Kitabı oku: «Theke, Antitheke, Syntheke», sayfa 4
Freitag, 24. Jänner
in der Sauren Wiese
Hans und ich waren die Ersten. Wir hatten dem Wetter nicht so recht getraut und waren zu Fuß gegangen. Dann kam der Knochenbrecher mit seinem Mustang daher. Seinen Dragoner hatte er diesmal mitgebracht. Im Laufe der nächsten halben Stunde waren wir vollzählig.
Hans hatte in der letzten Woche einen runden Geburtstag gefeiert. Er gab eine Runde für alle aus. Großes Hallo! Der Knochenbrecher ergriff das Wort und sprach ein paar nette Worte über Hans, den er „unseren lieben Opa“ nannte, weil Hans mit seinen weiß-grauen Haaren unübersehbar der Älteste von uns war.
Hans ging zum Wurlitzer. Er war ein Anhänger der Old School. Für ihn hörte gute Musik nach 1969 auf. Uns war das egal, denn in der Musikbox befanden sich seit Jahren nur noch Platten, die wir hören wollten.
Hans startete den Abend mit Brian Highlands „Itsy Bitsy Teenie Weenie“, dann folgten „Cathy’s Clown“ von den Everly Brothers und „Hello Mary Lou“ von Ricky Nelson. Da durfte Jane nicht fehlen mit ihren traurigen Liedern. Sie ließ zum gefühlten hundertsten Mal Roy Orbisons „Only the lonely“ erklingen und sang mit. Sie sang immer mit, wenn es sich um einen Depresso-Text handelte.
„Only the lonely
Know the way I feel tonight
Only the lonely
Know this feeling ain’t right …“
Hans und ich waren an diesem Abend auf dem Ideologietrip. Wir hatten Bücher über Nationalsozialismus, Kommunismus und Islamismus mitgenommen und diskutierten, wer schon was gelesen hat, und welches Buch interessant oder uninteressant sei.
Che, der als braver Katholik, angeblich geläuterter Altkommunist und neugeborener Sozialdemokrat an dem Thema immer interessiert war, kam zu uns. Irgendwann tauchte auch Pasak auf und beteiligte sich an unserem Palaver.
Ich kann mich nicht mehr an alle Gesprächsdetails erinnern, es ging jedenfalls um die Krise der Ideologien.
Ich vertrat die Meinung, dass die westliche Kultur seit Jahren eine Krise ideologischer und dogmatischer Glaubenssysteme erlebt. Das Ansehen von Organisationen, die uns früher Antworten auf die Fragen der Zeit gaben, vor allem aber einen Glauben an einen „neuen Menschen“ und eine neue Gesellschaft, ist bei den intellektuellen Eliten der Industriegesellschaften auf einen Tiefstand gefallen. Utopien handeln in den entwickelten Gesellschaften von individuellem Wohlergehen, nicht von gesellschaftlicher Veränderung: Cash-Flow statt Klassenbewusstsein, Disco statt Diskussion, Feng-Shui statt Mao Tse-tung. Die Wurzeln für diese Veränderungen liegen nicht nur im Versagen der Ideologien der letzten Jahrzehnte, sondern auch in der anhaltenden naturwissenschaftlichen Revolution, in der wir uns seit über drei Jahrhunderten befinden.
Die meisten gaben mir nicht recht. Sie hassten meine Vorliebe für Naturwissenschaften, aber ich ließ nicht locker und holte zu einem Rundumschlag aus.
