern der Menschen: In Europa bahnt sich Ungutes an!

Ich beglückwünsche euch, dass ihr es noch rechtzeitig geschafft habt, aufzubrechen. Es gibt kaum noch zivile Passagierschiffe. Die meisten Ozeanriesen wurden in der allgemeinen Mobilmachung zu Kriegsschiffen umgerüstet. Die Preise für die wenigen Fahrkarten sind ins Unermessliche gestiegen und sind unerschwinglich geworden. Bitte schickt kein Geld! Es würde nie bei mir ankommen.

Ist das Kleine schon geboren? Alle Glücks- und Segenswünsche für Mutter und Kind! Ich wünsche mir so sehr, euch irgendwann wiederzusehen und das Kleine einmal im Leben kennenzulernen!

In Liebe, Marija“

Trude spürte zwischen den Zeilen die leise Angst und das klamme Bedauern, dass Marija nicht mit ihnen übersiedelt war, deutlich heraus. Sie machte sich Sorgen: „Was wird wohl aus Olga, Marija und den Medwedews werden?“

Trude und Valentin verfolgten die Entwicklungen in Europa mit Sorge. Hitler, Stalin, die Alliierten – die Namen waren in aller Munde. Die Wochenschau im Freiluftkino von Darwin wurde jeden Freitag zum Magneten. Jeder Platz, jede Treppenstufe war belegt. Es gab zeitlich getrennte Vorführungen für Weiße und Schwarze. Jeder Einwanderer, der abkömmlich war, kam. Jeder hatte Wurzeln irgendwo in Europa. Als Schicksalsgemeinschaft vereint, starrten sie auf die große Leinwand und verfolgten die Spaltung Europas, Hitlers Propagandareden, die Rotoren der startbereiten Flugzeuge, Militärparaden und siegessichere Männergesichter.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Trude nicht um Kontakte in Darwin bemüht und kaum am öffentlichen Leben teilgenommen. Körperlich anwesend reiste sie oft in Gedanken zurück. Sie malte sich Kaffeekränzchen mit Rita Medwedew aus. Sich Olgas Lachen zu vergegenwärtigen, richtete Trude auf. Mit dem sich anbahnenden Unheil in Europa wurde es endgültig: Es gab keine Umkehr mehr. Der Krieg zog einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit. Australien war nun die neue Heimat der Familie. Der Kontinent lag fernab der alten Welt. Der Krieg würde sie physisch nie treffen. Trude dämmerte, welch Glück sie hatten, und sie war dankbar, mit den Kindern in Sicherheit zu sein.

Mit Marijas Brief knallte die Hintertür, die Trude sich insgeheim offen gehalten hatte, für immer zu. Es war besiegelt, es gab kein Zurück und Trude wurde gezwungen, den Blick nach vorn zu richten. Sie begann, sich endlich in die klimatischen Bedingungen zu schicken und ihr Herz für die neue Heimat zu öffnen.

Von dem Moment an wurde alles einfacher.

Annie war ein Geschenk. Juri und Serge besuchten morgens die Schule, die von christlichen Missionaren gegründet worden war. Der Lehrer war ein katholischer Priester italienischer Abstammung. Pater Angelo war sowohl bei Kindern wie auch Eltern sehr beliebt. Er war ein blutjunger frommer Mann. Das Charmanteste an ihm war, dass er sich selbst nicht bewusst war, welch Adonis er war. So sagten manche hinter vorgehaltener Hand, es sei eine Verschwendung, diese Schönheit alleine Gott zu überlassen. Jungs und Mädchen liebten ihn, weil er spannende Geschichten erzählen konnte. Die Mütter vergötterten ihn und widmeten ihm nachts ihre Träume. Pater Angelo war es auch, der das jüngste Kind der Familie in einer schlichten Feier auf Anne Esmeralda segnete, doch weder die Eltern noch die Brüder riefen sie je bei ihrem Taufnamen.

Die Buben legten sich ins Zeug mit der Sprache. Spielend leicht lernten die Naturtalente Englisch. Es war für sie von Bedeutung, die anderen Kinder zu verstehen. Sie verbrachten jede freie Minute mit ihren Spielkameraden. Darwin war für sie ein Eldorado. Es war ein Vergnügen, barfuß auf den Straßen aus planierter Erde herumzutollen. Sie waren glücklich, der europäischen Etikette, die ihren Bewegungsdrang stets eingezwängt hatte, entkommen zu sein. Für sie war Australien die Steigerung der glücklichen Sommermonate auf Olgas Hof. Denn jetzt war es ein Dauerzustand.

Valentin nannte seinen zweiten Sohn Sergej. Der Vater wollte die russische Anrede unbedingt bewahren. In seinen Ohren tönte es männlich, stolz und passend für einen heranwachsenden Jungen. Trude nannte ihn weiterhin Serge mit französischer Aussprache, sie pflegte immer noch dieselben zärtlichen Muttergefühle für den tollpatschigen Jungen. Seine neuen Freunde riefen ihn: Sartsch, weil keiner seinen russischen Namen aussprechen konnte. So kam es, dass er im Spiel oft die Rolle des Seargents, des Polizisten oder Militärchefs bekam. Als ewiger Zweiter in der Geburtsreihe fand er es toll, von den Spielkameraden den Boss zugeteilt zu bekommen. Denn zu Hause blieb Juri der Thronfolger.

