Kitabı oku: «Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2», sayfa 4
II Porträts gegen das Vergessen
1 Jürgen Habermas und seine Gegner
Dass ein Wissenschaftler und Intellektueller wie Jürgen Habermas Gegner hat, verwundert nicht – fragt sich nur, von welchem Kaliber diese sind.
Alles begann am Frankfurter Institut für Sozialforschung, an dem der 27-jährige Habermas von 1956 bis 1959 als Forschungsassistent arbeitete. Unter dem Titel »Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« hatte Habermas 1957 in der »Philosophischen Rundschau« einen umfangreichen Forschungsbericht über den Stand der internationalen Marx-Diskussion veröffentlicht. Max Horkheimer missfiel dieser Forschungsbericht so entschieden, dass er dem Co-Direktor Theodor W. Adorno unumwunden »die Aufhebung der bestehenden Lage« befahl, d. h. die Entlassung von Habermas. Adorno wehrte sich tapfer, konnte sich aber nicht durchsetzen gegen den Patriarchen Horkheimer. Habermas stand mit Frau und Kind buchstäblich auf der Straße. Wolfgang Abendroth in Marburg sprang ein und habilitierte ihn.
Horkheimer, der zeitlebens nie allein mit Habermas gesprochen hat, konzedierte diesem zwar »ungeheuren Scharfsinn«, Begabung und »geistige Überlegenheit«, aber sagte ihm nur »als Schriftsteller eine gute, ja glänzende Karriere« voraus. Mit dieser Prognose lag Horkheimer so falsch wie mit den vorgetragenen Entlassungsgründen unter seinem Niveau. Er unterstellte nämlich Habermas’ philologisch präziser Auseinandersetzung mit Marx und den Marxisten der Weimarer Republik, er leiste damit »den Geschäften der Herren im Osten Vorschub« und preise, »wenn auch ohne Absicht, die Diktatur«. Auf Habermas’ umfangreichen Text ließ sich Horkheimer gar nicht erst ein, sondern mobilisierte nur reflexartig ein paar politische Ressentiments in der Preislage der argumentativ ungedeckten Parole, wonach »der Sozialismus in einem Land und der Nationalsozialismus ... ohnehin eine tiefe Verwandtschaft« aufwiesen.
Nachdem Habermas 1974 den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart erhalten hatte, beschäftigte sich der Philosoph Odo Marquard mit Habermas’ These, in modernen Gesellschaften könne sich die Identitätsbildung von Individuen nicht mehr an den Leitplanken traditionaler Einrichtungen – Nation, Religion, Staat, Stände – orientieren, weil diese weder mit universellen Werten noch mit Rechtsgleichheit und gleichen Chancen der Teilhabe und Anerkennung vereinbar seien. Marquard reduzierte die philosophisch wie soziologisch gut fundierte These auf die schlichte Behauptung, sie meine nur, »Dabeisein ist alles« und beruhe auf der »Uniformierung« der Individuen und auferlege diesen – so Marquard – »Selbstpreisgabezumutungen«. Horkheimers offener Diktaturverdacht gegenüber Habermas mutierte zur kaschierten Totalitarismusunterstellung. Ende der 70er Jahre gesellte sich der von Heiner Geißler, Alfred Dregger und anderen mehr oder weniger subtil geäußerte Verdacht hinzu, Habermas gehöre zu den »Sympathisanten« oder wenigstens »geistigen Vätern« des Terrorismus.
Rustikal wie ein Zukurzgekommener langte Karl Heinz Bohrer zu anlässlich seiner Vorlesung im Rahmen der »Gadamer Stiftungsprofessur« im Mai 2001. Bohrer beklagte einen allgemeinen Erinnerungsverlust, für den er u. a. »den geschichtsfeindlichen Universalismus« von Habermas verantwortlich machte. Bohrer plädierte für »kulturelle Identitätsbildung« innerhalb einer »nationalen Zivilisation«, deren Ursprung er – gegen die Fakten wie die historische Forschung – im Handstreich ins hohe Mittelalter zurückverlegte. Die Kritik am vermeintlich »geschichtsfeindlichen Universalismus« im Namen der »deutschen Nationalgeschichte« trägt ältere deutschnationale Züge – so wenn Bohrer über die »nicht enden wollenden Debatten über die Kriegsschuldfrage« moralisiert oder den aufgeklärten Verfassungspatriotismus (Dolf Sternberger/Jürgen Habermas) durch einen national und affektiv besetzten Patriotismus pur ersetzt wissen möchte. Der Wiederbelebungsversuch an der toten nationalen Mythologie durch den Literaturwissenschaftler zehrt vom populären Ressentiment gegen universalistische rechtliche und moralische Normen, wie sie Habermas begründete, worauf sich Bohrer aber nicht einmal polemisch einließ. Seit dem Falklandkrieg von 1982 hat Bohrer keine Gelegenheit verpasst, imperiale und völkerrechtswidrige Präventivkriege im Namen von begründungsresistenten moralisierenden Floskeln – »höheres Ethos, letzte causa und brinkmanship« – mit nationalen Girlanden den Schein von Rechtmäßigkeit zu verleihen.