Ein längst entmutigter Idealismus macht einem modernen Realismus auch deswegen Platz, weil wir durch die Entwicklung der Naturwissenschaften besser als je zuvor über die biologisch fundierten Wesenszüge der Menschheit Bescheid wissen. Ich hatte nebenbei in meinen Büchern herumgesucht und schließlich das Kapitel „Bunte Weltbilder für Blinde“ gefunden. Ich las vor:
Der Siegeszug der Naturwissenschaften, der im 17. Jahrhundert in Italien begann, beseitigte zeitverzögert, aber radikaler als es irgendeine Philosophie jemals vermochte, der Reihe nach alte Weltbilder. Ein Ende der Entwicklung ist noch nicht in Sicht, denn die Biologie dringt zurzeit immer tiefer in das menschliche Erbgut und in die Strukturen unseres Gehirns ein. Nichts wird so sein, wie es früher war. Rückzugsgefechte einiger weniger Geisteskrieger, die unbeirrt gegen die Wissenschaften anzugehen versuchen, erregen nur noch Mitleid.
Wer nun glaubt, diese Entwicklung werde die Menschheit in eine Sinnkrise und damit in die Vernichtung treiben, liegt falsch. Die Menschen werden sich in ihrer Art und Weise, miteinander umzugehen und sich zu lieben und zu hassen, in der Zukunft kaum ändern. Niemand geht ein Risiko ein, wenn er die Voraussage wagt, dass im 21. Jahrhundert neben Eintracht und Versöhnung weiterhin auch Dummheit, Fanatismus, Arroganz und Verbrechen zum Repertoire des menschlichen Verhaltens zählen werden.
Pasak, Pumpe, Che, Fat Lot und der Knochenbrecher verschwanden. Der Text war ihnen zu langweilig geworden. Nur noch Jane und Dragoner, die zu mir an die Theke gekommen waren, hörten zu.
Die Serie geistiger Reformen durch die modernen Naturwissenschaften begann mit der Verdrängung der Erde aus dem Mittelpunkt des Universums und reicht bis zum Sturz des Menschen vom Podest seiner Einzigartigkeit. Die meisten Umwälzungen erfolgten gegen die erfolglosen Proteste der jeweils herrschenden Ideologen, Philosophen und Theologen. Heute wissen wir, dass die Probleme der Zukunft rational und ohne Ideologie gelöst werden müssen. Paradoxerweise geht das nicht ohne den irrationalen Glauben an diese Lösbarkeit.
Ideologien haben genauso ihre Geschichte wie wissenschaftliche Theorien. Theorien müssen grundsätzlich überprüfbar sein. Ideologien sind dagegen nicht beweisbar, sie entspringen erfahrungsgemäß einer Gefühlswelt.
Da der Ursprung der faschistischen Ideologie nur wenigen Jugendlichen bekannt ist, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Der Faschismus im engeren Sinn ist die Bezeichnung der politischen Bewegung, die unter Mussolini 1922 in Italien die Macht übernahm. Die „Fasci di combattimento“ waren ursprünglich eine Kampftruppe, wobei der Begriff „fasci“ vom lateinischen Wort „fasces“ abgeleitet ist. Die fasces waren Rutenbündel mit herausragendem Beil. Sie wurden hohen römischen Beamten als Zeichen der Macht vorangetragen. Ab 1926 war das Rutenbündel in Italien offizielles staatliches Symbol.
In Deutschland nahm der Nationalismus, und in der Folge der Nationalsozialismus an Stärke zu, nachdem man das Friedensdiktat von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg als tiefe Kränkung empfunden hatte. Die Siegermächte hatten den Fehler begangen, die besiegten Länder unmäßig zu demütigen. In Italien war die Frustration nicht minder gering. Dort hatte man sich nach dem Ersten Weltkrieg ein italienisches Reich rund um die Adria, das „mare nostro“, erhofft. Stattdessen bekam Italien nur kleine Regionen wie Südtirol, Triest, das Kanaltal oder Istrien als Beute.
Dieser magere Ertrag hat dem italienischen Faschismus Nahrung gegeben. Während der Nationalsozialismus das Germanentum und den „rassenreinen“ Menschen zum Mythos erhob, pflegten die Faschisten den Traum vom römischen Weltreich. Der Wahlspruch der italienischen Faschisten beschreibt ihre Geisteshaltung: Credere (glauben), ubbidire (gehorchen) und combattere (kämpfen).
