Kitabı oku: «Liebe und Tod im Grenzland», sayfa 12
Emma hatte Paul zur Verlobung Strümpfe gestrickt. Sie konnte nicht gut stricken, hatte durch ihr Klavierspiel auch wenig Zeit. Dennoch strickte sie diese Socken, um ihm ihre besondere Zuneigung zu zeigen: in jeder Masche ein guter Gedanke. Paul hatte sich über alle Maßen gefreut, mehr als über die Garnitur Bettwäsche von Hermine und Gustav.
Das war unbewusst geschehen, aber Hermine hatte das sehr wohl registriert. Sie nahm die Strümpfe, betrachtete sie kritisch und sagte später zu Paul: „Wenn deine Emma alles andere auch nicht besser kann als stricken, dann gute Nacht.“ Ihre Ilse war eine perfekte Strickerin, was Emma neidlos anerkannte. Sie konnte anderes. Das wiederum ließ Hermine nicht gelten. Es interessierte sie nicht, dass Emma Klavier, Zither, Laute spielte und wunderbar sang. Dass sie ihre Sachen selbst nähte und gute Bücher las. Spinnereien waren das für Hermine. Emma war als Schwiegertochter durchgefallen.
In den folgenden fünf Jahren erblickten drei kleine Mädchen das Licht der Welt: Marie, die kernige Ernsthafte mit der tiefen Stimme, kastanienbraunem Haar und ebensolchen Augen, Renate, die blasse, oft kränkelnde Mittelblonde mit Honigaugen wie Emma, und Ute, die strohblonde, blauäugige Jüngste, Pauls kleiner Liebling.
Emma hatte auf Pauls Wunsch ihre Arbeit bei der WKK aufgegeben, als sie schwanger wurde. Es war Pauls Stolz, seine Frau und die kommenden Kinder allein ernähren zu können.
Emma hatte versucht, ihre Sache als sparsame Hausfrau, Köchin, fantasievolle Mutter und liebevolle Ehefrau gut zu machen. Nach besten Kräften setzte sie sich ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr eines Tages die Kräfte ausgehen könnten.
Als Paul eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, saß Emma auf der oberen Stufe der steilen Holztreppe in ihrem zweiten Stockwerk, hatte die Hände vor dem Gesicht. Die Haare der aufgelösten Knoten-Frisur hingen zu beiden Seiten über die Hände. ‚Lass dich nicht so gehen‘, wollte Paul gerade empört sagen, da kam ihm Emma zuvor.
„Ich kann nicht mehr … bin völlig am Ende“, brach es aus ihr hervor. Sie weinte hemmungslos. Das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf ihre Bluse. Paul hatte geglaubt, mit Zusammenreißen, gutem Willen und eiserner Disziplin ließe sich jede Aufgabe meistern. Er lernte innerhalb der nächsten Stunden, dass dieses Rezept nur bedingt anwendbar war. Wenn die Kräfte aufgebraucht waren, die Nerven ihren Dienst versagten und der gute Wille demgegenüber schrumpfte und sich in Luft auflöste.
Emma hatte einen Tag hinter sich wie so manchen. Paul arbeitete hart, seine zusätzliche Geschäftsstelle Reichenbach ohne zusätzliches Personal beanspruchte ihn bis zu seinen eigenen Grenzen. Überstunden waren für ihn selbstverständlich geworden. An den Sonntagen zu Hause zu arbeiten, war für ihn ein Dank an das Schicksal, das es mit ihm trotz aller Startschwierigkeiten dennoch gut gemeint hatte. Auch den Urlaub ausfallen zu lassen, fiel ihm nicht schwer. Sie hätten ohnehin nicht in Urlaub fahren können. Dafür fehlte das Geld bei drei kleinen Kindern und nur einem Gehalt. Emma wollte ihrem arbeitsamen Mann ihre Sorgen nicht auch noch aufbürden.
„Marie hat dreimal das Bett vollgebrochen. Dreimal habe ich abgezogen. Die Wäsche trocknet schlecht bei dem feuchten Wetter in dem Keller da unten. Renate hatte wieder Ohrenschmerzen und jammerte fast den ganzen Tag. Die Ohrentropfen halfen nicht mehr“, Emma sprach schnell, die Tränen liefen weiter. Sie war kaum zu verstehen. Ihre Stimme war voller Verzweiflung, als sie fortfuhr: „Nur Ute war fröhlich und lächelte. Wenn ich die Kleine nicht hätte …“ Emma schüttelte den Kopf. Ihre aufgelösten Haare klebten an ihren feuchten Wangen. „Ich wollte zum Arzt mit den Kindern, stand vor der steilen Treppe. Plötzlich dachte ich: Ich werde da runterstürzen … mit dem Baby auf dem Arm. Hab nicht gewagt, da runterzugehen. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Paul stand fassungslos vor Emma, hob sie unter dem Arm hoch und ging mit ihr in die Wohnung. Es roch nach Windeln und Erbrochenem. Die Windeln kochte Emma in dem Wäschetopf in der Küche. Der Geruch war unvermeidlich.
