Kitabı oku: «Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2», sayfa 3

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Alpinisten wissen: Wer einen steilen Einstieg wählt, stürzt eher ab. B. Seebacher-B. nahm die Vaterlandsroute und strauchelte schon beim fünften Schritt über die vermeintlich unbeantwortbare Frage, »für welches deutsche Vaterland ... die Armee preisgegeben« worden sei. Preisgegeben? Wer wen? Dass Teile der Armee sich keiner bis jetzt bekannt gewordener Verbrechen schuldig gemacht haben, ändert natürlich gar nichts an der wissenschaftlich erhärteten Tatsache, dass zwischen Hitlers Herrschaft und dem ganz überwiegenden Teil der Wehrmachtführung kein Haar Platz hatte. Der mainstream arrangierte sich nach unwesentlichen Reibungen zu Beginn bestens mit dem Gefreiten als neuem Chef. Der Widerstand war ehrenwert, aber doch bescheiden.

Weil der Widerstand so minimal war, versuchen Pfiffige immer wieder den Umweg über den »nationalen Verrat«. Wie allerdings die tonangebende »nationale Opposition« (wie NSDAP und Deutschnationale sich nannten), die im Juli 1932 fast 45 % der Stimmen erreichte, ausgerechnet »nationalen Verrat« begehen sollte (an sich selbst?), nachdem sie im Januar 1933 an die Macht gekommen war und unter dem Beifall einer nicht mehr messbaren, aber auf jeden Fall deutlichen Mehrheit Deutschland zügig deutscher machte, bleibt ein Geheimnis. Im Detail liegt B. Seebacher-B. fernab von Tatsachen und behauptet z. B., sozialdemokratische Opfer des Terrors fehlten in »jeder Aufzählung«. Das Gegenteil ist richtig: Jedes halbwegs anständige Buch über die Naziherrschaft enthält detaillierte Angaben – verleugnet oder vergessen werden da schon eher andere (Sinti, Roma, Russen, Polen, Kommunisten und Schwule).

Schon vor derlei Proseminar-Kapriolen stürzte die Rednerin ins Bodenlose, wie jeder, der noch glaubt, mit der Nation festen Boden zu betreten: »Aber zu gedenken ist – aller Opfer, die in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebracht wurden«. Wem hat zunächst die kaiserliche Armee, dann die Wehrmacht welche denkwürdigen »Opfer gebracht«? Die jetzt zu erwartende erneute historische Revision, dieses Mal unter dem Banner der »Ideen von 1989« kündigt sich einigermaßen flott an mit der Umwidmung deutscher Angriffskriege zum Opfergang. Genau diesen Verdacht hatten wir immer schon bei den Veranstaltungen unter der Firma »Volkstrauertag«. Es ging nie um die wirklichen Opfer, weder um die eigenen und schon gar nicht um die fremden, sondern um ein staatliches Trauertheater, in dem die Niederlagen in zwei selbst provozierten Kriegen »zustimmungs- und gemeinsinnsfähig« (Lübbe) inszeniert wurden. Und weil man an Niederlagen ungern einfach als Niederlagen erinnern mochte, wählte man namenlose Opfer als Staatsfeierstunden-Dekoration. Diese kann man – Schützen und Erschossene amalgamierend wie in der verlogenen, seit 1969 offiziellen Formel von den »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« – risikolos als die »in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebrachten Opfer« instrumentalisieren. Das erklärt auch die von B. Seebacher-B. pompös als Ouvertüre präsentierte Fanfare von der Einzigartigkeit der Veranstaltung (»Kein anderes Volk der Welt hat sich je vorgenommen, an einem einzigen, regelmäßig wiederkehrenden Tag seine Toten zu betrauern«). Welcher andere (Nachfolger-)Staat muss einen ganz und einen maßgeblich verschuldeten Weltkrieg als Opfergang kaschieren?

5 »Les Temps modernes« wurden 50 – »Es gibt nur noch beschädigte Ideen«

Verglichen mit den fünfzig Laufmetern, die die rot gebundenen Prachtbände der »Revue des deux mondes« im Magazin der Bibliothek beanspruchen, nehmen sich die zehn von »Les Temps modernes« bescheiden aus. Die berühmte »Revue« wurde 1829 im Geist des Positivismus gegen den »Systemgeist« (so die erste Nummer) gegründet und zählt seither die Eliten aus Wissenschaft, Kultur, Verwaltung und Politik zu ihren Autoren. Im Ehrenkomitee zu ihrem 150. Geburtstag saß 1979 auch Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing.