Kurz nach dem Auftritt auf Schloss Elmau mit seiner Rede über »Regeln für den Menschenpark – Ein Antwortbrief über den Humanismus« (September 1999) erklärte Peter Sloterdijk die »Kritische Theorie« für tot und Habermas zum Starnberger Ajatollah, der – so Sloterdijk wörtlich – »Fatwas« ausspreche und ihm dienstbare Leute mit Aufträgen für intellektuelle Rufmorde durchs Land schicke. Die abenteuerliche Konstruktion wie die Selbstüberschätzung fielen über Nacht in sich zusammen, und der Schuss ging hinten raus. Der Guru aus Karlsruhe hat sich mit seiner Blamage in der Bundesrepublik dauerhaft selbst demontiert.
Ein paar Monate nach der Rede auf Schloss Elmau gab Sloterdijk einer kleinen französischen Wochenzeitschrift ein Interview. Auf die Frage, ob Habermas ihm »grundlegend feindlich« gesinnt sei, antwortete Sloterdijk mit einer psychologischen Ferndiagnose, die er nur im Ausland äußern konnte, weil sich hierzulande dafür wohl kein seriöses Publikationsorgan hergegeben hätte: »Habermas ist eine seltsame Persönlichkeit. Er kann freundlich und herzlich sein, aber er hat auch ein cholerisches und nervöses Temperament ... Seine besten Freunde erzählen, dass sie nicht mit ihm ins Kino gehen wollen, weil er die fürchterliche Gewohnheit habe, unentwegt zu brüllen: ›Das ist Faschismus, das ist Faschismus!‹« Diese Kolportage ist frei erfunden, Sloterdijk nannte keine Quelle, geriet aber zunehmend in Fahrt: »Das ist das Schicksal der Söhne großer Faschisten. Unter dem Nazismus hat der Vater von Habermas eine wirklich große Rolle gespielt, über die man öffentlich besser nicht redet.« Das konnte man auch nicht, zumindest nicht hierzulande, denn der Vater von Habermas war eine subalterne Figur – Major der Wehrmacht (in Frankreich, also gut erforscht) und im Zivilleben Leiter der Zweigstelle Gummersbach der Industrie- und Handelskammer Köln/Wuppertal. So sehen also in der Phantasie des Riesenphilosophen »große Faschisten« aus, womit freilich nur im Ausland Punkte zu machen waren zur Kompensation des Elmauer Desasters.
In einem FAZ-Artikel vom 14. Dezember 1998 machte sich einer von Frank Schirrmachers Jungschützen über Habermas Gaumenspalte und die dadurch bedingte Sprachbehinderung mit einer solchen scham- und geschmacklosen Häme lustig, dass Alexander Kluge den ersten Leserbrief seines Lebens schrieb. Das FAZ-Hilfspersonal schärfte die Messer. In einem Artikel zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (2001) an Habermas entfaltete einer der Journalisten ein bizarres Spiel unter dem Titel »Habermas für Kinder«. Er verhöhnte diesen als Philosophen der »guten Absichten« und Ordnungshüter im Kinderzimmer; einer seiner Kollegen verspottete Habermas als Meister des »Dabeiseins beim Dagegensein.«
Was Konservatismus heute bedeutet, demonstrierten der jüngst verstorbene Joachim Fest in seinen Memoiren und Jürgen Busche in der Zeitschrift »Cicero« (November 2006). In seinen Memoiren mit dem Titel »Ich nicht« kolportierte Fest ein Gespinst aus Gerüchten und Denunziationen. Habermas soll als 14-jähriger »Jungvolk«-Führer dem ihm damals unterstellten Hans-Ulrich Wehler einen Zettel geschickt haben, der ein »Bekenntnis zum Führer und die unerschütterliche Erwartung des Endsieges« enthalten habe. Tatsächlich ließ Habermas dem zwei Jahre jüngeren Pimpf Wehler ein Formular zukommen und mahnte diesen, an den Übungen der Hilfssanitäter (»Feldscher«) teilzunehmen. Gut dreißig Jahre später überreichte Wehler Habermas dieses Formular, und auf seine Nachfrage, was dieser damit gemacht habe, antwortete Habermas’ Frau scherzhaft: »Du kennst doch Jürgen, er hat es verschluckt.«
Wehler hat diese Geschichte gelegentlich in munterer Runde erzählt, und konservative Bielefelder Kollegen bastelten daraus, den Teutoburger Wald vor Augen, das Gerücht vom alte Hitler-Bekenntnisse herunterschluckenden Habermas im Zentrum. Das Gerücht schleicht sich seit Jahren in unterschiedlichen Versionen durchs dafür empfängliche Herren-Milieu. Joachim Fest nahm eine Variante des kolportierten Gerüchts als tatsächlich geschehene Geschichte in seine Memoiren auf, obwohl ihm Wehler schriftlich mitgeteilt hatte, dass das Ganze auf einem Scherz beruhe und das Gerücht doch nur der landesüblichen Herabsetzung von Habermas diene.