Paul erfuhr, Emma habe seit langem den Eindruck, dass ihre Kräfte immer weniger würden. Die zwei Treppen mit drei kleinen Kindern. Renate, die nicht nur einmal die Treppe runtergefallen war und sich ein Loch in der Stirn geholt hatte. Der Kinderwagen, der unten nicht stehenbleiben konnte. Der Hausflur war zu eng. Er musste täglich bei dem Spaziergang rauf- und runtergetragen werden. Emma sagte: „Wenn ich mal eine Nacht ruhig schlafen könnte! Wenn mal einen Taglang kein vollgebrochenes Bett wäre! Wenn mal einen Tag Renate keine Ohrenschmerzen hätte! Ich geh kaputt. Ich weiß nicht weiter. Paul, tut mir leid.“
Erschöpft! Höchste Alarmstufe, durchfuhr es Paul. Schnell musste etwas geschehen. Am nächsten Abend traf er sich mit Ewald nach Feierabend wieder in ihrer Fensternische im ‚Braunen Hirsch‘ auf ein Bier. „Kur“, sagte Ewald, nachdem er sich Pauls Leidensgeschichte angehört hatte. „Und meine drei kleinen Mädel hänge ich währenddessen in den Schornstein“, entgegnete Paul genervt, „du hast keine Kinder. Hast gut reden“, schob er aufgebracht nach. „Es gibt Kinderheime. Vier Wochen müssten doch zu vertreten sein. Vielleicht auch kürzer, wenn du deinen Jahresurlaub nimmst und mal selber euren Haushalt schmeißt.“ Paul in seiner Bedrängnis und aussichtslos erscheinenden Zwangslage tat Ewald leid. Paul war blass. Er war schmal geworden. Die Belastungen im Büro kannte Ewald. Er war selbst mittendrin. Dass drei Kinder in fünf Jahren keine Kleinigkeit für eine junge Frau und den jungen Familienvater waren, glaubte er ohne weiteres. „Wenn Emma nach vier Wochen wiederkommt, ist die steile Treppe in den zweiten Stock immer noch da. Und Emmas Angst davor. Und der feuchte Keller, in dem die Wäsche nicht trocknet.“ Paul musste sich zusammenreißen, in seiner Ratlosigkeit seinen Bierkrug nicht gegen die Wand zu schleudern oder einfach verzweifelt loszuheulen.
Ewald sah den Zustand seines Freundes, legte beschwichtigend seine Hand auf Pauls Unterarm, dann auf seine Schulter. „Wenn du den Rat eines wohlmeinenden Mitmenschen hören willst, so nicke mit dem Kopf“, sagte Ewald schmunzelnd, sein Gesicht nah vor Pauls. Paul nickte und beide lachten herzhaft. „Aber nicht gleich wieder aus der Haut fahren, wenn ich bitten darf“, warnte der gutwillige Kollege. „Geht klar“, sagte Paul und hatte sich wieder unter Kontrolle. Ewald schlug auf Pauls Schulter. „Dann noch einmal gut durchatmen.“ Paul grinste. Ewald machte eine vielsagende Pause. Zwischen Pauls Brauen entstand skeptisches Faltengekräusel. „Du kaufst ein Haus.“ Als Paul rot anlief und gerade wieder in die Luft gehen wollte, fuhr Ewald seelenruhig fort: „Ihr habt kein Geld. Völlig klar. Niemand hat Geld, der jung ist, kleine Kinder hat und ein Haus braucht. Aber gerade diese Leute kaufen Häuser. Verschulden sich. Stottern ab. Und die Kinder wachsen im Grünen auf, mit Garten, mit Hund und viel Platz. Zu ebener Erde, ohne steile Treppe. Und einer Wäscheleine im Garten.“
„Bei dir piept’s“, entfuhr es nun dennoch Paul. „Vielleicht, oder auch nicht. Frag mal deinen Vater. Der ist doch Baufritze. Hat doch Beziehungen. Könnte dir doch einen Tipp geben. Oder?“ Paul nahm seinen Bierhumpen, sagte „Prost, Ewald“ und beide tranken ihr Bier aus. Paul musste nach Hause. Nachdenken. Und Emma helfen.