Bei »Les Temps modernes« wäre derlei undenkbar. 1995 wurde die am 1. Oktober 1945 von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Jean Paulhan und Albert Ollivier gegründete Zeitschrift fünfzig Jahre alt. Mit dem Selbstbewusstsein einer wirklich unabhängigen Institution, schrieb der jetzige »directeur« – der Filmemacher Claude Lanzmann – im Editorial zur Jubiläumsnummer solche kalendarischen Zwänge als Kleingeisterei beiseite: »Seit langem schon macht die Verspätung gegenüber dem, was man so Aktualität nennt, unsere spezifische Modernität aus.« Das ist kein Understatement, sondern hat Tradition: Die Nummer 500 war kein Thema, aber 50 Nummern später lud die Redaktion ihre Leser erstmals in ihrer Geschichte zu einem Fest – das war vor vier Jahren. Zur spezifischen Modernität von »Les Temps modernes« gehört ihre intellektuelle Radikalität – ob es nun um Philosophie, Sozialwissenschaft und Politik oder Literatur, Kunst, Musik und Film geht.

Die Radikalität wich nur in zwei Phasen einem tagespolitischen Konformismus: In den fünfziger Jahren, als sich Sartre vorübergehend dem Parteikommunismus näherte, und in den siebziger Jahren, als Pariser Nachwuchsintellektuelle die Zeitschrift zuerst durch ihren Maoismus und danach durch ihren seichten »Antitotalitarismus« kurzfristig in Verruf brachten. Wie Simone de Beauvoir berichtet, verdankt die Zeitschrift ihren Titel einem Zufall: Michel Leiris hatte »Le Grabuge« (Der Krach) vorgeschlagen, aber Sartre wollte das Organ mit dem Titel auf Zeitgenossenschaft festlegen. Im Laufe der Debatte kam man auf »Les Temps modernes«, die Anspielung auf Chaplins Meisterwerk war beabsichtigt. Picasso lieferte einen Entwurf für das Titelblatt. Aber ästhetische Gründe hätten es nicht erlaubt, darauf das Inhaltsverzeichnis jedes Heftes zu reproduzieren. Schließlich entschied man sich für den Entwurf eines Graphikers aus dem Verlagshaus Gallimard. Und bei dieser Gestaltung des Titelblatts blieb es, von kleinen typographischen Änderungen abgesehen – bis heute.

Im Editorial zur ersten Nummer fasste Sartre den Menschen als »Zentrum nicht hintergehbarer Unbestimmtheit« und definierte als Ziel der Zeitschrift nicht etwa »die«, sondern bescheiden »eine Befreiung« des Menschen. Maurice Merleau-Ponty, der 1953 wegen politischer Differenzen mit Sartre aus dem Herausgeberkreis ausschied, formulierte in der vierten Nummer (1946) das philosophisch wie politisch Modernität verbürgende Motiv in einem einzigen, dauerhaft haltbaren Satz: »Es gibt nur noch beschädigte Ideen.« Bereits 1951 sahen Sartre und Merleau-Ponty im »System der Lager und der Zwangsarbeit« in der Sowjetunion »Fakten, die die Bedeutung des russischen Systems total in Frage stellen«. Sartre ließ sich von den Denkschablonen des Kalten Kriegs nicht beeindrucken: »Bevor ich für die Demokratie sterbe, möchte ich doch sicher sein, darin zu leben ... Weiß ich denn, wie sie in Algier, in Goa oder auch nur in Le Creusot funktioniert?« (1952)

In der Zeitschrift erschien auch Merleau-Pontys epochaler, durch die geschichtliche Erfahrung von Stalinismus und Faschismus geprägter Essay über »Humanismus und Terror«. Er vermag die – altmodisch gesprochen – geistige Situation der Zeit präziser zu bestimmen als die buchhalterische Abrechnungsprosa, die nach 1989 erschienen ist. André Gorz, dem »Les Temps modernes« zwischen 1961 und 1983 die fundiertesten soziologischen, später auch ökosoziologischen Essays verdankt, bilanzierte 1970 den Pariser Mai und den Bildungsnotstand. »Die Universität zerstören« war sein Resümee, da keine Reform in der Lage sei, »diese Institution lebensfähig« zu machen. In seiner Abrechnung mit dem gemeinsamen Wahlprogramm von Sozialisten und Kommunisten vom 26. Juni 1972 kam er zu dem Ergebnis, dieses sei politisch defizitär und laufe nur auf die Forderung »Elektrifizierung ohne Sowjets« hinaus. Gorz formulierte die Kritik am Leninismus, als die wohlfeilen Traktate der vermeintlich »neuen Philosophen« noch nicht geschrieben waren.

