Kitabı oku: «Liebe und Tod im Grenzland», sayfa 11
Paul bot ihr seine Hilfe an, sobald er wieder arbeiten könne.
Als Paul genesen war, ging er, wie versprochen, allabendlich nach Dienstschluss zur WKK-Geschäftsstelle und half, Rückstände aufzuarbeiten. Sein Volontariat neigte sich dem Ende zu. Er konnte bei der Bank anfangen. Fräulein Hauf fragte ihn, ob er nicht als Vollzeitmitarbeiter in der WKK arbeiten wolle. Das lockte ihn mehr als das Geschäft mit Geld, und er sagte zu.
Paul verschaffte sich zunächst einen Gesamtüberblick über die Arbeitsrückstände. Sie waren größer als befürchtet. Für ihn erschütternd waren die Zustände in der Buchführung. Immer wieder blieb ihm nur ein Kopfschütteln. Ob Gehälter oder Mitgliedsbeiträge, das Durcheinander war beängstigend. Als Paul mit Fräulein Hauf darüber sprach, sagte sie mit resigniertem Schulterzucken: ‚Ich weiß, könnten Sie sich vorstellen, die Geschäftsleitung zu übernehmen?‘ Ja, Paul konnte sich das durchaus vorstellen, und er stimmte zu. Er traute sich zu, innerhalb einer angemessenen Frist Ordnung zu schaffen. Fräulein Hauf schrieb an die Zentrale, die Paul ein Jahr nach seiner Einstellung die Geschäftsleitung probeweise übertrug.
Zu seinen ersten Leitungs-Aufgaben gehörte, den Ist-Zustand zu erheben und diesen der Zentrale mitzuteilen. Gleichzeitig beantragte er eine Buchungsmaschine, die bewilligt wurde. Die Revisoren erhielten den Auftrag, die Geschäftsstelle scharf zu beobachten, weil Paul der jüngste leitende Mitarbeiter im damaligen deutschen Reich war. Oft bekam er Besuch von den Revisoren, und gewann den Eindruck, dass sie intensiver prüften als üblich. Die Berichte, die sie anschließend schrieben und mit ihm besprachen, konnten sich sehen lassen. Nach einem Jahr wurde er endgültig als Geschäftsführer bestätigt.
„Inzwischen klappte das meiste, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Buchungsmaschine war eingetrudelt, und in mühsamer allabendlicher und sonntäglicher, schweißtreibender Sisyphusarbeit habe ich herumgeknobelt, die Funktionen zu verstehen und mir beizubringen. Fragen konnte ich ja leider keinen“, Paul hatte stakkato-artig einzelne ihm wichtige Wörter betont und musste nun selbst über die Darstellung seiner Heldentaten lachen. Tante Selma, die während der Erzählung Pauls kerzengerade dasaß, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf den Knien gefaltet, nur hin und wieder wie zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, lehnte sich nun in ihrem Stuhl zurück. Ihr Körper entspannte sich, und auch sie lachte herzlich. Paul erzählte gut. Es machte ihr Spaß, ihm zuzuhören. Paul nahm sich bei aller Leistungskraft und Arbeitsfreude nicht wichtig, neigte eher zum Tief- statt zum Hochstapeln. Das gefiel ihr. Er war bescheiden geblieben.
Vor dem Fenster sang eine Amsel hingebungsvoll und volltönend ihr Nachmittagslied. Selma und Paul schauten beide zum Fenster und lächelten sich an. „Schön, nicht wahr?“, sagte Selma, leuchtend vor Freude.