In Fests Memoiren las der ehemalige FAZ-Redakteur Jürgen Busche die Geschichte und erzählte sie nicht nur in vollem Ernst nach, sondern ergänzte sie um ein paar Pointen von sublimer Perfidie. In einer Mischung aus politischen Ressentiments und schlichter Kriminalbeamtenpsychologie schrieb der bekennende Heidegger-Fan Busche: »Wenn das Schriftstück nach so langer Zeit ... für Wert befunden wurde, es dem ursprünglichen Absender eigens zuzuschicken, ... dann hat wohl mehr darauf gestanden als nur das Vorgedruckte.« Danach spekulierte Busche freihändig über »die Verstrickung einiger der besten deutschen Philosophen in die Herrschaft der Nationalsozialisten«. Aus diesem Konstrukt bastelte »Cicero« seinen Aufmacher mit dem Titel: »Vergesst Habermas! Das Ende der politischen Philosophie naht«. »Cicero« nennt sich im Untertitel »Magazin für politische Kultur«.
Auch der Denunziantenstreich von Fest/Busche wurde über- bzw. unterboten. Einen salto mortale in die ewig währende Peinlichkeit schlug der Satiriker Eckhard Henscheid, der im Umfeld der »Neuen Frankfurter Schule« um die Satire-Zeitschrift »Titanic« agiert. Satire, sagt man, dürfe alles, außer sich über Eigennamen lustig machen, da diese jedem buchstäblich schuldlos zufallen. Das hinderte Henscheid nicht daran, Habermas »Habi« und »Habermaus« zu nennen (was nicht witziger wird dadurch, dass Henscheid »Habermaus« aus einer FAZ-Karikatur von Greser&Lenz »ausgeliehen« hat). Die verstorbenen Väter der »Neuen Frankfurter Schule« – Chlodwig Poth, Friedrich K. Waechter und Robert Gernhardt dürften sich sprichwörtlich im Grab drehen ob solcher Niedertracht.
Es lohnt sich nicht, den eventuell vorhandenen individuellen Motiven nachzuspüren, die die Autoren zu ihren Attacken auf Habermas bewogen haben könnten. Die Angriffe beruhen offensichtlich nicht auf einer argumentativ nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit den Texten, Konzepten und Theorien des Philosophen, sondern unterlaufen die sachbezogene Konfrontation mit dem, was man im Amerikanischen tangential responses nennt. Die ganze Kunst besteht dabei darin, nicht auf sachdienliche Argumente und Kritik einzugehen, sondern mit Unterstellungen, beliebig herzitierten Invektiven und schlichten Erfindungen dem Publikum ein X für ein U vorzumachen. Sich näher auf dieses Spiel einzulassen, lohnt sich nicht.
Sinnvoller ist die Frage, welche Grundzüge in Habermas’ Denken, in dem in den letzten 50 Jahren kein Stein auf dem andern geblieben ist und das trotzdem unverkennbar seines ist, die vielgesichtige Gegnerschaft zumindest darin vereinigte, dass sie sich kollektiv provoziert fühlten und ihm durchwegs nur noch mit tangential responses, grobianischen auf die Person bezogenen Unterstellungen und schlicht strukturierten politischen Ressentiments zu begegnen vermochten.