Über politische Probleme im engeren Sinne schrieb zunächst vor allem Jean Pouillon, Sartre artikulierte sich auf diesem Feld erst später. Pouillon plädierte für einen »befreienden Internationalismus ... durch die Absage an die Nationen«, und schon im Dezember 1946 kritisierte er den französischen Kolonialismus in Indochina und trat für Verhandlungen mit dem Viet Minh ein. Die Zeitschrift wurde dann in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem der wichtigsten Foren, in denen über Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus diskutiert wurde. Später formierte sich um dieses Organ herum auch der Protest der Intellektuellen gegen die Kriege und die Kriegsführung in Algerien und Vietnam sowie gegen Nationalismus und Fremdenhass.

Michel Leiris öffnete dem Leser die Augen für die Völker Afrikas, deren Kultur und Literatur zu einem Zeitpunkt, als Eurozentrismus und abendländischer Zivilisationsdünkel noch zur intellektuellen Grundausstattung der Bildungsbürger gehörten. Horizonterweiternd waren auch die Reportagen Sartres und Simone de Beauvoirs über ihre Amerika-Reisen Ende der vierziger Jahre. Die Rezeption amerikanischer Kunst, Musik und Literatur wurde in Europa ebenso maßgeblich durch »Les Temps modernes« vorangetrieben wie die Kritik an der Banalität des American way of life – 1964 zusammengefasst in Simone de Beauvoirs Buch »Amerika Tag und Nacht. Reisetagebuch 1947«.

Das Naserümpfen und der billige Spott Spätgeborener, die in den Begriffen »engagement« und »littérature engagée« nur noch eine Ideologie zu sehen vermögen, verkennen die ursprüngliche Absicht. Es ging Sartre, von kurzen Phasen abgesehen, gerade nicht um Ideologien oder Post-Ideologien, sondern um die Individuen: »Wir wollen, dass der Mensch und der Künstler ihr Wohl gemeinsam gestalten, dass das Kunstwerk gleichzeitig Handlung sei; dass das Kunstwerk explizit als Waffe im Kampf, den die Menschen gegen das Böse führen, begriffen werde.« Zur spezifischen Modernität gehört auch, dass sich die Zeitschrift – wesentlich dank Simone de Beauvoir – seit 1948 kontinuierlich mit Fragen des Feminismus und des Sexismus befasste.

Ein weiteres Markenzeichen von »Les Temps modernes« waren die Schwerpunkthefte zu einzelnen Ländern, wobei die Autoren in der Regel aus den Ländern selbst kamen. Das gilt bereits für die ersten Ländernummern über die USA und die eben gegründete BRD (Herbst 1949 mit Beiträgen von Wolfgang Borchert, Wolfdietrich Schnurre, Eugen Kogon und anderen). Dreißig Jahre später folgte eine weitere Deutschland-Nummer (Autoren: Peter Brückner, Dirk Ipsen, Klaus Wagenbach, Sebastian Cobler und andere).

Das durch solide Arbeit und radikales Nachdenken, nicht durch modische Anpassung erreichte weltweite Renommee der Zeitschrift stand in keinem Verhältnis zur Höhe der Auflage. Diese lag nie über 10 000 Exemplaren und dürfte momentan bei 4000 liegen. Die eben publizierte Jubiläumsnummer schlägt einen Bogen von Jacques Derrida, der philosophisch und politisch zu Sartre wie zur Zeitschrift immer Distanz hielt, bis zu Interviews mit Francis Jeanson, der in der Kampagne gegen den Algerien-Krieg eine wichtige Rolle spielte, und Lionel Jospin, dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten, der die Zeitschrift als Student las, aber seither wohl nicht mehr. Der schönste Beitrag mit dem Titel »Jeder Feind Sartres ist ein Hund« stammt vom Mitglied der Académie Française und »Le Monde«-Kolumnisten Bertrand Poirot-Delpech. Er zeigt nochmals, zu welcher Niedertracht gegen Sartre die »leitartikelnde Bourgeoisie« von den vierziger bis in die siebziger Jahre fähig war, und erinnert an seine eigenen Motive, als Student »Les Temps modernes« zu lesen: »Weil ein frischer Wind durch die Seiten pfiff«, weil es dort keine »unter dem Staub der Höflichkeiten der alten Zeitschriften begrabenen Feingeister« mehr gab.