„Möchtest Du noch Kaffee oder eventuell einen kleinen Likör, ebenfalls ein Geschenk?“
„Wenn noch Kaffee da ist und ich dich nicht schädige, gern.“ Selma nahm die Mütze von der Kanne und goss Paul den Rest ein. Sie stellte Kanne und Mütze seitlich auf einer Anrichte ab und eine bauchige Glas-Vase mit wilden Margueriten und Kornblumen auf den Tisch. „Hat mir gestern eine Schülerin mitgebracht. Vom Feldrain gepflückt. Ich mag Wildblumen so gern. Sie weiß, dass ich Kornblumen und Margueriten besonders liebe. Kleine Alltagsfreuden.“ Tante Selma sah die Blumen an, dann wieder Paul und ermunterte ihn, weiterzuerzählen.
„Ja, so ganz viel gibt’s da nicht mehr zu erzählen. Ich kämpfe noch jeden Tag mit den Tücken der Technik, was meine Buchungsmaschine anbelangt, gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass wir beide, meine Buchungsmaschine und ich, eines Tages gute Freunde werden.“ Wieder lachten beide herzerfrischend. „Ich bin nun mal kein ausgemachter Technikfreund und würde in der Zeit lieber im Garten meiner Eltern umgraben oder Stachelbeeren pflücken und essen. Aber ein Beruf ist nun mal kein Kinderzoo. Eines Tages werde ich die Buchungsmaschine lieben, wenn wir uns noch nähergekommen sind und unsere beidseitigen Talente zu schätzen wissen. Möge dieser segensreiche Morgen bald anbrechen.
Wenn ich nicht mit meiner Buchungsmaschine im Clinch liege, besuche ich Betriebe, um viele neue, junge und aus Kostengründen möglichst gesunde Mitglieder zu werben und unsere Leistungen, die sich sehen lassen können, anzupreisen.“
Paul kniff Selma lachend ein Auge, um sicherzugehen, dass sie den Scherz erkannt hatte. Selma schmunzelte vergnügt, und er fuhr beruhigt fort: „Ich fahre zu den Zahlstellen, um die Zahlstellenbetreuerinnen anzuleiten und deren Fragen zu klären. Ich schule wie ein jugendlicher Oberlehrer meine Mitarbeiter in der Geschäftsstelle und rede mit schwierigen Kunden, die durch ihre cholerische Ader meine braven Mitarbeiter allzu sehr nerven würden. Mein Ziel ist, meine Geschäftsstelle schnell auszubauen. Ich sehe das sportlich. Spätestens in zehn Jahren möchte ich die Nummer Eins hier im Osten sein.“ Paul war aufgestanden, straffte sich, trommelte mit beiden flachen Händen auf seine Brust wie ein Silberrücken und grinste verschwörerisch mit Siegermiene in Selmas Richtung.
„Ich wünsche Dir dabei alles Glück der Welt.“ Selma nickte zustimmend und sagte freudestrahlend, während sie seine Hand nahm: „Ich bin vollkommen sicher, dass du das erreichen wirst.“
„Und was macht die Liebe?“, fragte Selma. Bei dieser Frage wurde Paul heiß. Er liebte sie, das wusste Selma. Sie war nicht zu haben. Das hatte sie klar gesagt. Jemand anderen liebte er nicht, und das konnte er sich auch nicht vorstellen. Andererseits würde er gern heiraten. Deshalb sagte er in einem inneren Zwiespalt, der ihm unüberbrückbar schien: „Ja, ich würde gern heiraten. Jetzt sind die finanziellen Grundlagen da. Ich möchte Kinder, eine Familie, ein Traum wäre das. Ein ganz wunderbarer Traum.“
„Und warum heiratest du dann nicht?“ Selma kannte die Antwort, versuchte jedoch, so unbeteiligt wie möglich auszusehen. „Wie, wann und wo sollte ich eine Frau finden? Erstens bin ich klein, zweitens trage ich eine Brille …“
„… und drittens bist du ein wunderbarer junger Mann, ein Glücksfall für jede junge Frau“, vollendete Selma seinen Satz, wohl wissend, dass die schwierigen Anfangsjahre ihm noch immer zu schaffen machten. Er fühlte sich trotz aller Leistungen in der Schule, bei seinem Vater, der Bank, seinem Weg bei der WKK noch immer minderwertig. Sie fand es wichtig, ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit Selbstvertrauen zu vermitteln, wichtig für sein Wohlbefinden und sein künftiges Glück.
