Kitabı oku: «Das andere Brot», sayfa 4

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7 WAS, WO UND WARUM

Von Zeiten bewussten Lesens darf also fortan die Rede sein. Denn wessen Zeit und Geschichte vordem im minder Bewussten geblieben, weil sie misslich, verwerflich oder einfach nicht zu verstehen war, dem wird das Ereignis erster wacher Leseerlebnisse umso näher sein, Momente der Bewusstwerdung seiner selbst umso deutlicher im Gedächtnis bleiben um später viele dunkle Stunden und schweigende Nächte zu füllen. Und um wieder erzählt zu werden.

Erzählen war allerdings Georgs Sache damals nicht. Neugierige Frager konnten froh sein, wenn sie überhaupt eine Antwort erhielten, knapp, ungeduldig oder gelangweilt. Das kam erst viel später. Doch kaum berichtete Georg von seiner Schulzeit, noch weniger von vermisster Zuwendung und fehlendem Trost jener Jahre und gar nichts vom Schmerz. Umso wichtiger wurde, was alles im Laufe der Zeit an Büchern ihm unter die Augen kam. Nach mehreren Bänden Joseph Conrad fand sich im Regal des Trafikanten einmal durch Zufall nichts anderes als ein Band Karl May. Dem konnte Georg nicht allzu viel abgewinnen. Ihm gefielen zwar einsame Ritte durch die Prärie, Indianerkämpfe jedoch weit weniger. Sie erinnerten ihn an Kinderspiele, an die Buben seiner Klasse, die derlei unter sich auf den Wiesen hinter dem Dorf ausfochten oder oben am Waldrand. Ihnen war er gern ausgewichen, aus Abscheu vor blutigen Knien und Nasen, vor dummem Geheul und Geschrei.

Gefällt dir das nicht? wunderte sich der Trafikant. Sind doch richtige Bubengeschichten! So kam es, dass Georg mit der Zeit nur mehr Erwachsenenliteratur zu lesen bekam und sehr zufrieden damit war.

Mit dem letzten Tag in der dörflichen Volksschule war die Zeit der Kindheit endlich vorbei. Ein Zeugnis darüber hätte es nicht gebraucht, meinte Georg, wenn ihm jene acht unangenehmen Jahre wieder einmal das Gemüt überschatteten. Doch auch ein solches Zeugnis muss eine Zeit lang aufbewahrt werden, als Dokument und Beweis, dass er überhaupt in dieser Gegend gewesen, hier lesen und schreiben gelernt hat und einiges vielleicht doch dazu. Das alles sogar bestätigt mit Stempel und Unterschrift. Dass er in jenen Jahren Generationen von Kaninchen ernährt und allein versorgt, jeden Grashalm im Garten geschnitten und für seine Kostleute, Herrn und Frau B. als billiger Hausknecht für viele Extrawünsche zuhanden war stand nicht darauf. Zerreißen durfte man dieses Papier dennoch nicht, das wurde dem Halbwüchsigen dringlich ans Herz gelegt.

Andere hatten die Hauptschule besuchen dürfen, die war mehrere Kilometer entfernt. Doch Herr und Frau B. hatten damals gemeint, das sei für Georg nicht nötig, das koste nur Geld, nämlich weil die meisten der Buben dorthin mit einem Wagen gefahren wurden. Und wenn er zu Fuß geht verbraucht er die kostbare Zeit! Dies war das Argument von Frau B. Und womöglich behauptet er später, das sei ihm beschwerlich gewesen. Nein, nein, und was denn nicht noch alles, meinte Frau B. Der Kerl soll lieber im Ort was lernen. Das wird doch genügen. Oder?

Dabei war es geblieben. Der Bertl, ein Hauptschüler, hatte damals mitfahren dürfen, er war älter und in einer höheren Klasse. Georg durfte das nicht. Ist ohnehin noch so klein und so dürr, die Volksschule passt genau zu ihm! Wer tät denn das Hasenfutter daherbringen, das Gras schneiden und alles andere machen? Da lernt er ja auch was dabei, sagte Frau B.

