Kitabı oku: «Das Leben ist ein tiefer Fluss», sayfa 2
PAULAS NEUES LEBEN
Paula lernte KA in der Galerie Rendy anlässlich einer Ausstellung kennen. Er stand mitten im Raum, umgeben von einer Schar eifriger Frauen.
Sie umschwärmten ihn wie Bienen einen Honigtopf.
KA aber konzentrierte sich auf die Begrüßung und die Laudatio, beobachtete das Geschehen um sich herum, versenkte sich in die Betrachtung der Bilder, blieb seinen Begleiterinnen gegenüber freundlich und zugewandt, ließ sich aber nicht vereinnahmen. Er schien unabhängig, was Paula beindruckte.
Paula beobachtete ihn von ihrem Standort aus. Sie fand ihn sympathisch. Sein markantes Gesicht, seine Haarpracht, sein wilder Bart hatten etwas von einem Seemann an sich, der die Weite liebte, den Blick frei bis zum Horizont. Gleichzeitig aber strahlte er Sensibilität und Feinfühligkeit aus. Paula fand: eines seltene Mischung.
Immer wieder schaute sie zu KA herüber, der eigentlich Konrad Anton Kirsch hieß, der aber der Abkürzung halber KA genannt wurde. Paula übernahm sogleich den Namen und konnte sich später nicht mehr umstellen.
KA also war an diesem Tag so eng von einer ihn umschwärmenden Damenschar umgeben, dass es nicht zu einer näheren Begegnung kam, auch nicht zu einem einzigen Wort. Sie ging wieder nach Hause und KA strebte in eine andere Richtung davon. Doch Paula traf ihn von da an immer wieder, mal bei Jazzkonzerten, bei einer Ausstellung oder einem Vortrag, ohne dass sich ein Kontakt ergab. Irgendwann aber musste es passieren. Paula war nun schon acht Jahre allein. Sie war ausgefüllt und zufrieden mit ihrem Leben. Aber sie begann die Zweisamkeit zu vermissen.
Die Begegnung mit KA entzündete ihre Phantasie, sodass sie sich öfter dabei ertappte, wie sie ihn in ihre Zukunft einplante und mit ihm unterwegs war.
Auch KA hatte begonnen, Paula bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen der regionalen Kulturszene zur Kenntnis zu nehmen. Er sah sie rank und schlank, eine leger gekleidete, jugendlich wirkende Person, etwa gleich alt wie er selbst, mit ergrauten Haar, in das der Friseur hübsche, rotbraune Strähnchen gezaubert hatte. Hinter ihrer dicken Hornbrille entdeckte er aufmerksame Augen. Einmal lächelten sie sich zu.
Ansonsten nahm er sie wahr wie einen vorübergehenden Film, an den man sich gerne erinnert. Sein wirkliches Leben spielte aber in einem anderen Orchester. KA war Leiter einer Institution für Erwachsenenbildung und dort von Dozentinnen und Sekretärinnen umgeben, die ihn anhimmelten, ihn bewunderten und tagtäglich in den Genuss seiner hervorragenden Fähigkeiten kamen: Klugheit und scharfer Verstand, soziales Einfühlungsvermögen und Souveränität sowie männliche Ausstrahlungskraft. Er wurde aufgrund dieser Eigenschaften der Held mancher Frauenträume. Einige machten sich Hoffnungen, da KA seit kurzem solo war.
Paula wollte keinen Helden. Vor allem keinen Frauenhelden, deshalb ging sie ihm aus dem Wege und suchte keine Gelegenheit, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie wollte eine seriöse Reisebegleitung in ihrem Alter. Keine Abenteuer. Keine Aufregung. Die Gelegenheit ergab sich aber trotzdem, und es ergab sich noch eine zweite Gelegenheit, die dann zu einer dauerhaften Verbindung führte.