„Und wenn ich jemanden für Dich wüsste?“, fragte Selma sehr leise, sehr behutsam, ihm zugewandt und voll freundschaftlicher Zuneigung. Paul stockte einen Moment lang der Atem, und wieder durchfuhr es ihn heiß. „Sie müsste sein wie du“, erwiderte er nach einigem Nachdenken sehr leise und sah sie einen Momentlang scheu und sehr traurig an. „Nein, Paul, sie muss nicht sein wie ich. Es gibt in jedem Leben nicht nur einen Menschen, den wir lieben können. Sie kann ganz und gar anders sein. Es braucht nur eines: das eigene Herz zu öffnen. Ja, und Mut gehört dazu. Die Frage ist, willst du dir und einer Frau die Chance geben?“
Er hatte mit dem Herzen zugehört. Er wollte Selma verstehen. Er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen jemals zu lieben, wie er sie liebte. Ihm erschien als Verrat, die übergroße Liebe in seinem Herzen, die nur ihr galt, aufzuteilen. Ihm war elend und zum Weinen. Ja, sie hatte sicher Recht, dass es Mut brauchte, um sich einem ganz neuen, fremden Menschen zuzuwenden und sein Herz nach und nach aufzutun. Er wollte in ihren Augen kein Feigling sein. Doch er fühlte sich innerlich noch ewig weit entfernt von diesem nötigen Mut. Andererseits, wenn Tante Selma eine Frau kannte, niemandem außer ihr traute er mehr zu, zu wissen, welche Frau gut und richtig für ihn sein könnte.
Beide hatten sie lange geschwiegen. In seinem Kopf und Herzen tobten wild zwei Gegenkräfte. ‚Ich möchte ja‘, schrie die eine, ‚ich kann aber nicht‘, die andere. Selma hatte tiefes Mitgefühl mit Paul. Und noch einmal versuchte sie, nicht an sich selbst zu denken, nicht seine ungeteilte Liebe für sich behalten zu wollen. ‚Nein und nochmals nein!‘, gebot sie sich energisch. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute scheinbar gleichgültig hinaus. Paul brauchte jetzt Zeit. Und sie auch.
Sie kam zurück, nahm die leere Kaffeekanne und Kaffeemütze von der Anrichte und trug beides in ihre kleine Küche nebenan. Dann kam sie zurück, setzte sich wieder zu Paul und lächelte ihn so gleichmütig wie möglich an.
In bewusst sachlichem Ton, aber von tiefer Zuneigung getragen, sagte sie: „Ich denke an zwei Frauen, die miteinander befreundet sind und die mehrere Jahre bei mir waren. Beide lernten bei mir Laute zu spielen. Dann blieben sie in der Literatur- und Theater-Gruppe. Beide sind interessiert an Kultur, Musik, Kunst und Literatur. Beide sind ohne Vater und ohne heile Familie aufgewachsen. Beide haben dennoch alle Voraussetzungen, eine gute Familienmutter zu werden. Ich erzähle deshalb von beiden, weil du die Wahl haben sollst. Ich werde dir später sagen, welche ich mir für dich wünsche. Dein Herz soll herausfinden, ob und zu welcher du dich hingezogen fühlst.“
Paul fing an zu schnupfen, zog sein Stofftaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich. „Ich könnte bei beiden anfragen, ob sie interessiert sind, zunächst einen Briefkontakt mit dir aufzunehmen, wenn du willst.“
Paul seinerseits stand nun auf, ging zum Fenster, verharrte dort eine Weile, drehte sich dann langsam um, seine Brille hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Um die Augen glänzte es feucht. Er räusperte sich und ging zu seinem Stuhl zurück. „Ich wusste schon immer, dass du mein guter Engel bist.“ Seine Stimme klang belegt. Er atmete mit ganzer Kraft wie aus tiefster Seele ein und sagte nach einer Pause, als wenn es ihn hohe Überwindung kostete: „Ja, Tante Selma, ich möchte die beiden Frauen kennenlernen.“