6 Mai ’68 in Frankreich

Von gescheiterten Revolten und Aufständen bleibt in der Regel nichts übrig als fortschreitend verblassende Erinnerungen – im Ausnahmefall heroisierende Legenden. Die fünf toten Studenten vom Mai ’68 sind in Frankreich längst so vergessen wie die mehreren hundert in Mexiko. Gedenksteine und Denkmäler für diese Opfer liegen nirgends drin. Die Niederlage der Protestbewegung (»contestation«) war umfassend – in Frankreich und weltweit.

Trotzdem ist von der Studentenbewegung dauerhaft mehr übrig geblieben als verblassende Erinnerungen. Das ist am überzeugendsten daran abzulesen, mit welcher Verbissenheit bis heute fast jedes gesellschaftliche Defizit von der Jugendkriminalität bis zur sinkenden Geburtenrate als direkte oder indirekte Folge des Antiautoritarismus, Hedonismus oder Antiinstitutionalismus von ’68 »erklärt« wird. Als in der ex-DDR und im Westteil des Landes die Wohnungen von Ausländern brannten, sah ein westdeutscher Professor darin – fast schon gewohnheitsmäßig – eine Spätfolge der Studentenbewegung: Insbesondere der später selbst kravattierte Teil der 68er halluziniert mittlerweile tote Ausländer als »logische« Quittung für die damals erworbene Distanz zu Nationen und nationalem Klimbim.

Kein Ressentiment ist zu bieder und kein Räsonnement zu platt, um nicht auf diese oder jene Weise mit der 68er Bewegung verbunden zu werden. 68er für irgendetwas zu denunzieren, ist zum Gesellschaftsspiel geworden: Der eine erklärt Ernst Jünger zum Hauspoeten der 68er, und für den anderen sind diese die Erfinder des schlechten Geschmacks.

Das Jubiläumsjahr hat den Markt für solche Spielchen belebt. Eine Kritik dieser Unternehmen lohnt sich nicht. Hier soll deshalb versucht werden – gegen die verblassenden Erinnerungen – darzustellen, wie es historisch (ungefähr) gewesen ist im Mai ’68 in Frankreich.

In seinem berühmten Artikel vom 15. März 1968 beklagte der Journalist Pierre Viansson-Ponté, dass »sich Frankreich langweile«. In der langen Liste von Indizien für diese Prognose steht auch ein Vergleich französischer mit den Studenten anderswo: Weltweit prügelten sie sich mit der Polizei, während es den Studenten in Nanterre und Nantes noch um den unbehinderten wechselseitigen Zugang zu den nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen ging. Die Staatsmacht verteidigte die Bevormundung mit dem angeblich von den Eltern an sie delegierten Erziehungsauftrag, wonach »wir« – Alain Peyrefitte als Erziehungsminister – »nicht erlauben können, dass sich minderjährige Mädchen zu den Jungen begeben oder diese empfangen«. Genau bis ’68 mochte man den Staat in solcher Pose.

Die Sache mit der Langeweile war übertrieben: Es gab auch in Frankreich Proteste gegen den Vietnamkrieg und bereits am 17. Mai 1967 einen Generalstreik gegen ein Vorhaben, mit dem sich die Regierung die Sondervollmacht aneignete, Gesetze auf dem Weg der bloßen Verordnung – also am Parlament vorbei – zu erlassen. Für die älteren unter den herausragenden Figuren in der Studentenbewegung waren es im Übrigen der Algerienkrieg und die Proteste dagegen, in denen sie als Mitglieder von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen politisiert wurden und nicht erst im Mai ’68. Das gilt für Alain Geismar, Jacques Sauvageot, Alain Krivine, Jean-Louis Péninou und Marc Kravetz (»Der Algerienkrieg ist schlicht das Ereignis, das den französischen Bruch am klarsten markiert ... Es ist das Ende dieser großen kolonialen Epoche, die nie großartig gewesen ist«).