Umständlich faltete Georg also sein Zeugnis zusammen, stopfte es in den Beutel, der seine Habseligkeiten barg und beschloss, es so lange bedeckt zu halten, bis niemand mehr danach fragte. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, damals wie später. Bitterkeiten. Doch wich er gern aus, wenn Frau B. oder irgendein anderer nach seinen Absichten fragte. Frau B. interessierte sich, wie er meinte, ohnedies nicht für seine Ideen. Er wusste, sie hatte andere Sorgen. Sie sorgte sich um den Verbleib ihres Bertl, der sich unlängst erst als Freiwilliger zum Militär gemeldet hatte und sofort genommen worden war. Und jetzt, da er fort war, bangte sie um ihn mehr als um den Verbleib des Herrn B. und war meist auch schweigsam gegenüber dem Kostkind, das ja hoffentlich auch irgendwann erwachsen sein würde und außer Haus. Für Georg fühlte sie sich nicht verantwortlich. Er muss selber schauen, wie er zurechtkommt, meinte sie. Und richtig besehen war er ja wirklich nicht ihr Kind.

Nach einigem Hin und Her kam sie mit manchen vertrauten Leuten aber doch auf Georgs Zukunft und eine mögliche Lehrzeit zu sprechen. In diesem Fall könne er aber bei ihr nicht bleiben, meist seien die Wege zu weit. Der Bub müsse doch selber wissen, was das Beste für ihn sei. Gehst halt in die Fabrik so wie die anderen. Was willst denn sonst machen, meinte sie. Da bleiben kannst net, Geld hast dir a no net verdient. Wenn aner ka Bauer is und kan eigenen Grund hat, ja was denn dann!

Von vielen Seiten hatte Georg davon gehört und mit eigenen Augen gesehen, was gar nicht zu übersehen war: die Menschenschlangen, die alten wie auch die jungen Dorfbewohner und solche wie er, kaum den Kinderschuhen entwachsen. Wie sie bereits in der Morgenfrühe die Straße entlang zogen, alle dieselbe Straße und jeweils immer mehrere zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. In die Fabrik! Am späten Nachmittag erst kehrten ihre Bewegungen sich um. Sie wanderten ins Dorf zurück. Einzeln oder in kleinen Gruppen. Seltsam müde sahen die aus, Georg wollte sie gar nicht zählen; konnte es natürlich auch nicht, weil ihr Tempo wechselte, einer vielleicht einmal schneller war als ein anderer, dann wieder langsamer. Immer jedoch kamen sie auf derselben Straße daher, Fuß vor Fuß. Erst wenn sie in die Wegkreuzung einbogen, die das Dorf in einzelne Teile zerschnitt, lösten die Grüppchen sich auf, verloren die Dorfbewohner sich in den Querstraßen rechts oder links, und jeder wandte sich seiner Heimstatt zu.

Manchmal war Georg sogar extra die steilen Wege hinaufgestiegen, um von oben, vom Waldrand her die ferne Fabrik zu betrachten und diesen Ameisenzug der aus Menschen bestand. Im Sommer die Staubwolke über dem Dorf und der Straße, im Winter die dunkle Spur, die beweglichen Pünktchen. Und das alles auch an diesigen Spätherbsttagen, bis zum Dezember der Schneewind um die knackenden Sträucher pfiff. Immer war Rauch zu sehen gewesen über den Schloten und immer schon hatte Georg gewusst, dass er dort nicht dabei sein wollte, dass er den Weg, der ihm lebenslang schwarz gezeichnet vor Augen stand, nie gehen würde. Ja was denn dann! entrüstete sich Frau B. Glaubst vielleicht, du bist was Besseres? Nein, verteidigte sich Georg, nur halt was anderes. Was anderes? Ja, Bäcker zum Beispiel. Das wär’ was, in einer Backstube arbeiten. Das schon! Da riecht einer das Brot von weitem, da macht man die Semmeln und überhaupt hat das was Feines, da freuen sich alle, wenn sie etwas zu essen kriegen, nachdem sie Staub geschluckt haben auf dem langen Weg von der Fabrik. Dann kaufen sie Brot, am Samstag vielleicht sogar Semmeln.

Was sonst noch in Georgs Gedanken vor sich ging verschwieg er lieber. Man würde ihn doch nicht verstehen, ihn nie für einen der ihren halten, aber das taten sie sowieso nicht. Einer, der Außenseiter ist, einer, der nicht hierher gehört darf nicht allzu viel hoffen. Wofür hielten sie ihn? Für einen Verrückten? Ja, verrückt, so hätte Frau B. ihn genannt, hätte er ihr erzählt, wohin seine Wünsche ihn zogen. Daher beschloss er seine Pläne vorerst noch ruhen zu lassen, doch möglichst bald wegzugehen von dem Ort, hin zu anderen Menschen und anderen Gesprächen, zu anderen Arbeitsmöglichkeiten und anderer Lebensart.