Allein unterwegs wie so häufig, an einen Pfeiler im Raum gelehnt, ein Sektglas in der Hand, feierte sie mit anderen geladenen Gästen die neue dadaistisch anmutende Malerei von Max Rendy, zu dessen Ehre die heutige Matinee stattfand.
Nichts als Schnipsel, Collagen aus aktuellen Zeitungen auf Leinwand fixiert, und darüber große, schwarze Kleckse, die alles infrage stellten, und mittig Fotografien aus der digitalen Welt, Tablets, Smartphones, Notebooks, fragile Zeichen wie aus der Geisterwelt gerufen. Die Tradition hatte mal wieder ausgedient. Max beschäftigte sich seit einiger Zeit mit dem Thema und hatte seine eigene Version anlässlich eines DADA Gedenkjahres auf die Leinwand gebracht.
Außerdem hing ein großes Plakat mit dem Text aus einer DADA-Zeitschrift der 1920er Jahre mitten im Raum, das allen in die Augen sprang.
Was ist Dada?
Eine Kunst? Eine Philosophie? Eine Politik?
Eine Feuerversicherung? Oder: Staatsreligion?
ist dada wirkliche Energie?
oder ist es>>>>>>Garnichts.
Alles?
In dem Augenblick, als Paula das Plakat las, entdeckte sie, an die Rückseite der Säule gelehnt, KA, alleine, ohne Frauenschwarm. Er wandte sich ihr zu und begann ein Gespräch über die Ausstellung.
Paula war in dem Moment, als er sie ansprach, so überwältigt, dass sie das Sektglas in der Hand vergaß und es zu Boden gleiten ließ. Das Ganze sollte ja gut beginnen!
KA lachte!
Scherben bringen Glück!
Er nahm ein großes, altmodisches Taschentuch aus seiner Westentasche – extra für solche Gelegenheiten, wie er sagte – und wischte die Sektbrühe von Paulas Kleid - oder Rock oder Hose, oder was auch immer sie damals trug.
Um sie herum sammelte man die Scherben ein und im Nu wäre das Malheur vergessen gewesen, wenn sie nicht kurz darauf zum zweiten Mal das Sektglas hätte fallen lassen.
Diesmal ergoss sich der süße und prickelnde Inhalt in den Ausschnitt von KAs Sekretärin, die herbeigeeilt war (möglicherweise um KA vor fremden Frauen zu retten) und dabei in der Enge der Umstehenden über den Schuh eines Mann stolperte, der in einer Gesprächsrunde direkt vor Paula stand.
Obwohl Paula daran unschuldig war, weil sie angerempelt wurde, nahmen sie die anwesenden Gäste nun als störend und unbeholfen wahr.
Nur KA ließ sich nicht beeindrucken.
Er blieb souverän.
Er kannte die Ursache.
Er verlor seinen Humor nicht.
Er wies im allgemeinen Getümmel laut darauf hin, dass es sich heute um eine DADA-Ausstellung handeln und die Einlage als Impuls ausgezeichnet zum Thema passen würde. Ja, dass sie die Einstimmung in diese Kunstform erst so recht anschaulich machte, worauf ein entspanntes Gelächter entstand, und die Umstehenden Paula zu dieser guten Idee beglückwünschten. Es ging dann so weit, dass Max Rendy sein Sektglas nahm, das vor ihm auf einer Staffelei platzierte Gemälde mit dem prickelnden Inhalt sozusagen taufte und gut gelaunt die Aktion als geplante Performance bezeichnete.
Damit aber endete vorerst wieder der Kontakt zwischen Paula und KA.
Erst Wochen später, im Winter, kam es zu der wirklichen und entscheidenden Annäherung. KA war bei einem Vortrag in der Stadtbibliothek anwesend. Auch Paula war dort. Sie interessierte sich für das Thema, einen Reisebericht über das Leben in den kanadischen Wäldern. Zu spät gekommen, hatte sie nahe der Eingangstür Platz genommen. Sie wollte auch sehr bald nach Hause.