Von den Grundzügen in Habermas Denken, die sich in seinem Werk durchhalten trotz der theoriearchitektonisch, wissenschaftshistorisch und auch politisch-historisch bedingten Erweiterungen und Verfeinerungen, gibt es wenigstens drei. Sie leiten selten offen, untermalen aber fast immer versteckt die Attacken auf Habermas.
Der ersten Grundzug seines Denkens findet sich bereits in der Rezension von Heideggers »Einführung in die Metaphysik« aus dem Jahr 1935 des 24-jährigen Studenten Habermas. Heideggers Buch wurde 1953, kosmetisch gesäubert, kommentarlos wieder aufgelegt. Der Doktorand Habermas wollte ursprünglich »mit Heidegger gegen Heidegger denken«, stürzte jedoch in einen existentiellen Schrecken, als er las, was Heidegger über »die innere Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus« noch 1953 dachte.
Von dieser frühen Intervention gegen die Verschwisterung von Wissenschaft, terroristischer Herrschaft und akademisch drapiertem Nationalismus über seine Hegel-Preis-Rede (1974) bis zu seiner Position im »Historikerstreit« (1986) und seinen jüngsten Schriften zur »postnationalen Konstellation« (1998) zieht sich ein roter Faden durch Habermas’ Werk. An ihm arbeiten sich die Kritiker polemisch ab. »Nationen« und »nationale Identitäten« sind nämlich für diese offenbar quasi-natürliche oder doch zeitlos existierende Begebenheiten. In egalitär und demokratisch verfassten Staaten geht es jedoch nicht länger – so Habermas – um dynastische Herkunftslegenden, ethnische Abstammungsgeschichten, kollektive Mythen und anderes Geklingel über »Nationen« und »nationale Identität«, sondern um Menschen- und Bürgerrechte, egalitären Zugang zu Nahrung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Wohnung sowie politischer Partizipation.
Es gibt keine demokratisch auch nur halbwegs akzeptable Begründung dafür, diese Rechte und den Zugang zu den Basisressourcen in einem multinational, multireligiös und multiethnisch bevölkerten Staat national, religiös oder ethnisch zu gestalten, ohne die Minimalstandards des Grundgesetzes zu unterlaufen. Habermas entfaltete jede Menge starker Argumente dafür, endlich auf die durch die Verfassung nicht gedeckten, national (»Leitkultur«), religiös (»christlich-jüdisch-abendländisch-europäisch«) oder ethnisch-kulturell (»Kopftuch«, »Integrationsbereitschaft«) orchestrierten Ausschließungsparolen von konservativer und rechter Seite zu verzichten. Mit dieser für moderne, egalitär-demokratische und aufgeklärte Gesellschaften zwingenden Konsequenz will sich das im Halbdunkel delirierende Denken seiner rechten Gegner nicht abfinden.
Der zweite Grundzug, der Habermas’ Werk auszeichnet, ist, dass es durch alle Wandlungen und Fortschreibungen der Theorie hindurch dem »verantwortungsbewussten Dienst am emanzipatorischen Interesse« (Hilary Putnam) verpflichtet blieb. Natürlich verabschiedete sich Habermas vom »vollmundigen Tenor« – so Habermas 1998 –, mit dem er 1968 in »Erkenntnis und Interesse« die Emanzipation gleichsam als der Geschichte eingeschriebenes Telos beschwor. Nach der Tilgung solcher geschichtsphilosophisch verankerter Denkfiguren wird aber »die diskursive Verflüssigung« (Habermas) von fortexistierender Macht, Ungerechtigkeit und Gewalt durch Wissenschaft und Kritik nicht obsolet. Die Begründungsstrategie für das Interesse an Emanzipation hat Habermas in »Faktizität und Geltung« (1992) umgestellt, aber an den »radikalen Gehalten des demokratischen Rechtsstaates« festgehalten. Demnach soll erstens Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden. Und zweitens müssen sich Bürger als virtuelle Autoren von Recht verstehen, damit dieses zum richtigen Recht wird. Mit diesen Ansprüchen an Recht, Rechtsstaat und Demokratie provoziert Habermas heute alte Carl-Schmitt-Ernst-Forsthoff-Arnold-Gehlen-Enthusiasten wie junge, die solchen aufklärerisch-emanzipatorischen Radikalismus im Zeichen von postmoderner Leichtigkeit und Beliebigkeit »nur« noch für anachronistisch und verzichtbar halten.