Alles ging danach ganz schnell. Wie zu erwarten, gab es nochmals viele Tränen, als Paul seiner Frau sagte, sie führe für vier Wochen zur Kur. „Und die Kinder?“, rief Emma verweint und zornig, weil Paul wieder einmal über ihren Kopf hinweg entschieden hatte, was sie zu tun und zu lassen hätte. „Warum werde ich nicht vorher gefragt?“, wütete sie. „Manche Entscheidungen muss das Familienoberhaupt treffen und verantworten“, befand er. Emma hasste diese einsamen Beschlüsse, insbesondere, da sie in der Kneipe unter Männern, statt mit ihr, der Partnerin, ausgetüftelt wurden. Aber sie hatte keine Kraft mehr. Nicht zum Streiten. Nicht für die viele Arbeit. Der Berg unerledigter Bügel- und Reparatur-Wäsche wuchs und wuchs. Das Rheuma in beiden Handgelenken wurde von der kalten Waschküche zunehmend schmerzhafter. Die wollenen Pulswärmer halfen kaum noch. ‚Kein Land in Sicht‘, dachte sie erschöpft und fügte sich schließlich mit abflauendem Zorn im Bauch.
Emma fuhr zur Kur. Paul versuchte, während seines Urlaubs die Arbeit zu Hause und mit den Kindern zu bewältigen. Betten machen. Baby wickeln und Fläschchen geben. Marie, die fünfjährige Älteste, half ihm. Frühstück für die Kinder. Auch hier half Marie. Abwaschen. Wäsche. Spazierengehen. Spielen. Einkaufen. Kinderwagen und Baby Ute die steile Treppe rauf- und runtertragen. Am fünften Tag war die Wäsche für die Kinder verbraucht. Das Geschirr stapelte sich. Marie und Renate mochten Pauls Essen nicht. Die Kartoffeln waren noch hart. Die Zwiebeltunke hatte keinen Geschmack. Paul schüttelte den Kopf.
Wie hat das Emma all die Jahre über geschafft? Sie hatte wenig geklagt. Er verstand, sie wollte ihn in Ruhe lassen, hatte er doch selbst im Büro genug am Hals. Der Unterschied war, dass er seine Büroarbeit inzwischen perfekt beherrschte. Menschenführung lag ihm. Emma wollte nicht geführt werden. Sie wollte Partnerin sein und einbezogen werden. Seine autoritäre Art brachte sie auf die Palme. Immer wieder plagten ihn Zweifel, was richtig sei. Ein Mann, der sich nicht durchsetzte, galt unter Männern als Trottel.
Wie kann eine Frau Respekt vor ihrem Mann haben, der nicht die große Linie bestimmt, fragte er sich. Er wusste niemanden, den er hätte fragen können. Seine männlichen Bezugspersonen waren wie er, hielten demokratisches Miteinander für neumodischen Quark. ‚Wo soll das hinführen. Nutzlose Familien-Dauerdebatten‘, pflegten sie zu resümieren.
Nach einer Woche Hausarbeit, Kinderpflege, Kochen, Putzen, Einkaufen hatte Paul das Gefühl, im Chaos zu versinken. Er liebte Ordnung, Sauberkeit, Struktur, wünschte sich die Kinder eingepasst, gehorsam, hilfsbereit.
Es gelang ihm nicht, seine Büro-Prinzipien in den Familienhaushalt zu übertragen und einen reibungslosen Ablauf zu erzeugen. Immer wieder störte Unvorhergesehenes seine Planung. Er rief das Kinderheim an. Und ging mit sich zu Rat.
Als Emma nach vier Wochen heimkehrte und auf ihn zukam, erinnerte sie ihn an damals auf dem Bahnhof in Breslau, als er sie zum ersten Mal sah. Sie strahlte wieder, freute sich, ihn wiederzusehen. Sie freute sich auf die Kinder, als sie gemeinsam zum Kinderheim gingen, um sie abzuholen. Die Wiedersehensfreude ertrank fast in Freudentränen der Kinder und der Eltern.
Wenige Tage später bat Paul Emma, sich selbst und die Kinder hübsch anzuziehen. Er wolle mit ihnen einen Ausflug machen.