Sie verabschiedete sich von einigen Bekannten, die sie immer irgendwo traf und legte draußen, kurz hinter der Eingangstür einen uneleganten Salto hin: sie war der Länge nach ausgerutscht.
Es war spiegelglatt. Eisglätte. Blitz Eis. Glück.
Das war die Gelegenheit für KA, der sie in sein Auto beförderte und sie direkt bis zu ihrer Haustür fuhr. Von diesem Zeitpunkt an hatte auch Paula wieder einen Begleiter.
KASCHMIR UND SEIDE
Vorige Woche waren Paula und KA schon zum dritten Mal im Tramuntana-Gebirge und besuchten dort auch zum dritten Mal den Ort Valldemossa, der mit seinem Kartäuserkloster weit über das Tal in Richtung Palma blickt, und vor dem sich die mediterranen Gärten mit Zitronen-, Orangen- und Olivenhainen bis weit in die Ebene ziehen. Sie besichtigten dort noch einmal eben dieses Kloster.
Die Kartause, eine Einsiedelei.
Die Kartäuser, ein Schweigeorden.
Nur einmal in der Woche trafen sich die Mönche in ihren weißen Gewändern für eine halbe Stunde zum Gespräch in der Bibliothek. Sonst Stille, Gebet und Kontemplation, soweit nicht die Gärten, welche vor den Mönchszellen liegen, bearbeitet und gepflegt werden mussten, um den Lebensbedarf sicherzustellen.
Auch KA und Paula schweigen oft. Sie ähneln den Kartäusermönchen. Manchmal hängen sie ihren Gedanken und Träumen nach, jeder für sich allein.
Manchmal schweigen sie bewusst, denken über dieselben Geschehnisse nach und warten nur auf den richtigen Moment, die Worte zu finden.
Manchmal ist das Schweigen an der Seite von KA für Paula das höchste Gefühl. Ja, es ist ein hoheitsvolles Gefühl, zu schweigen und still zu sein, wo man sonst nur Belangloses spricht. Man ist eingehüllt in das Wesentliche.
Man kann vordringen zu Dingen, die man sonst nicht wahrnimmt. Manchmal. Ja, manchmal ist das Schweigen ein großer Segen. Manchmal aber auch ein Fluch, wenn die Dialoge sich verirrt haben und Missverständnisse aufgetreten sind. Dann kann das Schweigen eisig sein.
Jetzt gab es keine Missverständnisse. Jetzt schlenderten sie bei Sonnenschein und unter Palmen und Orangenduft durch die Gärten von Valldemossa.
Paula schob ihre Hand in KAs Hand. Sie ließen sich vom Touristenstrom durch enge Pflasterstraßen treiben, wie man mühelos in einem Fluss zu einem Ziele treibt.
KA blieb manchmal stehen und fotografierte einen Brunnen, ein altes, mallorquinisches Haus, geschmückt mit Blumenpracht und handbemalten Wandfliesen, einen Waschtrog, wie man ihn in den Dörfern noch benutzte, und dann standen sie vor einer Boutique, die recht schöne, einheimische Handarbeiten bot: Tongefäße, Bilderrahmen und Schalen aus Olivenholz, glitzernde Quasten und Handtäschchen aus bunten Glasperlen, bestickte Tücher sowie einen breiten Schal, ein Einzelstück, den man als Stola verwenden konnte. Eine spanische Handarbeit.
Sie kauften den Schal als Mitbringsel für Paulas Tochter Susanna. Er war von warmem Braun, übersät mit kleinen, bunten Blüten, die mit einer zartgrünen Blätterranke verbunden waren. Das würde zu Susanna passen, ihrem braunen Haar, ihren grünen Mandelaugen. Sie könnte sich den Blütenschal um die Schultern legen, um sich an kühlen Sommerabenden im Garten sitzend zu wärmen, oder ihn als Schmuckstück tragen, wenn sie ausginge und so weiter und so fort, dachte Paula laut vor sich hin. Zufrieden stiegen sie in ihren Land Rover, einen Leihwagen, den sie gar nicht bestellt hatten und der ihnen großzügig zur Verfügung gestellt worden war, weil das gebuchte Objekt kurz vor Übergabe den Geist aufgegeben hatte.