Der dritte Grundzug, der Habermas’ Denken durchzieht, ist das Festhalten an »einem skeptischen, aber nicht-defaitistischen Vernunftbegriff« (Habermas). Gegenüber der postoder hypermodernen Position, die nicht nur die Geschichtsphilosophie verabschiedete, sondern mit dieser alle Theorien und Wahrheitsansprüche, zielt Habermas auf gleichsam abgerüstete Ansprüche von Vernunft und Wahrheit. Sie bewegen sich im Rahmen von pragmatischen Bedeutungsund Handlungstheorien, für die Wahrheit und Vernunft nicht zeitlos sind und sich auch nicht im Bewusstsein von Subjekten herstellen lassen, sondern nur im intersubjektiven Austausch von Argumenten und Gegenargumenten in Sprach- bzw. Diskursgemeinschaften.
Trotz dieser säkularen, nachmetaphysischen Position räumt Habermas der Religion auch in modernen Gesellschaften ihren legitimen Platz ein. In der restlos vergifteten Atmosphäre nach den New Yorker Anschlägen im September 2001 verteufelte er nicht »Islamisten«, sondern forderte die säkulare Seite der Gesellschaft auf, »die Artikulationskraft religiöser Sprachen« nicht zu unterschätzen. Das war kein politisch naives Gesprächsangebot an gewaltbereite Terroristen, sondern Ausdruck von Habermas’ Vertrauen auf die Kraft von skeptischer Vernunft und vernünftiger Selbstbestimmung, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion zu regeln. Mit dieser am angelsächsischen Common sense orientierten Mittelposition mobilisierte er umgehend den Einspruch religiöser Fanatiker jeder Herkunft und Couleur wie jenen des laizistischen Radikalismus, der Religionen ultimativ »überwunden« wissen möchte.
Habermas findet hierzulande wie im Ausland viel Anerkennung. Einige in seinem Werk begründete Grundmotive für die in der Bundesrepublik nun schon fast 50 Jahre anhaltende, verbiesterte Dauerpolemik wurden genannt. Das Frappanteste an der Polemik ist, dass sich viele Gegner gar nicht auf Habermas’ Werk einlassen, sondern ad personam argumentieren oder im grobianischen Sinne politisch – mit Erfindungen, Verdächtigungen und bloßen Ressentiments aus dem Arsenal konservativer Kritik an Aufklärung und Moderne. Was immer auch die von außen kaum beurteilbaren Motive für diese aparten Vorgehensweisen sein mögen, eines ist offensichtlich: Das intellektuelle Niveau – und nur dieses interessiert, nicht die persönlichen Motive und Absichten – der Angriffe auf Habermas ist in den letzten fünfzig Jahren ständig, zuletzt dramatisch gesunken, während dessen wissenschaftliches Ansehen weltweit unübersehbar gestiegen ist und weiter steigt. Der Niveauverlust der fast ausnahmslos einheimischen Attacken ist seinerseits weltweit beispiellos. In Südkorea, Japan, China und im Iran wird über Habermas heute sachnäher und sachkundiger diskutiert als im deutschen Konservatismus. Ein Problem ist das schon. Fragt sich für wen.
2 Pierre Bayle und die Geburt der Aufklärung
»Ich habe beharrlich jede Hilfe durch die Medizin zurückgewiesen, und ich bin entschlossen, der Natur ihren Lauf zu lassen; die Medikamente gegen diese Sorte Leiden lassen einen Kranken nur länger dahinvegetieren; (…) ein sich hinschleppendes Leben erscheint mir schlimmer als der Tod. (…) Übrigens ließ mich meine Krankheit trotz allem an einem Ergänzungsband zum ›Dictionnaire‹ arbeiten, ich werde daran nicht mehr viel machen; ich habe alles satt, was kaum mit Denken zu tun hat, und ich weiß, dass gelehrte Personen mich dafür getadelt haben, an einem ›Dictionnaire‹ gearbeitet, d. h. Lebensdaten von Einzelpersonen gesammelt zu haben, die das Publikum kaum interessieren und viel eher eine Aufgabe für Schüler sind als für einen Philosophen.« Den Satz schrieb Pierre Bayle wenige Wochen vor seinem Tod am 28. Dezember 1706 – vor 300 Jahren.
Diese Selbsteinschätzung und Abwertung seines Lebenswerks teilt die Nachwelt nicht. Bayles »Dictionnaire historique et critique« erschien zuerst 1697 und war nicht nur ökonomisch erfolgreich, sondern bildete das rundum anerkannte intellektuelle Reservoir, aus dem die Aufklärung des 18. Jahrhunderts schöpfte. Noch die »Enzyklopädie« (1751-1780) von Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert und Louis de Jaucourt zehrte davon. Bayles »Dictionnaire« mit seinen 3300 Seiten im Folio-Format war die Initialzündung und das Grundbuch für die Aufklärung.