Sie spazierten aus der Stadt, die Ahorn-Allee Richtung Hennersdorf entlang. Als Renate nicht mehr laufen konnte, nahm Paul sie Huckepack. Ute im Kinderwagen quietschte vor Vergnügen. Die fünfjährige Marie schob den Kinderwagen. Nach einer guten Stunde erreichten sie eine Vorstadtsiedlung. Die Häuser sahen neu aus, hatten noch keine Türen und Fenster. Paul stellte sich vor Emma und sagte zu ihr: „Such dir ein Haus aus.“ Emma schaute Paul an. Sie wedelte mit beiden flachen Händen gegeneinander vor ihrer Stirn und sagte zu ihm: „Paul, ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie sah ihn besorgt an. Auf Maries Stirn zeigte sich eine kleine steile Falte. Sie schaute zum Papa, dann zur Mama. War das hier ein Spiel oder gibt es gleich wieder Streit wie früher, vor Mamas Kur? „Mir geht es hervorragend“, entgegnete Paul und schmunzelte vielsagend. ‚Jetzt ist er übergeschnappt‘, fuhr es Emma durch den Kopf. Die viele Arbeit, die Überstunden, der fehlende Urlaub, der Versuch, den Haushalt während ihrer Abwesenheit zu bewältigen. Zu viel für ihren Mann, dachte sie erschrocken.
„Wie sieht es aus, hast du deine Wahl getroffen?“, fragte Paul erneut, „oder soll ich eins aussuchen?“
„Gut, ich suche jetzt eins aus. Und dann hörst du mit dem Quatsch auf. Es reicht.“ Emma schritt flott in die Siedlung hinein. Marie folgte mit dem Kinderwagen, Paul mit Renate auf den Schultern. Vor dem letzten Haus ganz links, da, wo nichts mehr kam außer Feldern und Wiesen, wo kein folgendes Haus die Sicht in die weite Landschaft versperrte, wo man die Neiße rauschen hörte, auf der Höhe eines Sandberges blieb sie stehen und sagte: „Dieses hier! So, und jetzt machen wir eine kleine Pause. Futtern unseren Kartoffelsalat, den Pudding und gehen wieder zurück in die Stadt. Du hast verrückte Ideen!“, sagte sie noch lachend zu Paul hin. „Manchmal könnte man wirklich glauben, dass bei dir eine Schraube locker ist.“
Es brauchte noch einige Zeit, bis Emma verstanden hatte, dass es Paul ernst war. Er brachte den Kaufvertrag für die Doppelhaushälfte mit nach Hause. In der anderen Haushälfte würden Hermine und Gustav wohnen. Wieder gab es viele Tränen, weil Emma sicher war, sie würden so viel Geld nie aus ihrem Budget herausschneiden können. „Wir werden alle im Schuldturm landen. Alle zusammen“, schluchzte sie. „Ich habe einen Wahnsinnigen geheiratet“, stellte sie fest, schüttelte ihren Kopf, wedelte erneut mit beiden flachen Händen gegeneinander vor ihrer Stirn und platzte plötzlich heraus. Sie lachte. Und lachte. Und lachte. Paul stimmte mit ein, Marie schaute die beiden an, dann lachte auch sie. Renate fand das Gelächter so komisch, dass sie mitlachte, ohne zu wissen, warum. Ute quietschte, strampelte und dirigierte mit ihren kleinen Armen. „Mit Volldampf in den Schuldturm“, resümierte Emma und konnte vom vielen Lachen kaum sprechen. Lachtränen liefen ihr aus den Augen. Sie nahm erst Paul, dann die Kinder in den Arm. Sie wusste aus sechs Jahren mit Paul, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Dass er keine wichtige Entscheidung traf, die nicht bestens durchdacht war. Bis ins Kleinste. Und Paul wusste, er konnte sich auf Emmas Sparsamkeit verlassen. Sie würde ihren Teil zu diesem Marathon an Sparen und notwendigen Einschränkungen beitragen. Helfen würde ihnen der Garten, den sie in einen kleinen Garten Eden verwandeln wollten. Mit viel Fleiß und noch mehr Naturdünger aus ihrer Senkgrube. Denn ihr Haus stand auf einem Sandberg. Dennoch war es nicht auf Sand gebaut.
Ute wurde ein Jahr, als sie in ihr Siedlungshaus einzogen.
12. Kapitel
Humboldtstraße
1939
Paul und Emma sitzen mit ihren Kindern an ihrem runden Wohnzimmertisch, der mit einer in zart pastelligen Streublümchen gestickten Tischdecke geschmückt ist und frühstücken. In einer bauchigen, lehmfarbigen Ton-Vase leuchten im Garten gepflückte Astern in herbstlichen Rottönen und verströmen ihren herben Duft. Dieser mischt sich mit dem Wohlgeruch von frisch gebackenem Hefekuchen und Malzkaffee mit Milch. „Es riecht nach Sonntag“, sagt Marie.