Der Mai ’68 kam also nicht aus heiterem Himmel. Das trifft insbesondere für dessen intellektuelle Ausstattung und politische Orientierung zu. Die Studentenbewegung hat ihre politischen Wurzeln in kleinen Gruppen von »Neuen Linken«, die sich um vier Zeitschriften mit Auflagen um je 4000 Exemplaren herum gruppierten. Diese kleine, aber intellektuell fruchtbare »Neue Linke« stand in einer doppelten Frontstellung: gegen den Stalinismus und den bürokratisierten Staatssozialismus und gegen den Kapitalismus und die Einreihung Frankreichs hinter die westliche Supermacht: »Es stimmt nicht, dass die Politik der Blöcke der einzige Weg ist, den man den Menschen zeigen kann« – so ein Aufruf des »Rassemblement démocratique révolutionnaire« von Jean-Paul Sartre und David Rousset 1948. Die antistalinistische »Neue Linke« formierte sich in Frankreich bereits Ende der 40er Jahre um die Zeitschriften »Les Temps modernes« (seit 1945) und »Socialisme ou Barbarie« (1949-66), später auch »Arguments« (1956-1962) und »Internationale Situationniste« (1958-1969).

Der Einfluss der maßgeblich von Jean-Paul Sartre bestimmten »Les Temps modernes« auf die französischen Intellektuellen kann – trotz aller politischen Wendemanöver Sartres – überhaupt nicht überschätzt werden. Das gilt für die Literatur ebenso wie für Philosophie und Politik. Mit Cornelius Castoriadis und Claude Lefort sammelten sich um die Zeitschrift »Socialisme ou Barbarie« Trotzkisten unterschiedlicher Richtung. Ihre Kritik war nach eigener Terminologie »radikale Systemkritik« und umfasste nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern alle gesellschaftlichen Verhältnisse vom Alltag über die Erziehung bis zur Familie und zur Sexualität. Politisch verstanden sie sich als libertär, antistalinistisch, bürokratiekritisch und antikapitalistisch sowieso. Castoriadis kritisierte die Marxsche Perspektive, wonach es darum gehe, die Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu überwinden. Er rückte Probleme der ungleichen Verteilung in den Hintergrund und die Frage der »Entfremdung« zwischen »Führenden und Ausführenden« in den Vordergrund. Die daraus abgeleitete Idee »der Arbeitermacht« (»gestion ouvrière«) kriegte im Mai ’68 unter den Bezeichnungen »autogestion« / »Arbeiterselbstverwaltung« und »émancipation« / »Befreiung« einen ungeheuren Schwung durch die kurzfristige Koalition von Studentenund Arbeiterbewegung. Die KPF und der kommunistische Gewerkschaftsverband CGT wurden von der Wucht der in den Betrieben bei Streiks, Demonstrationen und Besetzungen zündenden Idee überrollt.

In der Zeitschrift »Arguments« (1956-1962) entfalteten Intellektuelle verschiedener Herkunft – darunter Edgar Morin, Henri Lefebvre, Dionys Mascolo, Alain Touraine – ihre Ideen für einen freiheitlichen Sozialismus. Sie grenzten sich dabei explizit von Parteipolitik ab und bezogen sich theoretisch auf die damals eben entdeckten Marxschen Frühschriften.

Einige eher schwache Anregungen bezog die Bewegung vom Mai ’68 aus der »Internationale Situationniste« (1958-1969) und ihren Autoren Guy Debord, Raoul Vaneigem, René Vienet, Jean-Pierre Voyer. Debord definierte sich schon Ende der 50er Jahr als »Berufsrevolutionär in der Kultur« und stellte programmatisch fest: »Es geht darum, uns selbst zu produzieren und nicht Dinge, die uns zu Knechten machen«. Bis in einzelne Aktionen und Provokationen hinein orientierten sich die Protagonisten des Mai ’68 an den spielerischen Formen, mit denen die Situationisten ihre Vorstellungen vom »anderen Leben« seit den 60er Jahren propagierten und die Trennung von Arbeit, Freizeit und Kultur als dekadent kritisierten.

Alles, was im Mai ’68 an Ideen, Projekten, Forderungen und Protestformen eruptiv an die Oberfläche drängte, wurde in diesen Zeitschriften konzipiert und vorgedacht. Das Verdienst der verschiedenen Flügel, Gruppen und Organisationen der französischen Protestbewegung war es, diesen Vorrat an Konzepten und Ideen auf phantasievolle Weise gebündelt und kurzfristig zu einer politischen Bewegung formiert zu haben.