Bedeutung und Wirkung seines Werks kontrastieren mit dem unspektakulären Leben Bayles. Er wurde als mittleres von drei Kindern am 18. November 1647 im Pyrenäen-Städtchen Le Carla geboren (heute Carla-Bayle im Département Ariège). Der Vater war calvinistischer Pastor und so arm, dass die Kinder nur nacheinander die weiterführende Schule in Puylaurens besuchen konnten, wo sie, die zu Hause Okzitanisch sprachen, überhaupt erst richtig Französisch lernten. So kam es, dass Pierre als 19-jähriger Mann zusammen mit 12-jährigen Buben unterrichtet wurde.
Aus unbekannten Gründen floh Bayle im November 1668 von Puylaurens nach Toulouse, wo er im Jesuiten-Gymnasium aufgenommen wurde, ein Stipendium erhielt und am 16. März 1669 zum Katholizismus konvertierte. Nach dem Schulabschluss im August 1670 flüchtete er erneut und kehrte nach nur 18 Monaten zum Calvinismus zurück.
Damit gehörte er für die Behörden und für die Kirche zu den »Rückfälligen« (»relaps«), denen seit 1663 ein Bußgeld, seit 1665 die Verbannung und seit 1669 die Enteignung drohte. Der Westfälische Friede vom 24.10.1648 hatte zwar die Religionskriege zwischen den Staaten vorübergehend beendet, aber innerstaatlich ging die Verfolgung von Protestanten in Frankreich nicht nur weiter, sondern wurde unter der Herrschaft Ludwigs XIV. ab 1661 verstärkt.
Bayle blieb also nur die Flucht ins calvinistische Genf, wo er sich vom September 1670 bis Juni 1674 als Hauslehrer durchschlug. Nach kurzen Aufenthalten in Rouen und Paris erhielt er an der protestantischen Akademie in Sedan einen Lehrstuhl für Philosophie, den er bis zum Juni 1681 innehatte. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Akademie geschlossen, die Repression intensiviert: Kirchen brannten, protestantische Hebammen durften nicht mehr arbeiten, zur Konversion bereite, protestantische Schuldner erhielten eine dreijäh-rige Stundung ihrer Schulden. Im Sommer 1681 ordnete der königliche Intendant im westfranzösischen Poitou die ersten »Dragonnades« an, d. h. die Zwangseinquartierung von Soldaten in protestantischen Haushalten. Die protestantischen Familien mussten, solange sie nicht bereit waren zu konvertieren, die religiös aufgehetzte Soldateska beherbergen und verpflegen.
Bayle und den anderen Professoren in Sedan blieb nur noch das Exil. Im Oktober 1681 traf Bayle in Rotterdam ein und blieb hier bis zu seinem Tod 1706 – zunächst als Lehrer für Philosophie und Geschichte mit einem bescheidenen Gehalt an der »schola illustris«, dem städtischen Gymnasium. Die Stelle hatte ihm Pierre Jurieu – ein Kollege aus Sedan – vermittelt. Dieser betrachtete sich als Schutzpatron Bayles, wurde aber ab 1691 zum schroffsten Gegner, als es wegen theologischer und politischer Differenzen zu einem Pamphletkrieg zwischen den beiden kam.
Von 1682 an erschienen in rascher Folge die ersten Schriften von Bayle – alle anonym, obwohl die Niederlande damals das einzige Land waren, in dem faktisch völlige Pressefreiheit herrschte: In der »Lettre sur la comète« (»Gedanken über den Kometen«, 1682) nimmt Bayle das Auftauchen eines Kometen im Dezember 1680 zum Anlass, theologische Spekulationen, die dieses Ereignis als Vorboten für kommende Naturkatastrophen deuteten, mit dem Hinweis auf die Erfahrung und mit logischem Scharfsinn als Aberglaube zu entlarven: »Es gibt Unglücksfälle ohne Kometen und Kometen ohne Unglücksfälle.«
Die Schrift erschien ein Jahr später stark erweitert unter dem Titel »Pensées divers« (»Verschiedene Gedanken«) und erweckte großes Aufsehen. Bayle entwickelte darin seine Thesen zum Verhältnis von Moral und Religion sowie von Wissen und Glauben. Weil die Erfahrung zeige, so Bayle, dass »die Neigung Böses zu tun« bei Heiden und Atheisten nicht stärker ausgebildet sei als bei Christen, schließt er, dass es nicht der christliche Glaube an Gott sein könne, der ein gesellschaftliches Zusammenleben bzw. einen Staat ermögliche. Umgekehrt hielt er einen Staat auf strikt christlicher Grundlage für überlebensunfähig, da die weniger friedfertigen Nachbarstaaten über diesen herfallen würden. Das war kein Argument gegen den Glauben, sondern eines für die Trennung von Religion und Politik ebenso wie für die Trennung von Wissen und Glauben sowie Moral und Religion.