Sonntagsfrühstück bedeutet für die Familie: Es gibt Kuchen, trotz der mageren Zeiten. Emma hat es auch dieses Mal hingedeichselt, die nötigen Zutaten für den Lieblingskuchen zu ergattern und diesen gekonnt zu backen: einen Streuselkuchen aus einem Hefeteig, nach unermüdlichem Schlagen mit dem Holzlöffel aufgeplustert wie eine duftige Septemberwolke. Wattekuchen nennen die Kinder Emmas luftiges Backwerk. Glückstrahlend lächelt sie in die Runde. Genüsslich beißen die Mädchen in ihr zuckriges Kuchenstück. Zucker krümelt von ihren Lippen. Ihre Haut, gebräunt vom Sommer, die Augen leuchtend, glühen ihre Wangen rosig vor Behagen. Paul schneidet mit einem Messer die Streuseldecke seines Kuchenstücks, stapelt dieses auf die beiden anderen Streusel-Decken, um diese zuletzt zu verspachteln. Als Krönung nach den trockneren Hefesockeln. „Obersieger in Willenskraft“, bemerkt Marie bewundernd und sagt, was auch ihre jüngeren Schwestern denken dürften: „Meine Güte, so lange auf das Beste warten zu können!“
Da ertönt aus dem Volksempfänger die durchdringende Erkennungsfanfare, die eine Sondermeldung ankündigt. Das Signal für die Kinder, jetzt still zu sein, denn der Führer wird sprechen, und die Eltern wollen jedes einzelne Wort mitbekommen. Paul und Emma beugen sich nahe zu ihrem Radio und zeigen vorsorglich, den Zeigefinger vor dem Mund, ‚pst‘ in Richtung Kinder an.
Die Nachricht, die nun folgt, schlägt wie eine Granate in ihre frohgestimmte Sonntag-Morgen-Frühstücksrunde ein.
Paul ist blass geworden. Sein Messer hat er auf den Tisch gelegt. Den Bissen in seinem Mund scheint er vergessen zu haben. Emma schaut Paul mit großen, runden Augen verwirrt an. Auch der Kuchenbissen in ihrer ausgebeulten Wange scheint ihrem Bewusstsein entfallen. Mit halboffenem Mund, ernst und fragend schauen die Kinder auf ihre Eltern. Nur noch im Zeitlupentempo wagen sie weiterzukauen.
Eine dunkle Wolke hat sich beklemmend auf die eben noch frohe Sonntags-Kaffeerunde gelegt.
Der Führer hat gerade mitgeteilt: „Seit fünf Uhr wird zurückgeschossen.“
Der weiteren Meldung war zu entnehmen, polnische Grenzsoldaten hätten deutsche Grenzer angegriffen, worauf nun die Deutschen zurückschössen.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragt Emma, um die drückende Stille zu beenden, wenngleich sie die Antwort kennt. Paul räuspert sich umständlich. Seine Stirn zuckt. Die senkrechte Falte zwischen den Brauen hat sich vertieft. Dann sagt er mit entfernt klingender, knarzender Stimme: „Krieg hat das zu bedeuten.“
Emma, die das Gehörte weder fassen kann noch glauben will, versucht klar zu denken. Sie streicht eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht und schaut besorgt auf ihre Kinder: „Aber der erste Weltkrieg ist doch gerade mal 20 Jahre vorüber. Es kann doch nicht sein, dass der Führer einen neuen Krieg anfängt!“ Emma versucht zu erfassen, was da gerade wie eine Bombe in ihr Leben eingeschlagen ist. Entgeistert schüttelt sie wiederholt den Kopf und schaut Paul fortwährend an, gegen jede Hoffnung hoffend, alles sei nur ein böser Spuk, den Paul verscheuchen könne.
Paul kaut seinen trockenen Bissen langsam und irgendwie zu Ende. Sein Magen hat sich zugezogen. Die feinen Teile mag er in diesem beladenen Augenblick nicht mehr aufessen. Er wischt die Hände an der Stoff-Serviette ab, legt diese neben seinen Teller, räuspert sich und sagt nach einer Weile heiser: „Hitler will den Krieg, gefehlt hat nur noch ein Anlass. Anlässe lassen sich basteln, wenn man zum Beispiel die polnischen Soldaten lange genug provoziert hat.“ Er macht wieder eine längere Pause. Sorgenvoll fährt er fort: „Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Das Erste, was im Krieg auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit. Die Propaganda wird uns künftig sagen, was die offizielle Wahrheit ist, die wir zu glauben haben. Der Volksempfänger hier wird das Sprachrohr der Regierung sein, wenn demnächst alle Medien und die Presse gleichgeschaltet sind. Wer was anderes denkt und sagt, tanzt auf dem Vulkan.“ Pauls Lippen sind schmal geworden. Seine Hände, zuvor entspannt mit dem Kuchen beschäftigt, liegen zu Fäusten geballt neben dem Teller. Seine Stimme hat zuletzt gereizt geklungen.