Der scheinbar einfache Weg zum Lehrlingsdasein in einer Bäckerei zeigte sich aber doch schwieriger als gedacht. Zu ihrem Leidwesen musste Frau B. Georgs Suche selbst miterleben, obwohl er gar nicht ihr Sohn war. Und am Ende trug sie zu seinem Erfolg sogar bei als sie da und dort, was sonst nicht ihre Gewohnheit war, für das Kostkind zu reden begann. Sie begleitete Georg zum Arbeitsamt in die nicht weit entfernte Kleinstadt. War er derzeit doch der Einzige, der noch bei ihr lebte. Wenn auch kein Ersatz für den Sohn, ließ sie Georg doch weiterhin im Haus bei sich wohnen. Der Bertl im Krieg, so klagte Frau B. ihren Nachbarn. Und der da, der Georg, kommt in eine Lehr samt Kost und Quartier, dann bin ich sie alle los. Herr B. sei ja auch meist unterwegs, also werde sie ganz allein sein. Sie hoffe jedoch auf ein baldiges Ende des Kriegs, und dass der Bertl gesund nach Hause käme von der östlichen Front.

Vielleicht war ihr nicht ganz wohl bei so manchen Gedanken und insgeheim auch etwas mulmig zumute. Frau B. wollte sich von den Leuten nichts vorwerfen lassen. Sie war keine schlechte Person, das musste sie ihnen beweisen, hörte sich sogar deren Ratschläge an und nahm sich vor, Georg auf seiner Lehrstellensuche wenn nötig sogar zu begleiten, falls tatsächlich einer ihn nehmen wollte, der ihm Kost und Quartier bot. Diese Hoffnung wurde am Ende Wirklichkeit, das Arbeitsamt meldete den Erfolg. Endlich hatte Georg eine Bäckerlehre in Aussicht, zwar nicht in der Umgebung, sondern in einem der ferneren Randbezirke der Großstadt, in die man sich erst einmal umständlich zu begeben hatte.

Für Georg wurde diese Eisenbahnfahrt ein einziges Staunen. Nicht nur die Reise an sich, die Weite der Landschaft hinter den Fenstern, das Eintauchen in ein Unbekanntes, ein Neues. Mehr noch war es das nie gekannte Gefühl einen Menschen neben sich zu haben, der Beistand und Hilfe bot. Die Frau, die als Helferin und Unterstützung jetzt ganz konkret neben ihm saß und da sitzen blieb während der ganzen Fahrt. Die sogar mit ihm redete! Auch das eine ungewohnte, Atem beraubende Situation. Er hätte sich denken können, dass nicht alle Frauen so junge Burschen sich selbst überließen. Frau B., so hatte Georg gemeint, sei früher härter und kälter gewesen. Immer schon hatte sie den Eindruck kühler Distanz in ihm geweckt und stets auch gefestigt. Jetzt aber hatte sie gerade das, was er so sehr für sich gewünscht mit ihm gemeinsam erwirkt, nämlich einen Lehrherrn zu finden für ihn, das Kostkind.

Er betrachtete von der Seite her ihr Profil und konnte es kaum fassen. Sogar die gewohnte Schroffheit schien Frau B. abgelegt zu haben, alles an ihr wirkte milder. Sie redete mit Georg wie mit jedem anderen Menschen, schrie nicht dabei und wies seine Antworten nicht zurecht. Das blieb auch am nächsten Tag so nach einer unbequemen Nacht bei ihrer redefreudigen Schwester. Dort machten die beiden Frauen für Georg ein Nachtlager auf einer Küchenbank zurecht und am nächsten Tag begleitete Frau B. das Kostkind sogar bis in den weit entfernten Außenbezirk der Stadt, wo Georgs künftiger Lehrherr die Ankömmlinge freundlich begrüßte und Georg die Backstube zeigte samt Haus, Hof und Hühnern. Das war kein Großstadtbetrieb. Die Umgebung ähnelte einem Dorf, das so aussah wie andere Dörfer auch, ein Randbezirk abseits der eleganten Welt von Wien.

Fast wia daham, manst net a? sagte Frau B., als sie nach Durchquerung des endlosen Straßengewirrs sich wieder im Zug befanden. Sie versuchte aus Georg, der für eine Weile „mundtot“ neben ihr saß, ein paar Sätze herauszulocken.