Sie fuhren nun bequem zu ihrem Ferienort zurück.
Es war später Nachmittag. Während die Bucht von Andratx immer näher rückte und das blaue Meer ihnen wieder entgegenleuchtete, sagte KA: Wir wollen auch einen Schal für Veronica besorgen.
Veronica, KAs Tochter, ist viel auf Reisen. Alle freuen sich das ganze Jahr über auf das Wiedersehen an Weihnachten. – Natürlich werden sie einen ebenso schönen Schal für Veronica kaufen. Morgen werden sie wieder losfahren und einen suchen.
Sie wollten ein Tuch für Veronica besorgen, und zwar auch in spanischer oder mallorquinischer Handarbeit und keines „Made in China“ oder „Made in Indian“. Es soll ähnlich sein wie das von Susanna. „Ja“, sagte Paula, „Veronica soll auch einen solch schönen Schal haben. Wir werden ihn finden.“ Doch das war nicht so leicht.
Sie suchten mehrere Tage lang. Der Urlaub ging dem Ende zu. Überall hingen Tücher und Schals in allen Farben und Nuancen, jedoch keines der bunten Stofftücher war ein Stück einheimischer Handarbeit, nicht vom spanischen Festland und nicht von der Insel, auf der sie ihre Ferien verbrachten. Auch fern der Touristenströme schienen sie kein Glück zu haben.
Dann aber endlich – in den letzten Urlaubstagen, als sie wieder durch das Tramuntana-Gebirge fuhren, über Serpentinen und durch Felsschluchten, an herrlichen Ausblicken über das strahlende Mittelmeer vorüber und schließlich in eine abgelegene Bergwelt vordrangen, kamen sie in einen majestätischen Ort mit einer hohen Kirche und einer steilen Treppe, die hinauf führte zu einem Brunnen.
Sie kämpften sich die Stufen hoch – Schritt für Schritt. Es war ein heißer Tag. Paula war müde und die Hoffnung auf so einen Schal hatte sie schon fast aufgegeben. KA nicht – KA gab niemals auf.
Und oben, hinter dem Brunnen, fanden sie tatsächlich ein kleines Geschäft mit spanischen Leder- und Webwaren, – und im Fenster hing der gesuchte Schal. Weinrot. Eine mallorquinische Handarbeit, eine Stola, bestickt mit Blüten. Schön war sie.
Schöner hatte Paula nie ein Tuch gesehen. Ihr Herz klopfte, als es so vor ihr lag.
Rot wie Burgunderwein.
Rot wie die Liebe.
Rot wie der Schmerz.
Rot wie die Lebensfreude.
Geschmückt mit einer Girlande von goldgelben Margeriten und zartgrünen Blätterranken. Ein Einzelstück, ein Unikat, nicht doppelt erhältlich.
Ein Zauber ging von ihm aus.
Wie eine Komposition von Chopin lagen die Blumen auf dem Tuch, eine Symphonie von Blütenranken, die in einer ganz großen, sich öffnenden Blume als Finale endete. Die zierliche, schwarzhaarige Geschäftsinhaberin nahm das Tuch aus dem Fenster. Paula hielt ein Gewebe aus Kaschmir und Seide in den Händen – die Blütenranke darauf: ein Kunstwerk der Handarbeit. Was es kostete, war für KA keine Frage mehr.
Wir nehmen es, sagte er.
Es wird ein Weihnachtsgeschenk, und er meinte, Veronica. Paula erschrak. Sie kam schlagartig wieder in der Wirklichkeit an. Denn in ihren Gedanken gehörte der Schal längst ihr. Wie viele Jahre hatte sie ihn gesucht. Wie viele Sehnsüchte hatten sie getrieben. Wie viel Mangel hatte sie erlitten, wie viele Träume geträumt, wie viele Wege war sie ergebnislos gegangen, um diesen Schal zu finden.