Staatspräsident De Gaulle schloss seine Neujahrsansprache in der Silvesternacht vom 31.12.1967 mit dem Satz: »Ich grüße das Jahr 1968 in gelassener Zuversicht«. Diese sollte ihm ziemlich bald abhanden kommen. An den französischen Universitäten, insbesondere an der 1964 in einem Industriegebiet als Wissensfabrik hochgezogenen Fakultät für Sprach- und Sozialwissenschaften in Nanterre bei Paris, brodelte es schon länger – und nicht nur wegen der nach Geschlechtern getrennten Wohnheime. Zwischen 1960 und 1968 hatten sich die Studentenzahlen national fast verdreifacht, in Nanterre versechsfacht, aber die Zahl der Lehrenden hinkte drastisch hinterher. Obendrein floss (und fließt bis heute!) ein überproportional großer Anteil der Ausgaben für das höhere Bildungswesen in eine Handvoll Pariser Eliteeinrichtungen, während der Rest der Institutionen leer ausging, sich aber gleichzeitig mit den Studenten der Baby-Boom-Generation förmlich auffüllte. »Gelöst« wurde das damit verbundene Kapazitätsproblem durch »das Hinausprüfen« von bis zu drei Vierteln der Studenten. Zum Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, geriet die Ankündigung einer technokratischen Hochschulreform, mit der die Universitäten näher an die Bedürfnisse der Wirtschaft angebunden werden sollten. Die Studenten begannen sich zu wehren und besetzten am 22. März das Verwaltungsgebäude der Fakultät in Nanterre.

Die Behörden reagierten mit Polizei und Strafverfahren, was die bislang unabhängig voneinander operierenden, kleinen politischen Gruppen und Grüppchen von Kommunisten, Maoisten, Anarchisten, Libertären, Sozialisten und Trotzkisten zu einem Aktionsbündnis zusammentrieb, das sich – in Anlehnung an Fidel Castros »Bewegung des 26. Juni« (1953) – den Namen »Bewegung des 22. März« gab. Als die Studenten die Räume der Fakultät für ihre Diskussionen über alle brisanten Fragen vom Vietnamkrieg bis zur Hochschulreform beanspruchten, schloss der Dekan kurzerhand die Institution. Das rüde Vorgehen der Universität gegen Rädelsführer mobilisierte ebenso Studenten außerhalb der politischen Gruppen wie das Gerücht über »schwarze Listen« mit den Namen von Relegationskandidaten. Bereits am 27.4.1968 wurde Dany Cohn-Bendit zusammen mit anderen verhaftet. Sie mussten vor dem Disziplinarrat der Sorbonne erscheinen, was den Schwerpunkt der Bewegung und der Demonstrationen vom Stadtrand mitten nach Paris verlagerte.

Während die Studenten am 3. Mai im Innenhof der Sorbonne debattierten, holte der Rektor die Polizei. Diese benützte den friedlichen Abzug der Studenten zur Verhaftung von weiteren Aktivisten und schlug erstmals brutal zu: 574 wurden festgenommen, zwölf Studenten in einem Eilverfahren verurteilt, vier davon sofort eingesperrt. Damit begann die heiße Phase des Pariser Mai, an dessen erstem Höhepunkt in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai im Quartier Latin ein riesiges Straßenfest stattfand, bei dem symbolisch auch Dutzende von Barrikaden errichtet wurden. Zwei Stunden nach Mitternacht entschloss sich die völlig konfuse Polizeiführung zur Räumung der Barrikaden und des Quartiers, wobei sich die Schlägertrupps der CRS (Compagnies républicaines de sécurité) besonders hervortaten.

Das verschaffte der Studentenbewegung viele Sympathien bei der Bevölkerung und obendrein die politische Anerkennung durch die Gewerkschaften und die politische Opposition. Während die KPF und die CGT die Protestbewegung noch eine Woche zuvor als »pseudorevolutionär« niedergemacht hatten, organisierten sie nun gemeinsam mit dieser einen Generalstreik unter dem Motto: »Schluss mit der Repression: Freiheit, Gleichheit. Es lebe die Einheit der Arbeiter und der Studenten«. Am 13. Mai, genau zehn Jahre nach dem Putschversuch der Generäle gegen die IV. Republik, demonstrierten in Paris über eine Million Menschen. Am Tag danach setzte sich der Streik spontan fort in Form von Protestdemonstrationen und Betriebsbesetzungen im ganzen Land. Innerhalb einer Woche war das Land völlig lahmgelegt. Ohne dass die Gewerkschaftszentralen dazu beigetragen hatten, streikten am 22. Mai etwa 7 Millionen Arbeiter und Angestellte mit der Forderung nach »autogestion« / »Arbeiterselbstverwaltung«.