Daheim? Meinte sie wirklich … daheim? Irritiert hielt Georg den Atem an. Das war ihm neu, das hätte er nie für möglich gehalten, das hat ihm bisher noch keiner gesagt. Daheim! Herr B. hätte sofort betont, er sei nicht der Vater, Georgs Verbleib im Haus sei nichts als eine Ausnahme der gebotenen Regeln, weil er doch keineswegs zur Familie gehöre. Der Bertl hätte das ebenso betont, wäre er da gewesen. Doch beide waren nun einmal nicht da, deshalb redete die Frau B. ja so anders. Gemäßigt und ohne Geschimpfe, dafür mit Sorgenfalten auf der Stirn und traurigen Augen. Wirst halt bei mir arbeiten bis die Wartezeit um ist, überlegte sie laut, als sie abends im Haus das Nachtmahlbrot auch für Georg zurechtschnitt. Hast ja derweil den Garten, das Gießen, die Hasen, das Holzschneiden draußen im Wald. Und vergiss net die Senkgruben ausheb’n! Wenn sonst ka Mann da ist, wirst halt du diese Arbeit machen müssen.

Warum hab ich keine Mutter? fragte Georg unerwartet und heftig dazwischen. Selber nicht wenig erschrocken über den Mut, der ihm von irgendwo her kam, er wusste nicht wie. Die ungewohnte Lautstärke der eigenen Rede irritierte ihn mächtig.

Frau B. wurde jählings der Nacken steif, als sie langsam ihr Kinn hob. Sie legte das Messer aus der Hand, die eben noch Speck geschnitten hatte und wischte die fettigen Finger an ihrer Schürze ab. So richtete sie ihren Blick gegen Georg. Sunst hast kane Sorgen? stieß sie nach einer Weile hervor, überfragt, wie sie war. Doch mäßigte sie sich gleich wieder, als sie in Georgs blasses Gesicht sah, die schillernde Dunkelheit seines Blicks beharrlich auf sie gerichtet. War eh unlängst erst da gab sie, jäh abgewandt und wiederum mit dem Speck beschäftigt, beinah wie nebenbei zu. So als ginge die Frage sie eigentlich gar nichts an. Da is’ sie g’standen, wo du jetzt stehst, schaust ihr eh ähnlich.

Was? schrie Georg auf. Und warum hab ich sie da net sehen dürfen? Blitzschnell kam diese zweite Frage, ebbte jedoch gleich wieder ab. Leise, beinahe tonlos, folgte die dritte. Wo war denn da i... zu der Zeit?

Gespannt wartete er auf Antwort. Frau B. musste den Speck erst fertig schneiden, sie verteilte ihn auf die beiden Brote, wischte sich wieder die Finger am Schürzenzipf ab und stellte den Tee auf. Du warst grad im Garten und hast Gras g’schnitten. Durchs Verandafenster hat sie dich g’sehn. Hat eine Weile g’schaut und nix g’sagt. Dann is s’ glei wieder weg …

Georg wurde bei dieser Rede ein wenig schlecht. Schnell drehte er sich fort von der Frau, ging in den Garten und in den Keller. Kam erst wieder herauf von den Hasen, als alles schon dunkel war im Haus.

Ab diesem Tag spürte er deutlich weniger Lust freitags in der Trafik nach neuer Lektüre zu fragen. Der Trafikant steckte dem schweigsamen jungen Mann dennoch einiges in die Tasche, das ihn erfreuen musste. Liebesromane, das wusste der umsichtige Mensch, passten vielleicht für Frau B., aber jetzt nicht für Georg. Der kam ihm langsam doch zu erwachsen vor.

Georg arbeitete im und außer dem Haus wie von ihm erwartet. Ohne zu murren und ohne zu fragen, wie und wohin denn der Herr B. verschwunden sei und ob er überhaupt jemals wieder erscheinen würde. Im Krieg war er nicht. Das wusste er ganz genau. Darüber verlor seine Frau auch kein Wort. Das Motorrad, hatte sie anfangs gemeint, sei die Ursache allen Übels. Und dass es da Weiber gebe, die gern bei ihm aufsitzen wollten. Danach sprach sie nie mehr davon. Vom Bertl aber redete sie jeden Tag, und hätte sie jemals einen Brief von ihm bekommen, sie hätte ihn Georg gezeigt. Da war er ganz sicher.