Er schüttelte verwundert den Kopf, legte seine Hand auf ihre, als er sagte: „Das wird deine größte Menschentat, wenn ich durch dich die Frau für mein Leben, die Mutter meiner Kinder finde.“ Ihm fiel auf, dass er gerade von seinen Kindern gesprochen hatte. Welcher Gedanke! Eigene Kinder! Bisher nur ein Traum, schmerzlich bewusst geworden, als Arthur sein kleines Mädchen bekam. „Eine Frau und Kinder, eine Familie“, sagte Paul noch einmal leise wie zu sich selbst, schüttelte wieder ungläubig den Kopf und lächelte Selma in großer Verwirrung an. „Es wäre mein höchstes Glü...“, da brach ihm die Stimme, und er musste endgültig weinen. In einem großen, nicht enden wollenden Tränenstrom nahm er Abschied von seiner einzigen Liebe und wurde bereit, sie dieser geliebten Selma zuliebe mit einer anderen Frau zu teilen.
Selma hielt seine rechte Hand mit ihren beiden Händen, schaute auf dieses Händebündel und ließ Paul weinen und Abschied nehmen von seinem unerfüllbaren Jugendtraum.
11. Kapitel
Der Schicksalsbrief
1928 – 1935
Seine Hand bebte leicht, als Paul zu den Anfangszeilen in seinem ersten Brief an Emma ansetzte. Die Schrift gelang nur zittrig. ‚Sehr geehrtes Fräulein Menzel‘, begann er. Dann hob er seinen Kopf. Die Tinte an der Feder trocknete ein.
Wie schreibt man einer jungen Dame, die man kennenlernen möchte. Von der ich nur weiß, dass Tante Selma sie schätzt und die ich, sollte das Schicksal mir wohlwollen, heiraten möchte, ging es Paul durch den Kopf. Ihm war heiß, wenngleich draußen wohltuende Herbstkühle herrschte.
Er legte den Federhalter neben den Block, lehnte sich nach hinten auf seinem Stuhl und faltete die Hände hinter dem Kopf. Nach einer Weile sprang er auf, lief zum Fenster seiner kleinen Stube, die er als Untermieter bewohnte, öffnete den Riegel und schaute nachdenklich hinaus.
Das fahle Herbstlicht legte einen wehmütigen Zauber über das sich färbende Laub. Auf einem Apfelbaum gegenüber leuchteten drei verbliebene rote Äpfel aus den gelb-grünen und braun eingerollten Blättern. Eine Taube flog mit gedämpftem Druu-uu an seinem Fenster vorbei hin zu dem schräg gegenüberliegenden Bäckerladen, wo sie, wie alle Tage, vor der Ladentür Krumen aufpickte.
‚Was willst Du?‘, hörte er Tante Selmas Stimme. ‚Eine Frau finden, die mich heiraten will‘, hörte er sich antworten. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine Falte aufgestellt. ‚Und was will der Brief?‘, fragte Tante Selma weiter. Paul dachte einen Augenblick nach. ‚Mich bekanntmachen. Sie soll neugierig werden und mich kennenlernen wollen.‘ Er atmete erleichtert auf. ‚Na also‘, sagte Tante Selmas Stimme zufrieden. ‚Und warum legst du nicht los wie ein heiratswilliger, wunderbarer junger Mann?‘ Tante Selmas Stimme klang energisch und belustigt zugleich. ‚Weil es so schwer ist, sich anzupreisen‘, hört er sich antworten und fand diesen Satz mehr als geistesschlicht. Er schüttelte den Kopf über sich selber und wedelte mit der flachen Hand vor seiner Stirn. ‚Wer spricht von Anpreisen? Du sollst deiner Künftigen ein Bild von dir malen. Besser farbig als schwarz-weiß. Also auf, mein Freund! Mutig, offen, ehrlich. Und vor allem: mit Herz!‘
Paul geht zurück zu seinem Stuhl. ‚Danke, Tante Selma, du mein guter Geist‘, hört er sich sagen. Der Dialog mit seiner Gefährtin hat ihm Klarheit gebracht und ihn ausgestattet mit Entschlossenheit und neuem Selbstvertrauen.