Rot wie die Liebe. Rot wie Blut.
Rot wie die Freude.
Rot wie das Leben. Rot wie die Kraft. Rot wie Burgunderwein. Der Schal gehörte ihr. Er war die Fülle des Lebens, extra für sie selbst gemacht.
Hundert Hände hatten ihn gewebt, hundert Finger sich blutig gestochen, und fein und zart wurde er für eine Königin bestickt. So träumte Paula – und sie erwachte und sah: Der Schal gehörte Veronica, und als die Spanierin ihn nahm und ihn sich eng um den Körper wickelte, um ihn dann wie zum Tanz auseinanderzubreiten, wurde ihr Wunsch, ihn zu besitzen, noch größer.
Aber auch der Schmerz, dass sie ihn nicht besitzen würde, wurde ebenfalls groß, so, dass ihr plötzlich die Tränen über die Wangen liefen.
Still und schweigend hatte Paula zu weinen und dann zu lachen begonnen. Sie weinte und lachte gleichzeitig - und sie stand da, mitten in dem vornehmen und dunklen Verkaufsraum, während draußen die Sonne gnadenlos schien und war zerrissen in einem Kampf, und während der Film ihres zurückliegenden Lebens vor ihrem inneren Auge ablief, nahm KA ganz sanft Paulas Hand und sagte: Der Schal gehört dir.
Die spanische Geschäftsinhaberin, jung, zierlich, dunkelhaarig wie Veronica, lächelte verständnisvoll, sprach mallorquinisch und vermischte ihre Muttersprache mit einigen deutschen Wörtern. Paula schien es, als sänge eine Nachtigall oder eine Lerche:
Stola ist wunderbar.
Stola passt Signora wundervoll.
Signora müssen Stola tragen.
Sie legte ihr das Tuch um die Schulter. Weich und warm hüllte es Paula ein. In diesem Tuch würde sie sterben wollen. Und doch, gleichzeitig, nahm Paula schon Abschied. Sie spürte den notwendigen Verzicht, auch wenn sie sich ihm noch nicht stellen wollte. Der erste Augenblick des Abschieds war schon eingetreten, ehe sie den Schal jemals besaß.
Doch sollte es noch eine Weile dauern, bis Paula ein wirkliches „Ja“ sagen konnte. Aber es war ihr bewusst: Dieser Schal gehörte nicht ihr. Das Schicksal hatte ihn für Veronica bestimmt. Es würde kein Weg daran vorbeiführen.
Oder doch?
War es Paulas Schicksal, immer zu verzichten?
Was bedeutete überhaupt Schicksal?
Reden wir uns das nicht oft ein, um uns vor Entscheidungen zu drücken? Was gab ihr die Gewissheit, dass der Schal, die Stola, der Blütentraum Veronica gehöre?
Paula war der Blick nicht entgangen, mit dem KA kurz zuvor die Stola betrachtet hatte und sie dann entschlossen kaufte. Für Veronica, nicht für Paula.
Veronica, die er so selten sah. Veronica sollte den Schal von ihrem Vater haben. Ein Schal der Lebensfreude und der Schönheit, ein Zeichen menschlicher Phantasie und Kunst. Ein Zeichen auch seiner Verbundenheit. Ja, Paula musste lernen, mit Großmut zu verzichten. Sie musste mit Freude diesen Schal weitergeben. Der Akt brauchte ihren inneren Segen.
Einige Tage noch dauerte es, bis diese Entscheidung gefallen war. Einige Tage noch dauerte der innere Kampf. Auf der Rückfahrt mit dem Land Rover durch das Gebirge Mallorcas, vor ihr die Felsen abstürzend ins Meer, sang und weinte es in ihr, und immer wieder strich die Hand von KA über Paulas Arm, während sie fuhr und fest das Steuer hielt, und sie schwiegen wie die Mönche über das, was sich in ihren Seelen abspielte.