Als Pasak und Che die Worte Nationalsozialismus und Faschismus hörten, kamen sie wieder angetanzt. Auch Pumpe kam an die Theke. Alle drei zeigten immer dann reges Interesse, wenn es um diese Ideologien ging. Ich wusste damals noch nicht, dass das mit ihren dunklen Vergangenheiten zu tun hatte.
Che fragte mich, ob ich auch etwas über den Kommunismus zum Besten geben könnte. Ich blätterte um, nickte kurz und setzte meinen Vortrag fort.
1936 fand in Moskau ein „Komintern“-Kongress statt. Dort setzte sich der Ausdruck „Faschisten“ als Schimpfwort für alle politischen Menschen außerhalb des Kommunismus durch, denn Stalin befürchtete, dass es zu einer allmählichen Verwechslung der Begriffe „Sozialismus“ (als Vorstufe des Kommunismus) und „Nationalsozialismus“ kommen könnte. Außerdem war letztere Bezeichnung für Russen schwer auszusprechen. „Antifaschisten“ sind also – historisch betrachtet – keine Demokraten, sondern Kommunisten.
Es entspann sich eine rege Debatte darüber, welche Ideologie die schlimmere sei. Ich vertrat die Meinung, dass es in einer Zeit, in der uns tagtäglich Polit-Phrasen um die Ohren geschlagen werden, wichtig ist, der Jugend die Prinzipien unserer freien Gesellschaft deutlich darzulegen. Letztlich geht es darum, dass alle Menschen ihren Geschäften in Frieden nachgehen und alles denken, sagen und schreiben dürfen, solange andere nicht geschädigt, beleidigt oder gedemütigt werden. Ich wiederholte auch eine der Regeln unseres Rudels, wonach man Gesetze brechen dürfe, niemals aber die Regeln des Rudels.
Jane und der Knochenbrecherstimmten mir zu. Pasak rang sich immerhin ein „interessant“ ab.
Die Gespräche verflachten, der Lallfaktor nahm zu. Fat Lot versuchte mehrmals, mich vom Sinn oder Unsinn des Lebens zu überzeugen. Was er genau meinte, wusste ich nicht, denn das meiste, was er sagte, ging in einem unverständlichen Gestammel unter.
Jane, Hans, Pumpe und ich waren die Einzigen, die noch halbwegs nüchtern waren. Es war schon weit nach Mitternacht, als Hans zum Wurlitzer ging und John Laytons „Remember me“ herausholte. Es ist ein sehr trauriges Lied aus den Sechzigern, in dem es um einen Kontakt zu einer Toten geht.
Hans holte ein Buch von unten nach oben, blätterte kurz herum und verkündete, dass er nun einen Vortrag zum Thema „Nüchtern betrachtet war es besoffen besser“ halten würde. Er begann zu lesen.
Die Wurzeln der Alkoholsucht liegen nicht nur in unserer Gesellschaft. Sie gehen weiter zurück. Bereits Stammvater Noah, der Erbauer der legendären Arche, war ein Komasäufer (Genesis 9, 21), der sich im Rausch danebenbenommen hat. Auch Alexander der Große war ein Schluckspecht. Nach Meinung einiger Historiker hat er sich zu Tode gesoffen. Bei der Suche nach den ersten Drogensüchtigen und Alkoholikern landen wir aber nicht beim Menschen, sondern im Tierreich.
Auf Madagaskar gibt es eine Halbaffenart, den Mohrenmaki. Diese putzigen Kerle schnappen sich gierig jeden Tausendfüßer, den sie kriegen können und kneten ihn. Das schadet dem Tausendfüßer nicht, aber er versprüht zur Abwehr ein zyanidhaltiges Gift, das sich die Affen ins Fell reiben, um damit Parasiten wie Mücken und Milben zu töten. Gleichzeitig hat das Gift eine berauschende Wirkung. Die Makis beginnen zu torkeln und greifen mit ihren Armen ins Leere. Sie sabbern aus ihrem halb geöffneten Maul, und die geschwollenen Augenlider gehen auf Halbmast. Nach jeder Tausendfüßerdröhnung sehen die Kerle aus, als ob sie tagelang durchgesoffen hätten.