Bayle schockierte das Publikum mit der kühnen Überlegung, dass »eine Gesellschaft von Atheisten« weniger Unordnung stiften würde als ein von Fanatismus und Ketzerverfolgung geprägter christlicher Staat, der im Namen der Religion Kreuzzüge und andere »Freveltaten« anstifte. Religionen, wird er später formulieren, bemächtigten sich »des Rechts, alle anderen zu vernichten« und machten so »aus der Welt ein blutiges Theater der Verwirrung und der Schlächterei.«
Unterstützt von zwei Gönnern und dem Buchdrucker Henry Desbordes gab Bayle ab März 1684 die »Nouvelles de la République des Lettres« heraus – eine monatliche Rezensionszeitschrift, die bald europaweit bekannt und zum Vorbild für andere Publikationen wurde. Bayle richtete sich nicht nur an Gelehrte, sondern an »Damen und Herren«, die an »Wissenschaft« interessiert waren. Er betonte die Meinungsfreiheit und plädierte für deren Ausübung »ohne die Erlaubnis jener, die regieren.«
In Paris hatte man ein Jahr zuvor ein Buch von Bayle zur Geschichte des Calvinismus öffentlich verbrannt. Das Einsickern seiner Zeitschrift konnten die Behörden nicht verhindern, und Bayle selbst saß in den Niederlanden. Deshalb ließen französische Behörden im Juni 1685 seinen Bruder Jacob verhaften und steckten ihn in Bordeaux in ein Gefängnis, in dem er ein halbes Jahr später starb. Jacob Bayle hätte sich mit einem Lippenbekenntnis zum Katholizismus hinwenden und danach ins Exil gehen können. Wie viele Protestanten war er zu diesem Verrat am Gewissen nicht bereit.
Die religiöse Verfolgung nahm zu. Das Edikt von Nantes Heinrichs IV. vom April 1598 gewährte den Protestanten in 92 Artikeln zwar eine gewisse Anerkennung und Duldung – keineswegs die Gleichberechtigung – und beendete damit den religiösen Bürgerkrieg. Unter dem Druck der Kirche widerrief Ludwig XIV. dieses längst ausgehöhlte Toleranzedikt am 17. Oktober 1685. In mehreren Schriften rechnete Bayle mit der Entrechtung der Protestanten scharf ab und entwickelte dabei die theoretischen Grundlagen für sein Verständnis von Gewissensfreiheit, Toleranz und das Verhältnis von Religion und Moral.
Die Position der Kirche stand quer dazu. In der Tradition des Kirchenvaters Augustinus wurde die Bibelstelle »nötige sie hereinzukommen« zum Abendmahl (Lukas 14, 23-24: »compelle intrare«) so ausgelegt, dass unter bestimmten Umständen Ungläubige, Ketzer und Heiden mit Zwang zum rechten Glauben bekehrt und mit Gewalt getauft werden durften. Gegenüber dieser alten Tradition des Gewissenszwangs entfaltete Bayle seine Vorstellung, wonach der Glaube weder auf Dogmen noch auf der Theologie beruhe, sondern auf göttlicher Gnade, auf der in der Bibel geoffenbarten Religion und auf dem individuellen Gewissen. Darauf mit Zwang einwirken zu wollen, sei aussichtslos, zumindest sei die Wirkung von außen und rational nicht überprüfbar. Der Zwang sei obendrein gegen Gott gerichtet. Denn der Glaube und »die Mysterien, die Gott uns offenbart hat«, seien Gewissensfragen.
Gelegentlich spitzte Bayle diese These dahin zu, dass er dem irrenden Gewissen die gleiche Berechtigung zusprach wie dem wahren Gewissen. Das führt, wie der Frankfurter Philosoph Rainer Forst jüngst dargelegt hat, in eine Sackgasse: wenn das irrende Gewissen mit dem wahren gleichberechtigt ist, müsste auch ein Fanatiker, der sich bei der Verfolgung des »falschen Glaubens« oder Andersgläubiger auf sein Gewissen beriefe, toleriert werden. Toleranz würde damit zum Mittel, intolerant gegenüber Andersgläubigen zu handeln.