Sie schwiegen viel die nächsten Tage. Jeder hing seinen Gedanken nach und die Erinnerungen begannen sie zu umgarnen und hielten sie die ganze Zeit gefangen in ihrem Netz.
Sechzig Jahre, ein Leben!
Kindheit und Jugend, Liebe und Verlust. Aufgaben.
Arbeit, Krankheit, Hunger und Sehnsucht. – Kinder, Eltern und Großeltern tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Jeder war für sich alleine und doch waren sie einander verbunden - unausweichlich mit dem roten, mallorquinischen Schal, der zu einer Metapher wurde für das Leben selbst.
Jeden Abend packten sie ihn aus. Sie öffneten das zarte, goldumrandete Geschenkpapier und breiteten ihn auf der Bettdecke aus. Dann packten sie ihn wieder ein.
Jeden Abend, bis zur Abreise.
Am letzten Abend saßen sie wie gewohnt in der Ecke ihres Speisesaales und blickten auf das Meer.
Viele Gäste waren schon abgereist. Der Winter nahte. Leise spielte Musik. Die Kellner brachten die Suppe, die Vorspeisen, den Wein – da nahm KA lächelnd die Hand seiner Begleiterin und sagte: Paula, ich habe lange überlegt.
Ich mache Dir noch einmal das Geschenk.
Der rote Schal – er gehört Dir.
In diesem Moment erst traf Paula endgültig die Entscheidung. Wehmütig – und doch schon frei, gab sie den Schal ab. Die Tränen, die aufstiegen, waren Tränen der Erlösung. Sie hatte sich von dem Requisit, das sie an ihre Lebensträume erinnerte, verabschiedet. So war es: Der Schal gehörte Veronica und sie überließ ihn ihr gerne.
Zu KA sprach sie leise, aber entschlossen. Höre zu, sagte sie, ich danke dir von ganzem Herzen. Dein Geschenk an mich zeigt auch deine Liebe zu mir, aber ich habe in meinem Inneren die Gewissheit, dass ich dein Geschenk nicht annehmen darf. Der Schal gehört Veronica. Denn es ist ein Geschenk eines Vaters an seine Tochter, das ein Zeichen der Liebe setzen soll und sagen: So ist das Leben, voller Schmerz, aber auch voller Freude und Schönheit.
So schön und kostbar ist das Leben. Lebe es mit Leidenschaft, dann erhältst du die Fülle. Das wolltest du Veronica mit deinem Geschenk sagen. Ich habe es in deinen Augen gelesen und deine Gedanken erkannt.
Und, sage selbst, wie sollte ich den mallorquinischen Schal mit Freude tragen, wenn ich weiß, das Schicksal hatte ihn für Veronica bestimmt als ein Zeichen der Liebe zwischen Tochter und Vater. – KA schaute Paula lange überrascht und mit Bewunderung an. Dann lächelte er und nickte erleichtert.
Bald danach erhielt Paula eine Fotografie vom mallorquinischen Schal, so, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war nur ein Foto, ein fernes Abbild dieses einen Traumes. Aber Paula träumte ihn weiter – und träumte ihn immer wieder neu. Es war der Traum vom erfüllten Leben und der leidenschaftlichen Zustimmung und dem Mut, den Paula dazu immer wieder braucht.
DAS LEBEN IST SCHÖN.
WIR BLÜHEN!
Paula stand nach einer langen Wanderung am Zaun. Die Frau bückte sich zu den Blumen.
Sie bückte sich zu den Blumen und goss mit einer Blechdose Wasser auf die Wurzeln. Die Erde war trocken. Paula sah ihr zu.
Paula sah, wie sie in einer großen Regentonne vor einem verfallenen Haus Wasser schöpfte, abwägend von Pflanze zu Pflanze ging und das Maß bestimmte, das sie zuteilte. Sie wusste um den Wert des Wassers. Sie gab nicht zu viel.