Die Regierung und die Arbeitgeber gaben nach und waren zu Verhandlungen bereit. Dabei ging es der kommunistischen CGT wie der gaullistischen Regierung und dem Patronat freilich nicht um »Arbeiterselbstverwaltung« und andere politische Zielvorstellungen, sondern um Tarifpolitik, d. h. um den Mindestlohn und Lohnerhöhungen. Die streikenden Arbeiter machten der Regierung und der Gewerkschaftsführung einen Strich durch die Rechnung, als sie die von oben vorgesehenen Kompromisse ablehnten und weiterstreikten.

Staatspräsident Charles De Gaulle kündigte am 24.5. ein Referendum über sein Konzept der »Partizipation« an – das galt jedoch nicht mehr als »ein Zauberwort« und war ungeeignet dafür, »eine Feuersbrunst zu löschen« (Le Monde 23.5.68). Weder die Protestbewegung noch die politische Opposition waren in der Lage, dem Land eine politische Alternative anzubieten. Der Radikale Pierre Mendès-France, der Kommunist Waldeck-Rochet und der Sozialist Mitterrand verloren sich in taktischen Spielchen und Finessen, während die Protestbewegung über Nacht viel von ihrem Rückhalt in der Bevölkerung verspielte, als sie am 24. Mai eine zweite »Nacht der Barrikaden« inszenierte, in der u. a. die Börse angezündet wurde.

Was General de Gaulle am 29.5. bewog, mit seiner Familie, reichlich Schmuck und viel Gepäck überstürzt für eine gute Stunde nach Baden-Baden zum Haudegen des Algerienkriegs – General Jacques Massu – zu fliehen, ist bislang nicht aufgeklärt worden. Auf jeden Fall hat er mit seiner Radioansprache vom 30.5. und der Ankündigung von Neuwahlen für den 23. und 30. Juni das Steuer in letzter Minute an sich gerissen. Er drohte mit dem Notstand, verlangte eine »action civique« und setzte mit dem damals üblichen Pathos auf die Trumpfkarte »Antikommunismus«: »Frankreich ist tatsächlich von einer Diktatur bedroht. Man will es (Frankreich) zwingen, sich einer Macht zu ergeben, die sich als diejenige der nationalen Selbstaufgabe herausstellen würde, einer Macht, die obendrein diejenige des eigentlichen Siegers wäre, d. h. diejenige des totalitären Kommunismus«. Mit dieser durch keine Realitäten gedeckten Formel traf de Gaulle die Stimmung der dumpfen Mehrheit. Noch am gleichen Tag marschierten die hauptstädtischen Chauvinisten zu Hunderttausenden auf die Champs-Elysées und skandierten jetzt im Klartext, was ihnen der General übers Radio nur angedeutet hatte: »Frankreich den Franzosen! Cohn-Bendit nach Dachau!«

Die Juni-Wahlen wurden vollends zum Heimspiel der gaullistischen Partei der Ordnung, nachdem die Polizei Betriebsbesetzungen mit Gewalt beendet und der Premierminister Pompidou sechs linke politische Gruppierungen einfach verboten hatte. Die Ordnung marschierte. Obwohl die Rechte nur rund eine Million mehr Stimmen gewann als die Linke, erzielte sie dank des Mehrheitswahlrechts und der Uneinigkeit der Oppositionsparteien einen überwältigenden Sieg und gewann 358 von 485 Sitzen in der Nationalversammlung.

Die französische Protestbewegung wuchs schneller und zerbröselte schneller als alle anderen. Als Bewegung ist sie Geschichte. Was sie in den Köpfen und Herzen vieler bewegt hat, wies von Anfang an und notwendigerweise in viele Richtungen – politisch wie gesellschaftlich. Intellektuelle Redlichkeit gebietet es festzuhalten, dass es – in Frankreich noch eindeutiger als anderswo – zu eben dieser Vieldeutigkeit gehört, dass viele 68er nicht wegen ’68, sondern trotz ’68 dorthin gelangten, wo sie sich heute politisch und gesellschaftlich bewegen, sofern sie nicht – längst harm- und stachellos geworden – nur noch sitzen.

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