Saint Kitts ist eine kleine Insel, die früher Saint Christopher hieß. Die Vulkaninsel hat fünfundvierzigtausend Einwohner und liegt rund zweitausend Kilometer südöstlich von Miami. In früheren Jahrhunderten kamen mit den Sklavenschiffen auch grüne Meerkatzen an, die in Afrika südlich der Sahara weit verbreitet sind. Seither gibt es auch in der Karibik Kolonien dieser graugrün gefärbten Affenart. Irgendwann machten diese Tiere Bekanntschaft mit dem Alkohol, seither plündern sie regelmäßig die Strandbars. Biologen studierten dieses Verhalten, dabei wurden erstaunliche Parallelen zu den Menschen gefunden. Ein bestimmter Prozentsatz der Affen lehnt Alkohol ab. Diese Abstinenzler trinken nur Wasser und Fruchtsäfte. Andere Affen trinken gelegentlich Alkohol, aber 12 % trinken regelmäßig, und 5 % sind Kampftrinker. Sie schütten am Strand jedes unbewachte Glas Wein oder Rum in sich hinein, bis sie bewusstlos umfallen. Die prozentuellen Verteilungen der äffischen Trinkgewohnheiten entsprechen ungefähr den Zahlen in menschlichen Gesellschaften.
Blues und die anderen, die zugehört hatten, lachten kreischend. Einer rief „Prost, ihr besoffenen Affen“ in die Runde. Und wieder lachten alle.
Es wurde langsam Zeit zu gehen. Ich ließ mir von Blues das Thekenbuch geben und schrieb hinein: „Kein Alkohol am Steuer! Ein kleines Schlagloch, und man verschüttet alles!“
Hans schrieb darunter: „Realität ist nur eine Illusion, die durch Alkoholmangel hervorgerufen wird.“ Die anderen schrieben nichts darunter, aber als ich umblätterte, klebte da schon wieder ein Zettel mit einem Text, der mit einer Schreibmaschine getippt war. Darauf stand in roten Buchstaben: „Mori est felicis, antequam mortem invoces.“ (Glücklich ist, wer stirbt, bevor er den Tod herbeiruft.) Der Zettel war wiederum mit „Teras“ unterschrieben.
Als ich laut in die Runde fragte, ob jemand eine Schreibmaschine besitze, bekam ich nur Sätze zur Antwort wie „Schreibmaschine, was ist das?“ oder „Frag Hans, der hat noch eine aus der Zwischenkriegszeit.“
Ich war müde, holte meinen Mantel, ließ wie immer anschreiben und ging. Hans folgte mir. „Hast du eine Ahnung, wer der Todesfreak ist?“, fragte ich ihn. Hans hatte auch keine Ahnung. Er meinte, es müsse ja keiner von uns sein. Ich grübelte noch eine Zeitlang auf dem Weg nach Hause, aber es ergab keinen Sinn. Wenn es ein Hilferuf einer armen Seele war, war jedes Grübeln sinnlos.
Freitag, 31. Jänner
in der Hopfenklause
Wir waren in die Hopfenklause gefahren. Che mit seinem Bulli, Hans mit dem Honda-Roller, ich mit meiner Suzuki. Die Kälte störte uns nicht, es waren ja weniger als zwanzig Kilometer.