8 IM STURM

Der Krieg hat so manchen Ortsbewohnern das Leben gekostet und den Bertl der Frau B. in seinen kalten Nebeln verschluckt. Vermisst nennt man das, Frau B. erhält Kenntnis davon in einem Schreiben. Dich hat der Krieg verschont und mir den Bertl genommen, klagt sie bitter, und schaut das Kostkind von der Seite her wie ein noch fremderes an. Die Nachbarin meint beschwichtigend, oft kämen die tot Geglaubten ganz unerwartet und fröhlich wieder, warum denn nicht auch der Bertl. Aber Frau B. hat kein Ohr für das was geredet wird, ihr eigenes Gespür sagt ihr alles. Sie kramt ein Foto von Bertl aus ihrem Nachttisch und nadelt es an die Wand, genau über dem Küchentisch.

Der Krieg geht seinem Ende entgegen, sagen die Leute. Die Front rückt näher. Bombengeschwader verunsichern das Land, noch mehr die Stadt. Sogar in abgelegenen Gegenden haben die Menschen Angst. Weiter weg sind Bomben gefallen, doch scheint zumindest keiner aus dem Dorf dadurch zu Tode gekommen zu sein. Oder doch? Der Ort, in dem das Haus der Familie B. steht, wirkt jetzt verlassen, still, windig und leer. Ist jemand hier unterwegs, kann einer in seinen Augen Angst und Trauer erblicken. Der Krieg gibt seine Verwundeten ab in die Lazarette, Vermisste per Brief an die Mütter.

Georg hat seine Bäckerlehre angetreten, mehr als ein halbes Jahr hat er bereits hinter sich, da wird er eines Tages per Post in die Heimatgemeinde beordert. Das Vaterland braucht seine Hilfe. Volkssturm! Der Krieg ist in eine Phase getreten, in der jeder Mann gebraucht wird, auch ein junger, ein alter. Die Lehre ist demnach unterbrochen, die Klassenkameraden im Dorf sind bereits auf der Liste, nur bei Georg dauert es länger weil seine Papiere fehlen. Keine Geburtsurkunde, rein nichts. Also Wartezeit. Jetzt hat Frau B. den Burschen wieder an ihrem Küchentisch sitzen. Der weiß nicht was er tun soll um den Schmerz der Frau B. zu lindern. Fühlt sich unerwünscht in ihrer Nähe und will gleich wieder fort. Wünscht, so wie der Bertl, unauffindbar für sie zu sein um nicht als verschmähter Rest ihrer zerstörten Welt ihr Leid noch zu vergrößern. Doch wäre es wirklich ein Vorteil, würde Georg so wie damals der Bertl, gleich die Einberufung bekommen? Wäre es leichter für die arme Frau, wenn beide Buben vermisst wären oder gar mausetot?

Die Sechzehnjährigen sind jetzt als letztes Aufgebot zur Verteidigung des Landes berufen. Volkssturm nennt man das? fragt sich Frau B. Die Siebzehnjährigen sind längst fort und doch hat keiner gehört, dass die Gefahr für die daheim Gebliebenen durch deren Einsatz verringert worden wäre.

Georg weiß immer noch nicht, ob er auch wie die anderen sechzehn ist oder nicht. Wie es scheint wissen die Behörden es auch nicht. Es werde alles genauestens eruiert, man bitte noch um etwas Geduld, erklärt man ihm und Frau B., die das Kostkind vielleicht schon recht gern aus dem Haus gehabt hätte, oder auch nicht. Das Gewünschte wird in wenigen Tagen vorhanden sein. Georg schämt sich für so viel Aufwand seinetwegen. Er, der nicht einmal wissen darf, an welchem Ort nach welchen Papieren gesucht wird, fragt sich freilich auch, wer die Bestätigung seines Daseins so lange hütet. Gibt es überhaupt einen Nachweis für seine Existenz? Muss die Behörde nur wegen des Volkssturms jetzt alles ausfindig machen oder muss sie vielleicht Papiere neu herstellen lassen, weil irgendetwas nicht stimmt an der Sache, weil nirgends etwas rein gar nicht zu finden ist? Warum weiß denn niemand wann Georg geboren ist? Seine Mutter müsste es doch wissen! Warum fragt sie denn keiner?