Er überlegt, ihm gegenüber säße diese Frau, verhüllt von einem Schleier, eine rätselhafte Silhouette. Für dieses Rätselwesen sei er selbst ebenso ein umflorter Schatten. Aus seinem Schleier will er nun mit Worten als leibhaftiger Mensch hervortreten, als Mensch mit einem warm schlagenden Herzen, mit Wünschen und Träumen.
Paul nahm den Federhalter wieder zur Hand, tauchte ihn in sein Fass mit der blauen Tinte und begann zu schreiben. Nach zwei Stunden unterschrieb er mit ‚Ihr ergebener Paul Freund.‘
Wieder lehnte er sich zurück, strich seinen Nacken, stöhnte ‚ah‘ und atmete tief durch. Er ging zum Fenster und genoss den Schein der weißlichen Herbstsonne. Lange stand er so. Eine große Seelenruhe erfüllte ihn. Vollbracht, klang es in seinem Herzen.
Er ging zurück zum Tisch, nahm den Brief zur Hand, als sei das der Brief eines anderen, schob seinen Stuhl mit den Füßen vom Tisch ab und begann zu lesen. Er dachte an die Fremde hinter dem Schleier, wie sie diesen Brief eines Unbekannten öffnet und sich hinein vertieft.
Nach der Lektüre der sechs handschriftlich beschriebenen Seiten fragte er sich: Das soll ich geschrieben haben? Was da steht ist gut. Richtig gut. Und ehrlich. Genau das wollte ich gesagt und geschrieben haben.
Emmas Tag im Lungen-Sanatorium Bad Reinerz war anstrengend gewesen. Wieder war einer ihrer Langzeitpatienten gestorben. Tage zuvor war er ‚aufgeblüht‘, wie sie es nannten, nachdem das verräterische Fieber höher und höher gestiegen war. ‚Jetzt macht er es nicht mehr lange‘, hatten die Kollegen prophezeit, die mit diesem Aufblühen länger Erfahrung hatten als sie.
Emma ließen diese, zynisch ‚Abgänge‘ genannten Todesfälle im Sanatorium nach wie vor nicht kalt. Sie würde es nie normal finden, dass viele ihrer Patienten nicht nach Hause zurückkehrten. Wieder einmal ging ihr beim Ableben des ehemaligen Verdun-Kämpfers Faust die Zeile durch den Sinn: ‚Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss.‘
Betrübt trottete sie dem Haus in Bad Reinerz zu, in dem sie ein Zimmer als Untermieterin bewohnte. Vor ihre Zimmertür hatte ihre Vermieterin einen Brief gelegt.
Emma nahm den Brief in die Hand. Was für eine ausdrucksstarke Handschrift, dachte sie, noch bevor sie auf den Absender schaute.
Tante Selma hatte bei ihr angefragt, ob sie einverstanden sei, wenn ein junger Mann, den sie, Selma, kenne und schätze, brieflich Kontakt mit ihr aufnähme.