Die Kinder schauen auf ihre Eltern. Sie verstehen nicht, wovon die Rede ist. „ Silence “, sagt Emma zu Paul und weist mit ihren Augen auf die beiden älteren Mädchen Marie und Renate. Die Eltern haben sich angewöhnt, Englisch zu sprechen, wenn die Kinder etwas nicht verstehen sollen. Marie und Renate sind Schülerinnen und hören in der Schule möglicherweise eine andere Version als zu Hause. Paul und Emma wollen die Kinder nicht in Gewissenskonflikte bringen. Nicht erst seit heut müssen Väter und Mütter achtgeben, was sie in Gegenwart ihrer Kinder sagen.
„Ich will Herbert kurz rüberholen. Seine Meinung interessiert mich. Als Lehrer für Geschichte und Mathematik hat er mehr Ahnung als wir.“
Sie treffen sich in Pauls Herrenzimmer, in dem er normalerweise an den Wochenenden die mitgebrachte Arbeit erledigt. Paul schließt das Fenster. „Vorsicht, nicht schwätzen, Feind hört mit“, zitiert Emma einen Spruch, der gegenwärtig allerorten auf Plakaten, an Hauswänden und Litfass-Säulen prangt. Wie immer versucht sie, mit einem Scherz eine eingetrübte Stimmung aufzuhellen, heut allerdings vergeblich.
Die Kinder sind auf die Straße gegangen, um mit Nachbarskindern zu spielen und haben ihr angebissenes Kuchenstück mitgenommen.
Herbert sieht aus wie Paul: Grau im Gesicht, zerfurcht die Stirn, wie gealtert. Sein Begrüßungslächeln misslingt zu einer verrutschten Larve. Mit leiser, müder Stimme stellt er fest: „Seit der Führer die Macht übernommen hat, wurde mehr und mehr deutlich, dass seine Politik auf einen Krieg zuläuft“, sagt Herbert. Er hat sich auf einen der drei dunkel- braun-grünen Plüsch-Sessel gesetzt, den rechten Ellenbogen auf ein Knie gestützt; die fünf Finger seiner Hand streichen über seine verknitterte Stirn. Grüblerisch schaut er zu Boden. „Der Führer meint, Deutschland brauche mehr Lebensraum. Kurz nach seiner Machtübernahme am 30. Januar 1933 erklärte er bereits den Befehlshabern von Heer und Marine, er wolle den Lebensraums der Deutschen nach Osten hin erweitern und sähe die Jahre 1943 bis 1945 dafür als günstig an. Machterweiterung erfordere Krieg. Da er überzeugt ist, erfolgreich zu sein, schließt er ein Risiko aus.“ Herbert nimmt seine Brille ab, hält sie in Richtung Fenster, schaut hindurch, nimmt sein Taschentuch, haucht die Brille an und putzt sie ausgiebig. Paul und Emma sehen ihm dabei zu, als hinge es von seiner blanken Brille ab, die Beklemmung dieses Sonntagmorgens zu verscheuchen.
„Die Verschuldung des deutschen Staates ist so immens, dass diese Schulden nur beglichen werden können durch Güter und Vermögen, die bei einem Sieg den Deutschen zufallen. Das ist einkalkuliert“, sagt Herbert nach längerer Gedankenpause. „Die verdeckten Kriegsvorbereitungen, wie der Bau von Autobahnen, der Wiederaufbau der deutschen Wehrmacht, oder die Schaffung neuer Organisationen zur ideologischen Vorbereitung der Deutschen auf diesen Krieg haben Unsummen verschlungen. Die bisherigen Schulden wurden finanziert über Wechsel, die deutsche Kleinsparer kaufen in der sicheren Erwartung, ihre Ersparnisse mit hoher Rendite am Ende des Krieges zurückzuerhalten. Schaut man sich die Aktivitäten der vergangenen sechs Jahre seit 1933, dem Jahr der Machtergreifung an, fügt sich alles nahtlos zu einem Mosaik, dem geplanten Krieg.“ Je länger Herbert redet, desto hoffnungsloser klingt seine Stimme.