Dann füllte sie wieder die Blechdose und verschwand hinter den Tomaten. Paula sah nur ihren gebückten Rücken, der sich unter ihrer Kittelschürze auf und ab bewegte. Paula sah ihre zerbrechliche und zerknitterte Gestalt, die dürren, faltigen Arme, und ab und zu den weißen Haarschopf, wenn sie sich aufrichtete, soweit es ihr möglich war. Paula stand lange am Zaun und sah ihr zu.
Ihr Garten reichte bis zu der Brücke, unter der smaragdgrün der Bach dahin floss und rauschend seinem Ziel zu trieb. Der Bach rauschte und murmelte.
Er umspülte die Steine und schliff sie weich und rund. Der Bach grüßte scheinbar die Brücke – oder die Brücke den Bach, und auf der Brücke grüßten die Blumen.
Die Frau hatte zwei Blumenkästen an die Brückenpfeiler gestellt. Die Blumen blühten dort etwas mager. Es war sehr heiß. Die Blumen, eine rosa Geranie, ein fleißiges Lieschen, ein wenig Männertreu, zeigten etwas blass ihre Farben, aber sie riefen trotzdem: Wir leben – und das Leben ist schön.
Wir blühen!
Es blühten im Garten vor dem zerfallenen Haus Rittersporn und Katzenminze, Prachtscharte und Sonnenhut und blaue Akelei und Taglilien und Purpurglöckchen in rosa und rot neben den Kartoffeln und den Bohnenstangen und den Tomaten, die noch grün an ihren Staudenzweigen hingen.
Alles durcheinander – und alles etwas bescheiden und ärmlich und alles ungedüngt. Es wuchs, wie der Boden es hergab bei der Alten. Aber jede Blume hatte ihren Wert. Jede wuchs für sich und duftete vor sich hin – und über Paula und der Alten ein blauer Himmel, an dem die Kumuluswolken zogen, eine Nachmittagssonne, die beide Frauen und die Pflanzenwelt in leuchtendes, warmes Licht und den Wald am Hang in schillerndes Grün tauchte.
Sie sprachen beide kein Wort.
Die Frau ignorierte Paulas Anwesenheit.
Sie sah sie nicht an. Sie lief mit gebeugtem Rücken von Blume zu Blume und wieder zurück zum Regenfass. Dahinter, neben dem Fass, war noch ein zweiter, höherer Zaun, und dahinter verborgen noch ein weiterer Garten.
Sie öffnete jetzt das Tor und Paula sah einen Weg, auf dem fünf Gießkannen standen, nebeneinander aufgereiht wie eine Familie: Vater, Mutter und drei Kinder in unterschiedlichen Größen. Sie begann nun mit den kleinen Gießkannen, in denen das Wasser gespeichert war und die sie gerade noch mit ihrem krummen Rücken tragen konnte, den Salat zu gießen und das Saatbeet. Zwischendurch goss sie das Wasser aus den großen Gießkannen vorsichtig in die kleineren um. Dann goss sie auch die Studentenblumen, Löwenmäulchen und Hortensienbüsche, die vereinzelt zwischen allem wuchsen.
Am Rande der Saatbeete war eine Leine gespannt, auf der schneeweiß im lauen Sommerwind die Wäsche flatterte: Hemden, Schlüpfer und Nachtwäsche aus einem anderen Jahrhundert.
Die Uhr blieb stehen. Die Zeit war zurückgedreht.
Paula aber stand am Zaun – und ein Frieden breitete sich aus über dem Garten und über jedem Lebensalter und über ihr und der Frau. Hier wollte Paula verweilen. Hier war Ewigkeit.
Es störten sie nicht die jenseits des Baches vorbei rauschenden Radfahrer. Sie gehörten zu der Ewigkeit dazu. Sie gaben die Musik in diesem Paradies, wie die Hummeln und die Bienen und die unhörbaren Schmetterlinge, die mit ihren Flügeln den Ewigkeitstakt angaben.