Trude lernte mit den Buben die wichtigsten englischen Ausdrücke, viel Nützliches über Darwin und das Buschland vom Northern Territory. Sie schwatzten durcheinander, wenn sie vom Unterricht nach Hause stürmten und sich an den Mittagstisch setzten. Die Mutter ließ sich anstecken.

Nach der Regenzeit machte sich Trude auf Entdeckungsrundgänge. Mit Annie im Kinderwagen und Philip an der Hand streifte sie durch Darwin. Juri und Sergej begleiteten sie, wenn sie grad Lust dazu hatten und keine Murmelmeisterschaft zu bestreiten hatten oder nicht auf imaginärer Kängurujagd waren mit ihren Freunden. Im Meer zu baden war wegen der Krokodile und Quallen unmöglich. Trude lernte auch, dass Mangrovenbuchten wegen der gefährlichen Reptilien zu vermeiden waren.

Sie liebte es, an der Esplanade und im Botanischen Garten spazieren zu gehen. An sicheren Strandabschnitten zog sie die Schuhe aus und ließ ihre Zehen in den weichen Sand sinken. Im Schatten ausladender Pandanabäume setzte sie sich zum Ausruhen in den warmen Sand, während die Kinder herumalberten und Sandburgen bauten. Nach und nach bekam sie einen Blick für die Schönheit der Gegend. Sie konnte sich kaum sattsehen an den leuchtenden Farben. Insbesondere hatte es ihr das leuchtende Türkis des Meeres angetan, das ihre Seele nährte und nach und nach die Sehnsucht nach der alten Heimat verblassen ließ.

Am liebsten flanierte Trude auf der langen Pier auf und ab. Ihr gefiel die solide Holzkonstruktion, die die stolzen Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen, vor der offenen See schützte. Wenige Gehminuten entfernt lag Petrowitschs Werft. Der Höhepunkt des Ausflugs bestand jeweils darin, zu fünft Valentins Büro zu stürmen. Trude und die Kinder fanden ihn über seine Pläne gebeugt. Die Jungs stürzten sich mit Gebrüll auf ihn und rissen ihn aus der Konzentration.

Es wurde zu einem lieb gewordenen Brauch: Im ersten Moment setzte er eine verärgerte Miene auf, nahm einen Sohn in die Zange und hob zum Schein den Arm, um ihm den Hintern zu versohlen. Die andern kamen dem Bruder zu Hilfe, zwangen den Vater zu dritt zu Boden. Dieser bettelte um Gnade und bestach die Bande mit Süßigkeiten, die er zufälligerweise immer im Hosensack hatte. Trude verabschiedete sich bei Valentin mit einem Kuss, er kniff ihr als Antwort in den Hintern. Valentin blickte seiner Familie stolz nach, wie sie aus seinem Büro entschwand, und genoss es, wenn wieder Ruhe einkehrte.

Trudes seelisches Ankommen belebte auch die Eheleute wieder. Valentin und Trude fanden nach der Zerreißprobe wieder zueinander. Rückblickend erkannten sie, dass die Schwierigkeit darin lag, dass ihre Kräfte in verschiedene Richtungen zogen. Valentin wollte nach vorn und Trude zurück. In dieser Spannung hatten sie sich streckenweise verloren. Mit Trudes „Ja“ zu Australien hatten sie wieder dasselbe Ziel, nämlich, in diesem Land Fuß zu fassen. Wie jede andere überstandene Krise vorher, festigte auch diese das Fundament ihrer Ehe noch mehr.

Nach zehn Jahren Ehe fielen sie nicht mehr übereinander her. Nach vier Schwangerschaften und unendlich vielen ruhelosen Nächten ist erholsamer Schlaf längst kostbarer als Liebesleben. In diesem Einverständnis legten sie sich zueinander ins Bett, hielten sich die Hand und ließen den Tag zur Ruhe kommen. Mit einem Kuss wünschten sie sich eine gute Nacht. Es war kein außergewöhnlicher Tag, es war nichts vorgefallen, das sich besonders eingeprägt hatte. Trude konnte nicht einmal mehr sagen, wann es genau war. Sie trug ihr hellblaues Trägerhemdchen. Valentin zog es vor, am Oberkörper nackt und in kurzen Shorts zu schlafen. Das Bild von diesem einen Abend, wie Valentin und sie nebeneinander im Bett lagen in Vertrautheit und Zärtlichkeit, was im simplen Händchenhalten zum Ausdruck kam, brannte sich fest in ihre Erinnerung. In dieser simplen Geste lag ihr Glück, in Valentin einen treuen Gefährten und Freund zu haben. Seit ihrer Hochzeit hatte er ihre Hand nie losgelassen und war an ihrer Seite geblieben. Dies erfüllte sie mit unendlicher Dankbarkeit.

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