Der Bub muss längst das Alter zur Einberufung haben, meinen die Leute. Sei doch ganz gut gewachsen, sehnig und kräftig wie der geworden ist mit den Jahren! Frau B. bleibt Antworten auf solche Reden schuldig, auch sie weiß nicht, wann und wo Georg in diese Welt kam. Aber weiß sie denn wirklich nichts? argwöhnen andere. War nicht vor einiger Zeit ein wildfremdes Auto an ihrem Gartentor stehen geblieben? Ein Auto! Wo doch keiner der Dorfbewohner hier jemals ein Auto gehabt hat? Und ist da nicht eine schlanke schwarzhaarige Frau aus dem schwarz glänzenden Fahrzeug gestiegen, die scheu, wenn nicht verschreckt, um sich geblickt hat? Hat die nicht mit Frau B. dort am Gartentor heimlich getuschelt? Und ist diese Person nicht viel später erst, im Laufschritt der Gartentür der Frau B. entschlüpft …

Georg schaut fröstelnd in den beinah schon entlaubten Garten hinaus. Hat denn da wirklich einer nach seinem Geburtstag gesucht? Nie hat er jemals Geburtstag gehabt. Andere haben so etwas jedes Jahr. Für ihn ist ein Geburtstag nie denkbar gewesen, nur der Bertl hat den seinen jährlich gefeiert und noch dazu ein Geschenk bekommen. Gibt man einem Kostkind seine Dokumente vielleicht deshalb nicht in die Hand, damit man sich zusätzliche Gaben an ihn erspart? Oder weil dabei Fürchterliches zu Tage käme? Doch egal, was geschrieben steht in solchen Papieren, von Georg werden sie dringlicher erwartet mit jedem Tag, in jedem Fall sind sie wünschenswert.

Mit zwiespältigen Gefühlen zählt Georg Tage und Wochen, die er im Haus der Frau B. verbringt. Sie meint, für das Kämpfen sei er sowieso viel zu jung. Zu jung, um schon ein Mann zu sein. Der Bertl ja! Der sei einer gewesen. Wieso, verteidigt sich Georg, wieso bin ich kein Mann? Er ist in dem letzten Jahr wieder ein Stück gewachsen, sieht sauber gewaschen aus. Frau B. blickt ihm nach, wenn er aus und ein geht bei ihr und wischt sich immer wieder die Augen. Wegen Bertl muss sie weinen, nicht wegen Georg. Das wissen die Nachbarin und alle anderen Dorfbewohner auch. Sie betrachten Georg scheu und nie ohne Nachdenklichkeit. Jetzt geht er bald fort. Wird ja vermutlich auch bereits sechzehn sein.

In Wahrheit ist das ein längst verlorener Krieg, klagen die Nachbarn. Dass dieser auch mit Georg und seinen Altersgenossen keineswegs zu gewinnen sein kann, haben alle begriffen. Die Burschen sind herausgeholt worden aus ihren Nestern und so, wie sie da standen, begutachtet, registriert. Der Volkssturm hat alle Sechzehnjährigen mit sich gezogen und zögert so lang nur bei Georg. Bis endlich einer der wichtigen Männer der Dorfgemeinde in der Amtsstube ihm alles Nötige überreicht. Mit der trockenen Erklärung, die vorliegenden Papiere seien ab nun die seinen.

Georg schämt sich für seine Aufregung, seine Hilflosigkeit. Sein Herz klopft wie wild. Da, deine Geburtsurkunde! sagt der Mann. Du bist zwar erst fünfzehn, aber bald wirst du sechzehn sein. Du freust dich doch, dass du jetzt Dokumente hast wie alle anderen? Weißt ab nun, wer du bist und woher du kommst, wann geboren und wo, und auch, wo du jetzt hingehörst. Kannst also ruhig zum Volkssturm gehen. Das sagt er launig und drückt Georg die kostbaren Papiere in die schweißnasse Hand. Hat einige Zeit gedauert und eine Menge Arbeit gemacht, fügt er hinzu. War nicht einfach, das zu bekommen. Deine Heimat ist nämlich nicht dieser Ort, sondern ein anderer.

Was? Laut aufschreien darf Georg hier nicht, nur erschrocken ist er. Nimmt seine Stimme gleich wieder zurück. Und wo …? Er greift nach einer Stuhllehne, die in Reichweite steht, um sich festzuhalten, fühlt sich elend und ziemlich getroffen. Wo … gehöre ich hin?