Paul hat einerseits Skrupel, seinem Freund, der offensichtlich schwer durchhängt, mit weiteren Fragen zu kommen. Doch allzu viele Fragen brennen auf seiner Seele. So unterdrückt er seine Gewissensbisse und forscht weiter:
„Was sagen die Westmächte dazu, die Verfasser des Versailler Vertrages?“ Herbert setzt sich aufrecht in den Sessel, nimmt seine Brille ab und setzt sie wieder auf, bevor er antwortet: „Das wird man sehen. Bisher haben sie sich begnügt, mit Protesten zu reagieren, wenn ihnen eine allzu eigenmächtige Handlung des Führers nicht gefiel. Ich denke da an verschiedene einseitige Vertrags-Aufkündigungen. Sie fühlen sich noch nicht stark genug für einen Krieg.“
„Ich dachte, die Deutschen müssten für alle Zeiten genug haben vom Krieg nach den Erfahrungen, die sie mit dem ersten Weltkrieg gemacht haben“, sagt Emma vorwurfsvoll und spricht lauter als sie sollte. Sie gießt Herbert einen Pfefferminztee nach und reicht ihm die Zuckerdose.
„Danke, Emma. Der Führer hat es geschafft, zu vermitteln, er sei von der Vorsehung auserkoren, aus Deutschland etwas Großes zu machen. Die Deutschen seien das arisch-germanische Volk, berufen, die Herren über die slawischen Untermenschen des Ostens zu sein. Solch große Worte tun gut, wenn man zuvor als Deutscher durch den Versailler Vertrag und seine schmählichen Folgen moralisch am Boden zertreten wurde. Es konnte nicht gutgehen, dass 2,1 Millionen Deutsche der Autorität Polens unterstellt wurden. Andere Konfession auf der einen Seite, auf der anderen das Wissen, dass Polen niemals in der Geschichte in der Lage war, sich selbst zu regieren. Das hatten bereits die Briten David Lloyd George und der Franzose George Clemenceau nach Abschluss des Versailler Vertrages festgestellt.
Unseren Glauben an uns selbst hat uns der Führer wiedergeben und ist inzwischen unser Heiland, dem wir zutrauen, uns in eine ruhmreiche Zukunft zu führen. Diese Zukunftserwartung blendet schleichend Dinge aus, die man nicht nur nicht gutheißen kann. Sie sind, wenn sie zutreffen sollten, unmenschlich, ja verbrecherisch!“
Herberts Stirn gleicht einer alten Baumrinde, denkt Emma. Obgleich nur vier Jahre älter als Paul, sieht er altersmäßig mehr Pauls Vater ähnlich, der mit ihnen zusammen die andere Doppelhaushälfte bewohnt, als Paul, seinem vier Jahre jüngeren Freund.
„Momentan muss ich meinen Schülern Dinge sagen, die ich selbst nicht glaube. Verrat an meinem Gewissen und schwer zu verkraften. Ich muss aufpassen, nicht eines Tages in mein eigenes Spiegelbild zu schlagen.“ Herbert schüttelt den Kopf, legt beide Hände aneinander und sein vergrämtes Gesicht auf die wie zum Gebet senkrecht gepaarten Hände.
„Gibt es keine andere Wahl? Was geschähe, wenn du deine Meinung ehrlich mit den Schülern diskutiertest?“ Emma kommt sich bei ihrer Frage selbst reichlich naiv vor.