Charly erzählte wieder einmal von seinen Rettungseinsätzen. Kaum jemand hörte zu. Am Ende fragte er so laut, dass es alle hören konnten: „Was mache ich, wenn ich im Urwald eine Schlage sehe? Na? Na? Wenn ich im Urwald eine Schlange sehe, stell ich mich hinten an. HAHAHAA!“
Hans rollte mit den Augen: „In all den Jahren, die ich ihn kenne, hat nie jemand seine Intelligenz in Frage gestellt. Wenn ich es mir recht überlege, hat sie eigentlich nie jemand erwähnt.“
Charly war nicht zu bremsen: „Jetzt, wo ich den Feuerlöscher an der Wand sehe, fällt mir ein irrer Rettungseinsatz ein. Da wollte eine Gruppe Jugendlicher einmal eine Schaumparty machen, und zwar mit Hilfe eines Feuerlöschers. Ein Kerl hat den Löscher aktiviert, aber da kam kein Schaum heraus, sondern ein Pulver, und das mit hohem Druck. Er hat seiner sechzehnjährigen Freundin das Pulver ins Gesicht gejagt. Als wir gekommen sind, hatte die Tussi das Pulver in Mund und Nase und war fast erstickt und ihre Augen haben auch etwas abgekriegt. Ich habe …“
„Jaaa, ist ja gut“, warf ich ein, „wir kennen die Geschichte. Du hast sie schon zweimal erzählt.“ „Dreimal“, korrigierte Hans „Geschwätzigkeit ist keine Schande. Hauptsache man hält den Mund dabei“, ergänzte Hans und fügte an, er werde gleich wieder kommen. „Ich hole nur meine Bücher.“
Pasak, der Meister der sozialen Aufdringlichkeit, wollte mich aufheitern und fragte mich: „Kann es sein, dass du dich in deinem Körper irgendwie unwohl fühlst?“
Ich blätterte weiter.
„Wer, glaubst du, ist von dir enttäuscht?“
Ich blätterte immer noch weiter und wurde langsam ärgerlich: „Ich bin einfach müde. Ich hasse den dunklen Jänner. Kein Advent, kein Weihnachten. Nur Kälte und blöde Sprüche.“
Der Knochenbrecher mischte sich ein und gab Pasak zu verstehen, er solle mich in Ruhe lassen.
Hans kam mit ein paar Büchern unter dem Arm herein und knallte sie auf die Theke. Pasak räumte seinen Gummi weg und machte eine unpassende Bemerkung über Janes Venushügel.
Das war sogar mir zu weit unten: „Bullshit, Jane. Weißt du, das hat der liebe Gott nicht gut gemacht. Allen Dingen hat er Grenzen gesetzt, nur nicht der Geilheit.“
Che gefiel der Ausdruck Bullshit, und er prostete Block Jane zu: „Rudi ist bloß sauer, weil du schön bist, er aber nicht“, meinte er augenzwinkernd.
Ich legte nach: „Schönheit ist nur oberflächlich, aber Geilheit geht durch und durch.“
Irgendwie waren wir an diesem Abend alle nicht gut drauf.
Jane kündigte an, demnächst auch mit Büchern und Zeitschriften erscheinen zu wollen, denn der „Klugschiss der alten weißen Männer“, wie sie es nannte, nervte sie. Junge Themen müssen her. Pasaks Frage, ob es sich um Pornohefte handelt, überhörte Block Jane wie fast alle seiner Anspielungen.
„Die attraktiven Weiber tragen schon schwer an den hässlichen geilen Böcken“, sagte irgendwer. Pasak konterte: „Dafür sind wir Männer für fast 100 % aller Entdeckungen und Erfindungen zuständig.“ Das wiederum passte Jane nicht. „Blödsinn. Die Gentechnik haben die Frauen erfunden. Diese Französin, wie heißt sie doch gleich, hat etwas Gentechnisches erfunden. Es würde mich nicht wundern, wenn die halbe Genetik von Frauen kommt.“
„Charpentier“, sagte ich, „so heißt sie, aber sie hat nicht die Gentechnik erfunden, sondern eine neue Technik namens CRISPR. In ein paar Jahren wird sie dafür den Nobelpreis bekommen, wie ich vermute, aber an der Entwicklung der Genetik und Gentechnik waren wirklich nur Männer beteiligt.“
„Wissenschaft ist langweilig“, sagte Jane mit Augenrollen.