Auf das Gewissen lässt sich also Toleranz folglich vernünftig nicht begründen. Aber das Gewissen war weder Bayles einziges noch sein letztes Wort zur Begründung der Toleranz. Der Anti-Dogmatiker, der nichts so sehr verabscheute wie philosophische und theologische Systeme und der stolz war auf seine verbalen Aus- und Abschweifungen, hat sich in seinem »Commentaire philosophique« (1686/1704) wie im »Dictionnaire« die Freiheit genommen, auch auf Anderes als das hermetische Gewissen zu setzen. Gelegentlich sagt er von der menschlichen Vernunft zwar, sie sei »destruktiv« und tauge nur dazu, »alles zu verwirren«; an anderen Stellen aber bedient er sich ihrer jedoch virtuos. So zum Beispiel in der radikalen und scharfsinnigen Kritik der Geltungsansprüche von Astrologie, Aberglaube und theologischen Spekulationen.
Außer auf die Immunisierung von Glauben und Gewissen gegen eine rationale Überprüfung vertraute Bayle auf »das natürliche Licht« einer von der Religion unabhängigen, vernünftig begründeten Moral. Diese ist auch Heiden, Ketzern und Atheisten zugänglich. Sie ermöglicht und belegt zugleich die Teilhabe aller Menschen am »ursprünglichen und allgemeinen Licht«, d. h. an einer Vernunft, die nicht ewig und unzugänglich ist – wie die göttliche –, sondern historischem Wandel und menschlicher Beeinflussung unterliegt. Wer glaube, sich »als Schutzherr der Wahrheit« im Kampf gegen »Ketzereien dem Reich Gottes« zu nähern, »zerstampft alle Regeln der Moral« – nicht nur christliche Gebote. Denn es gebe »ein gewisses Gesetz der Natur, das alle Menschen ohne Regeln und Vorschriften verstehen und das den Unterschied zwischen Gut und Böse festsetzt.«
Bayle ist weder Atheist noch dogmatischer Calvinist, sondern ein gläubiger Kritiker, der jedoch Glauben und Wissen trennt. Er widerspricht dem Absolutheitsanspruch des Glaubens ebenso wie der Hybris des Wissens, alles – auch die Offenbarung – rational erklären zu können. Damit legte Bayle die Grundlagen für eine rationale Begründung wechselseitiger Toleranz in einem diskursiven Prozess, in dem »die Gründe dafür und dagegen bis zur letzten Replik« ausgetauscht und gewogen werden.
Bayle geriert so zwischen alle Stühle. Er zog sich – wie die Historikerin Elisabeth Labrousse in ihrer großartigen Bayle-Biografie (1963/64) dargelegt hat – nicht nur den Hass der Katholiken zu, sondern auch das Misstrauen der orthodoxen Calvinisten um Pierre Jurieu, die sich nach der Vertreibung des katholischen Königs Jakob II. vom englischen Thron (1688) radikalisierten und in seinem Nachfolger – Wilhelm III. von Oranien – ein Instrument Gottes sahen. Sie bliesen zum protestantischen Kreuzzug gegen das katholische Frankreich. Bayle verachtete solchen religiös imprägnierten Fanatismus und warnte vor einer »protestantischen Inquisition«. Er verteidigte die absolute Monarchie – nicht Ludwig XIV.! – mit der aus historischer Erfahrung und aus der Lektüre von Hobbes gewonnenen Einsicht, dass nur eine starke und religiös tolerante Monarchie den Religionsfrieden sichern könne. Bei der rechten und konservativen Kritik an Bayle – von Carl Schmitt bis zu Reinhart Kosellecks »Kritik und Krise« – handelt es sich bloß um ein triviales autoritäts- und staatsfixiertes Ressentiment gegen Aufklärung und Kritik überhaupt, wenn sie Bayle vorwerfen, er »zersetze« und untergrabe so jede staatliche Autorität unter dem Vorwand der Gewissensfreiheit. Toleranz gegenüber mehreren Religionen, Aufklärung und Kritik sind bei Bayle keine Gefahren für den Staat, im Gegenteil: sie »verhindern das Fortschreiten des Verderbens und sorgen für Respekt gegenüber Anderen.« Toleranz, Aufklärung und Kritik sind, im Gegensatz zu den staatsfixierten Souveränitätstheorien, keine Bürgerkriegsgeneratoren und Kriegsbeschleuniger.
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