Paula war so in Gedanken versunken, dass sie erst daraus erwachte, als die Frau sich gebeugt in ihre Richtung bewegte.
Wollte sie Paula ansprechen? Sie ging so dicht an ihr vorbei, dass sie den Luftzug ihrer Schürze spürte, aber Paula konnte ihr Gesicht nicht erkennen.
Sie trug ihre Blechdose, gefüllt mit kostbarem Wasser, hin zu den Blumenkästen auf der kleinen Brücke und gab jedem Pflänzchen bedächtig und abgewogen so viel, dass es gerade leben und blühen konnte. Dann drehte sie sich wieder um und kehrte zurück.
Doch so ganz ohne Worte wollte Paula sie nicht entlassen. Paula wollte wissen, wo sie wohnte und wie sie lebte und dachte. Sie wollte, dass sie von ihrem Leben erzähle und sprach sie endlich an.
Die Frau schwieg und tat, als hätte sie Paula nicht gehört. Er ist schön, der Garten, hatte Paula zu ihr gesagt. Es ist ein seltener Garten, fügte sie noch hinzu. So bunt, und alles wächst beieinander.
Pflegen Sie den Garten ganz alleine?
Die Worte kamen Paula nur zögernd über die Lippen. Sie störten die Andacht.
Da richtete sich die Frau auf und lächelte.
Wie alt schätzen sie mich? fragte sie.
Paula blickte zum ersten Mal in ihr Gesicht. Über der gebeugten Gestalt sah sie nicht die Furchen und Falten des Alters. Sie sah das Lächeln einer Zwanzigjährigen. Die Frau schien plötzlich ohne Alter zu sein. Ja, sie erschien Paula eher jung und schön wie die Blumen in ihrem Garten. Sie sah das Lächeln ihrer Augen, den Glanz der Sonne und das Staunen und das Glück über die Schönheit der Natur und der Pflanzen in ihrem Garten, über Wachsen und Vergehen.
In diesem Augenblick entdeckte Paula ihren Freund KA, wie er um die Ecke bog, am Birkenhain jenseits des Baches. Er fotografierte, was er in der Welt an Interessantem vorfand, und in der Brusttasche seines Sommerhemds sah Paula das stählerne Band seiner kleinen Kamera blitzen. Sie war ihm vorausgegangen, während er in dem stillen, ländlichen Ort ihres heutigen Sonntagsausfluges nach Motiven suchte. KA näherte sich vorsichtig und blieb dann stehen.
Er bemerkte Paula am Zaun und die Frau im Garten in einer anderen Welt, in die man nicht eindringen durfte, ohne gebeten zu sein, in die man vor allem nicht mit einer Kamera eintreten durfte, ohne den Zauber zu zerstören. Er blieb jenseits des Baches stehen. Nun waren sie zu dritt: die Frau und Paula, und am Rande ihr Freund KA. Zwischen ihnen floss der Bach.
KA hatte später doch noch ein Foto gemacht von dem Garten am Bach, dem zerfallenen Haus, der Wäscheleine und der alten Frau mit dem jungen Gesicht. Sie hatten sich angefreundet.
Oft besuchten sie ab da den bunten Bauerngarten an hellen Sonntagnachmittagen und begrüßten die Frau, wenn sie die Blumen goss. Anschließend saßen sie gemeinsam auf der Gartenbank, ließen sich vom Duft und von den Farben betören und vergaßen die Zeit.
Natur macht uns ewig. Dies empfand jeder auf seine Weise und niemand wagte, es zu sagen. Es gibt heilige Worte, die behält man für sich.
KA schaute durch seine Linse und wollte die Ewigkeit einfangen und festhalten. Paula sog den Duft des Gartens ein, hörte die Hummeln brummen und streckte sich lang auf der Wiese aus. Der Frau genügte es, ihr Werk zu betrachten. Es sprach für sich.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.