Ich fischte das Buch „Wissensgeschwüre“ aus dem Stapel heraus, den Hans mitgebracht hatte, blätterte herum und sagte, es stimme nicht, dass Wissenschaftler langweilig sind. Ich begann zu dozieren. Alle Umstehenden lachten, als ich meinen Zeigefinger erhob. „Prost auf den Erklärbär!“, rief Fat Lot und mampfte dabei an seinem Hamburger. Es war schon der dritte heute Abend.
Ich las abwechselnd quer und referierte dazwischen frei:
Der Biochemiker James Watson war an der Aufklärung der Struktur der Desoxyribonukleinsäure wesentlich beteiligt. Watson stammt aus Chicago, promovierte an der Universität Indiana und wurde Mitglied der Fakultät der Harvard University in Boston. Später arbeitete er zusammen mit dem englischen Biophysiker Francis Crick am Cavendish-Labor der Universität Cambridge in England.
„Jaja“, warf Pumpe ein, „ist ja gut, aber es wird dir nicht gelingen, einen einzigen Witzbold unter den Wissenschaftlern zu nennen.“
Damit lief er mir ins offene Messer. Ich nahm einen tiefen Schluck. Nur die Hälfte der Anwesenden hörte noch zu, aber das war mir egal.
Der schrägste aller Wissenschaftsvögel war Dick Feynman. Er studierte am Massachusetts Institute of Technology sowie an der Princeton University. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe. Später wurde er Professor am California Institute of Technology. Feynman erhielt wegen seiner bahnbrechenden Arbeiten zur „Quantenelektrodynamik“ gemeinsam mit zwei anderen Physikern den Nobelpreis für Physik. Feynman spielte auch eine führende Rolle bei der Kommission, welche 1986 die Explosion der Raumfähre Challenger untersuchte.
Noch weniger hörten zu. Hans blätterte in einem seiner Bücher. Der Knochenbrecher kam herüber zur Theke und hörte mir zu. „Aus Mitleid“, wie er trocken anmerkte.
James Watson war auch ein Schlitzohr. Die Nobelpreisträger Watson und Feynman sind immer das geblieben, was man am ehesten als Rotzbuben bezeichnen kann. Die New York Times nannte Feynman den brillantesten, respektlosesten und einflussreichsten Physiker der Nachkriegszeit. Beide Nobelpreisträger haben Bücher geschrieben. In beiden Büchern wird der Betrieb rund um die Forschung in frecher Weise beschrieben. Auf ungewohnt offene Art zertrümmerten beide Männer den Mythos von den vergeistigten Arbeitern im muffigen Labor.
Jane bestellte einen Welschriesling, und Fat Lot spielte den Gelangweilten. Mein Vortrag war ihnen zu fad. Ich blätterte weiter, da hellte sich mein Gesicht auf. Ich fuhr mit erhobener Stimme fort, denn ich hatte jetzt etwas Lustiges gefunden. Als ich verkündete, dass nun eine Geschichte über einen Nobelpreisträger käme, der von der US-Army für geisteskrank erklärt worden war, hörten alle zu.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges benötigten die USA zusätzlich Soldaten für die Besatzungsarmeen in Europa. Die US-Army kratzte im Sommer 1945 alles zusammen, was sie bekommen konnte, und holte die jungen Männer zur Musterung. Auch ein gewisser Richard Feynman ging durch die medizinische Diagnosestraße, um am Ende am Schreibtisch eines Psychiaters zu landen.