Das steht’s eh g’schrieben, lacht der Mann, schaut in eine aufgeschlagene Mappe und wird fast ein wenig verlegen dabei. Wirst es gleich selber lesen. Darauf weiß Georg nichts zu sagen. Was denn auch. Wenn anderswo sein Wohnort ist, wieso steht er dann hier? Die Papiere zittern in seiner Hand, er fürchtet sich sie vor die Augen zu heben. Und was, wenn hier behauptet wird, er ist gar nicht der, für den er sich hält? Immerhin, zumindest der Name stimmt. Georg. Der andere Name auch. Und da steht …, wahrhaftig! Da steht auch der Name einer Frau, vermutlich derjenigen, die ihn geboren hat. Röte steigt auf in Georgs Gesicht, in die Augen. Schwach werden ihm Hand und Knie. Stehend liest er den Namen der Frau, die ihn nicht so wie der Märchenstorch mit dem Schnabel gebracht, sondern mit Menschenhänden irgendwo hingelegt und dort einfach liegen gelassen hat. Sie selber ist fortgegangen. Irgendwohin. Sein Geburtsort ist die Stadt, dieselbe, aus der er eben gekommen ist, wo er als Lehrling gewerkt und gewohnt hat. Gehört er … dorthin …?

Nein, dorthin auch nicht. Georg kann nicht lachen, obwohl der Mann an dem Schreibtisch ihm schelmisch zuzwinkert. Hierher gehört er nicht, dorthin auch nicht. Doch er hat eine Mutter, hier steht sogar der Name der Frau, die er nicht kennt. Nie gesehen, sagt er dem Mann vor ihm. Nein wirklich nie! Ein Vater freilich, ist auf dem Papier nicht dokumentiert, auch nicht zu finden gewesen, denn in dieser leeren Zeile – er starrt sie immer noch an – da steht überhaupt nichts …, nichts als ein Strich. Das würde er sich von jetzt ab merken müssen und nie vergessen. Ein Strich für den Vater …

Das Papier entgleitet der erstarrten Hand, die es halten sollte. Georg bückt sich, es aufzuheben. Dabei wird ihm schwindlig und schlecht zum Erbrechen. Der Amtsträger ist auf einen so seltsamen Fall nicht vorbereitet, ihm ist bei der Sache ja auch nicht besonders wohl. Und weil seine Scherze nicht ankommen bei Georg und ihm jetzt auch nichts mehr einfällt, weist er der Einfachheit halber den Burschen auf die Straße hinaus. Und aufpassen solle er auf die Papiere, nur ja nichts verlieren!

Georg stolpert ins Freie. Er taumelt ein wenig, dann atmet er die schlechte Luft aus seinem Inneren aus und setzt sich in Bewegung. Bisher war auf die Fragen der Leute, wie alt er denn sei, immer nur ein verschämtes Achselzucken möglich gewesen. Manche hatten die hinterhältige Frage sogar wiederholt, wenn er rot wurde, zögerte und schnell kehrt machte, um davonzulaufen. Ab nun würde das anders sein. Kaum zu glauben, dass da ein Geburtsdatum steht und überall sein Name vermerkt ist. Da! Eines der Blätter trägt die Überschrift „Taufschein“. Georg nimmt sich vor zu fragen, was eigentlich damit bescheinigt ist. Was eine Taufe denn sei und wozu sie gut ist. Dieses Wort und was daran wichtig ist hat ihm der Mensch in der Amtsstube nicht erklärt. Georg will es wissen und weiß nicht, wen er fragen kann ohne Gelächter, Hohn oder andere Ärgernisse zu ernten.

Das Papierbündel hält er jetzt, freier atmend, ganz fest in der Hand. Die zittert zwar noch, doch was seine Finger festhalten wollen, das halten sie fest. Daran rüttelt vergeblich der Wind, die Finger bleiben gehorsam. Da steht ja sehr genau sein Geburtstag, sein tatsächliches Alter lässt sich also nachrechnen. Nichts, denkt Georg, rein gar nichts von diesen Papieren darf jetzt davonfliegen.

*

Nur ungern erzählt er später diese Geschichte, und auch nur dann, wenn es dem Frager ein glaubhaftes Anliegen ist. Die Sätze kommen sehr kurz aus seinem Mund, nervös und kaum je ohne Zigarette.

Was habt ihr beim Volkssturm denn gemacht? In einer vorgerückten Stunde wird Georg gefragt. War der Krieg nicht schon aus, als ihr, das letzte Aufgebot, knapp vor dem Ende des Ganzen, als halbe Kinder hinauszogt, vermutlich ohne Waffe in euren bibbernden Händen?