„Ich kann auswandern, denn als Beamter habe ich die offizielle, gleichgeschaltete Meinung der einen, allumfassenden Partei zu vertreten. Oder ich kann mir eine Kugel in den Kopf schießen. Hast du Familie, musst du gegenwärtig Anwandlungen heroischen Edelmuts im Kohlenkeller vergraben. Widerlich, ich weiß. Wahl zwischen Charakterschwein oder Tod.“
Herbert macht eine Pause, trinkt einen Schluck des frischen Pfefferminztees, bevor er mit gedämpfter Stimme nach einer Pause fortfährt: „Ich hoffe, meine Selbstachtung, mein Überlebenswille und meine Nerven-Kraft, Schülern verdrehte Fakten vermitteln zu sollen, reichen, bis dieser Spuk in nicht allzu ferner Zukunft ein Ende hat. Jede Stunde Zeitgeschichte ist für mich eine Tortur. Ich müsste meinen Schülern sagen: ‚Seid vorsichtig, ihr Jungen. Wir haben es erlebt, was aus einem kleinen Brandherd werden kann, einem einzigen Schuss aus einem Gewehr. Am Ende blieb blutgetränktes, zerstörtes Land, waren fünf Millionen Tote zu beklagen, zerstörte Familien, kranke oder tote Väter und Söhne. Gab es Hunger und Elend. Nicht nur die Deutschen waren von all dem Elend betroffen.‘ Das alles würde ich meinen Schüler sagen müssen, wenn ich den Mut hätte, für meine Überzeugung ins Zuchthaus zu gehen und wegen Verhetzens der Jugend aufgehängt zu werden. Was wäre erreicht? Meine Familie zerstört. Geändert hätte sich durch meinen pompösen Todesmut nichts. Schon, dass ich heut mit euch beiden so offen rede, könnte mich den Kopf kosten. Aber Ihr seid meine Freunde, und ich kann mich auf euch verlassen. Wohltuend, aussprechen zu können, was sonst nur Gedanken sind.“ Emma tat dieser Mann leid, der aufgewühlt vor ihnen saß und durch seinen Beruf in doppelter Zwangslage steckte.
Auch Paul war in die Partei eingetreten. Als Führungskraft im öffentlichen Dienst hoffte er, mit diesem Schritt unangenehmen Fragen zu entgehen.
Emma sann, auch bei ihnen galt: Unser kleines Glück ist so kostbar und schützenswert, dass jede Gefährdung vermieden werden musste. Für Heldenmut war nicht die Zeit. Ein viel zu kleines Rädchen im Getriebe waren sie, als dass eine Heldentat irgendwas Positives bewirken konnte. Ihr Haus abzustottern, bescheiden zu leben und ein Leben zu bewerkstelligen, an das sich die Kinder eines Tages gern erinnern konnten, war mühselig genug.
Emma sagte: „Ich verstehe dich und wünsche dir alle Kraft für deinen täglichen Seelen-Spagat. Ein einziger Schüler, scharf gemacht von der Hitlerjugend, seinem Vater oder wem auch immer, könnte dir das Kreuz brechen. Dank dir für dein Vertrauen. In dieser Zeit sind vertrauenswürdige Freunde ein Kleinod.“ Emma legte ihre Hand auf den Handrücken des Freundes. Ihr kleines Lächeln war einfühlsam und zugetan. Alle schwiegen eine Weile.
Emma sagte: „Ich wünsche mir vor allem, dass wir unseren Kindern solange wie möglich das Gefühl eines normalen Lebens erhalten können. Meine Hoffnung, vielleicht wird das kleine Feuerchen in Polen gar kein Flächenbrand, und wir haben uns umsonst gesorgt.“ Sie tranken gemeinsam ihren Pfefferminztee, den Emma immer wieder nachgegossen hatte. Pfefferminztee aus der Minze in ihrem Garten.
Als Herbert gegangen war, sagte Emma zu Paul: „Die heutige Kriegsbotschaft ist ja nicht der erste Schrecken seit Hitlers Machtergreifung. Das Strickmuster sieht immer ähnlich aus. Denk an den Reichstagsbrand vor sechs Jahren. Es hieß, Kommunisten seien die Verursacher gewesen. Anschließend wurden scharenweise KP-Funktionäre verhaftet. Wurde wirklich bewiesen, dass sie es waren? Es gab auch Stimmen, die Zweifel am vermeintlichen Brandstifter äußerten.
Wir werden die Wahrheit nicht erfahren. Die Rassegesetze vor vier Jahren mögen zwar gut für die blonden und blauäugigen Menschen in unserem Land geklungen haben, die plötzlich zu einer besonders schützenwerten Gattung wurden. Aber ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die diesem Bild nicht entsprechen. Anmaßende Vorstellung, die arischen Menschen seien per se die höherwertigen. Man könnte das alles als Schnapsidee abtun, wären da nicht die ungeheuerlichen Methoden, mit denen die Juden aus unserer Gemeinschaft aussortiert werden. Auch da wissen wir ja nichts Genaues. Es sind Gerüchte. Ich hoffe, dass einige der Fantasie entsprungen sind. Die Betroffenen sind Menschen, die Familien haben, Kinder, einen Beruf. Mir graut bei der Vorstellung, wir alle, wir Deutschen, könnten eines Tages für diese Schandtaten belangt werden von einer Art höherer Gerechtigkeit.“
Emma hatte sich in Rage geredet. Sie strich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre honigbraunen Augen funkelten erregt. Ihre unruhigen Hände suchten nach einer Bleibe und schoben sich schließlich hinter den Latz ihrer Schürze.