Nach anfänglich harmlosen Fragen wurde das Gesicht des Seelendoktors ernst: „Haben Sie das Gefühl, dass Leute Sie anstarren?“ Richard bemerkte, dass einige auf einer Bank wartende Burschen zu ihm herüberschauten. „Sicher“, meinte Richard, „da schauen gerade einige zu mir herüber.“ Der Psychiater blickte nicht auf und machte Notizen. Dann fragte er: „Hören Sie manchmal Stimmen in Ihrem Kopf?“ „Sehr selten“, meinte Richard und wollte seine Antwort erläutern, da kam schon die nächste Frage. „Führen Sie Selbstgespräche?“ „Ja“, meinte Richard, „wenn ich mich rasiere und nachdenke, kann das schon passieren.“ Der Psychiater notierte weiter und fuhr fort: „Wie ich sehe, ist Ihre Frau verstorben. Sprechen Sie manchmal mit ihr?“ Richard ärgerte sich wegen dieser Frage, blieb aber ruhig. „Wenn ich in den Bergen wandere und an meine Frau denke, dann spreche ich manchmal mit ihr.“ Der Psychiater kritzelte in seinen Protokollen. „Ist irgendjemand aus Ihrer Familie in einer Nervenheilanstalt?“, fragte der Psychiater. „Yeah, eine Tante ist im Irrenhaus.“ Nun wurde der Psychiater böse, weil ihn der Ausdruck Irrenhaus nervte. Eine Zeitlang ging das Gespräch in dieser Art weiter.
Schließlich fragte der Psychiater: „Welchen Wert messen Sie dem Leben bei?“ Richard sagte spontan: „Vierundsechzig.“ Der Arzt fragte verblüfft: „Warum haben Sie Vierundsechzig gesagt und nicht Dreiundsiebzig?“ „Hätte ich Dreiundsiebzig gesagt, dann hätten Sie mir die gleiche Frage gestellt.“ Damit war das Gespräch beendet. Als Richard seine Papiere heimlich durchblätterte, stand da zu lesen: „Gehörhalluzinationen, glaubt, dass ihn die Leute anstarren, führt Selbstgespräche, spricht mit der verstorbenen Frau, Tante mütterlicherseits in der Nervenheilanstalt.“
Der spätere Professor und Nobelpreisträger Richard Feynman, Mitentwickler der Atombombe in Los Alamos und einer der brillantesten Physiker aller Zeiten, wurde von der US-Army für psychisch instabil und somit untauglich erklärt.
Ich blickte in die Runde. Jane lächelte anerkennend und gähnte. Hans mischte sich ein, weil auch er eine Geschichte über Feynman kannte, aber da hörte niemand mehr zu.
Die Gespräche verflachten jetzt – wie fast immer zu fortgeschrittener Stunde.
Gerade als wir alle einen kollektiven Hänger bekamen, stöpselte der Knochenbrecher sein Smartphone an die Stereoanlage. Es ertönte „I’d Do Anything for Love“ von Meat Loaf. Während der Song lief, kam der Dragoner bei der Türe herein, und alle wurden munter.
Der Dragoner bestellte einen Cuba Libre, und das bedeutete, dass der Abend noch länger dauern würde.
Mir fiel ein, dass ich schon ein halbes Jahr nicht mehr auf dem Schießstand war. Ich kritzelte auf einen Zettel „Shooting mit Blues“ und legte ihn in meine Geldbörse. Jane bemerkte das und sah mich vorwurfsvoll an. Ich hatte ihr schon ein Dutzend Mal erklärt, dass das Schießen nichts mit „Rumballern“ zu tun hat. Es sei eher eine zutiefst kontemplative Sache, denn wenn man schlecht zielt und keine ruhige Hand hat, trifft man nicht einmal die Scheibe.
Es bildeten sich ein paar Grüppchen, die angeregt plauderten. Hans und ich blätterten in unseren Büchern und versanken in einer Melancholie, die ihren Höhepunkt erreichte, als „Heroes“ von David Bowie aus den Boxen schallte.
Hans sagte das Codewort „Ibrahim“, und das bedeutete Aufbruch. Hans und ich bestiegen unsere Zweiräder und fuhren vor allen anderen nach Hause, was selten vorkam.