Ach Waffen! meint Georg abschätzig. Die hätten wir sowieso nicht gebrauchen können, wie denn auch und wozu. Für Waffenausbildung war keine Zeit. Und Waffen waren ja gar nicht mehr da zum Schluss, weil alles weg oder einfach an einen anderen Ort gebracht worden war. Abtransportiert. Wie hätten denn wir … und wo …

Nach und nach erst entsteht nach Georgs Erzählung ein halbwegs fassbares Bild. In die Gegend von Linz habe man am Schluss diese Burschen verschoben. Dort gab es noch deutsches Militär, dort wurde ab und zu noch geschossen. Nein, er war noch nicht sechzehn als er hat weggehen müssen, er war damals erst fünfzehn. Doch behielten sie ihn und andere Fünfzehnjährige auch, eine lose Gruppe von unausgebildeten Buben. Bis sie sechzehn waren und danach noch die Monate bis zum Ende. Aber doch Monate, die ihr bis Kriegsende beim Volkssturm verbracht habt! Wo denn, um Himmels Willen, seid ihr vorher gewesen und was habt ihr gemacht? Georg weiß es nicht mehr. Aber er muss doch Erinnerungen haben?

Nein, keine Erinnerungen! Ob und wann der Krieg aus war oder nicht, auch das teilte man den Burschen in jenem Frühjahr nicht mit. Doch kann der Krieg nicht zu Ende gewesen sein, versucht Georg zu rekonstruieren, sonst hätten ja die Leute von der Wehrmacht bei Linz nicht geschossen. Die wenigen noch vorhandenen Waffen haben ältere Volkssturmmänner bekommen. Nicht wir, sondern Leute, die damit umgehen konnten, sagt Georg. Für seinesgleichen sei tatsächlich nichts übrig gewesen. Am Ende nicht einmal mehr Verpflegung.

Aber Handgranaten für die feindlichen Panzer, die müssten doch dagewesen sein? Ja, die seien da gewesen, für eine Ausbildung der Volkssturmleute war aber keine Zeit, keine Möglichkeit. Waren doch nicht einmal mehr die Ausbildner da und die nötige Motivation der Burschen erst recht nicht. Angst ja, die habe jeder gehabt. Und Hunger. Sonst nicht viel, kaum ein gekochtes Essen. Am Ende seien die meisten deshalb davongelaufen. Die Lebensmittel waren weggeschafft worden, durften dem Feind nicht in die Hände fallen. Ja, das haben die uns gesagt. Aufgeladen auf Lastwagen und einfach fort. Deswegen auch die vielen Streitereien, ganz fürchterlich hätten die Vorgesetzten einander beschimpft.

Wie? Es wurde dort nicht gekämpft? O doch! Doch! erinnert sich Georg. Das Ärgste war ja der Lärm, nur wer geschossen hat, war nie ganz klar. Irgendwann hat dann einer gesagt, wer noch vor Ort sei von den Jungen, der müsse jetzt nach Mauthausen, das müsse man noch … und so. Man bräuchte vielleicht dort Helfer. Warum dort Hilfe so nötig war, wer oder was uns Grünschnäbel dort erwartet hätte, wurde nicht mitgeteilt. Marschieren sollten wir. Los!

Also sind wir gegangen, erzählt Georg. Bleiben konnten wir nicht. Wir waren ja nicht mehr viele. Unterwegs haben manche gewarnt. Nur nicht hinein nach Mauthausen, wer weiß, was dort los ist! Manche haben etwas gewusst, aber nicht gesagt, worum es sich handelte, wir anderen ahnten damals ja nichts. Die meisten sind fortgerannt aus Angst, gefangen genommen zu werden. Aus Not, aus Hunger und Ungewissheit sind sie einfach fort. Am Ende waren wir nur mehr fünf oder sechs und auch keine Aufsicht mehr da. Nur der Hunger. Da sind wir auch weg und schnellstens davon …

Ja was denn! Wohin seid ihr denn da gelaufen? Georg nestelt an seiner Zigarette. Das hätten wir natürlich nicht dürfen, aber da war eine Küche dort in der Nähe, man hat es ja weithin gerochen und wir waren so hungrig! Und wenn das die Amerikaner sind? hat einer gefragt. Das war uns egal. War ja auch wirklich egal! Was? Amerikaner? Ja freilich. Aber was macht das schon, wenn der Magen so fürchterlich leer ist. Entgegen gerannt sind wir denen, so schnell wir konnten. Den Amerikanern? Ja, den Amerikanern! Rauch ist dort aufgestiegen und Essensgeruch. Wir sind von der Straße ab und gleich über den Graben gesprungen, ohne zu überlegen. Über die Wiesen hinauf gerannt bis zu den Bäumen, es musste ja alles sehr schnell sein. Wäre ein Vorgesetzter dabei gewesen, er hätte uns alle erschießen müssen und vielleicht auch tatsächlich erschossen.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
301 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783903229259
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
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