Sie wendete den Brief und las den Absender: ‚Paul Freund.‘ Einen Moment lang stolperte ihr Puls. Dann stieg ihr eine heiße Woge in den Nacken. ‚Ruhig‘, sagte sie zu sich selbst. Sie schloss die Tür auf, legte den Brief auf den Tisch, zog ihre Windjacke bewusst langsam aus und hängte sie sorgfältig an den Garderobenhaken. Dass sie weiche Knie bekommen hatte, versuchte sie zu ignorieren. Emma ging gelassenen Schrittes zu ihrem Wasserhahn, als läge kein Brief auf ihrem Wohnzimmertisch, wusch sich die Hände gründlich mit der rauen Kernseife, zu der sie als Sanatoriums-Bedienstete Zugang hatte, nahm ein Glas von ihrem Geschirrbord, füllte es mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Dann noch ein zweites. Und ein drittes.
Danach war sie sicher, dass ein Brief von dem gewissen Unbekannten angekommen war und sie nicht träumte.
Sie ging zu ihrem Tisch zurück, nahm den Brief erneut in die Hand und setzte sich auf den Stuhl. Ein dicker Brief. Sie wog ihn in der Hand. Dann öffnete sie ihn sorgfältig mit ihrem Brieföffner und zog drei beidseitig handbeschriebene Blätter heraus. Bevor sie begann, den Brief zu lesen, betrachtete sie die Schrift. Durch die früheren Grafologie-Übungen, zusammen mit ihren Freundinnen bei Tante Selma, der amtlich vereidigten Gerichts-Grafologin, fesselte sie diese Schrift unvermittelt. Klar, geordnet, phantasievoll, großzügig, aktiver Geist, wache Sinne. Emma ließ die Handschrift nachhaltig auf sich wirken. Starke Persönlichkeit. Was sie wahrnahm, gefiel ihr. Gefiel ihr sehr.
Dann begann sie zu lesen.
Als sie geendet hatte, stand sie auf, zog ihre Windjacke wieder an, trank noch ein Glas Wasser und verließ die Wohnung. Sie lief den Feldweg, den sie schon oft gegangen war, heute schnell und zunehmend schneller. Sie lief zum Wald hin und, entgegen ihrer sonstigen Art, beachtete sie nicht die letzten weißen Scharfgarben und gelben Dolden des Rainfarns, die noch am Wegesrand leuchteten. Es begann zu dunkeln, als heimkehrende Wanderer sie tiefer in den Wald laufen sahen.
Die Nacht war bereits hereingebrochen, als sie, aus dem Wald kommend, wieder in ihren Feldweg einbog. Das schnelle Gehen, die Abendluft hatten den großen Aufruhr in ihr besänftigt. Sie atmete wieder ruhig, war dennoch bestrebt, zurück zu dem Brief zu gelangen, den Emma nun ein weiteres Mal, aber gefasster und kritischer lesen wollte.
Danach saß sie auf ihrem Stuhl, den Brief auf dem Schoß. Die Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf auf den gefalteten Händen ruhend, sann sie dem nach, was in ihr klang: Ein Mensch hatte ihr sein Herz geöffnet und mit seinen Worten eine Saite in ihrem Herzen zum Schwingen gebracht. Sie fühlte sich beschenkt. Noch nie in den 27 Jahren ihres Lebens hatte sie einen Brief wie diesen erhalten.
Müde war sie von der Arbeit heimgekommen und ermattet vom schnellen zweistündigen Lauf, dennoch spürte sie sich neu belebt und zu wach, um schlafen zu können. So nahm sie ihren Federhalter und Schreibblock und antwortete.
Als sie ihren Brief noch einmal las, fragte sie sich, darf man das, als junge Frau so offen zu einem Fremden sein? Ist es nicht unfein, sich so wenig zu zügeln? Sein Brief wirkte so stark in ihr, dass sie daraus instinktiv den Mut schöpfte, alles, was man durfte oder nicht, was fein oder unfein sein konnte, hinter sich zu lassen und stattdessen offen und frei aus dem Herzen nun ebenso mit Worten ein Bild von sich, ihrem Denken, Fühlen und Wollen zu malen. Sie schrieb so bescheiden von sich, so ehrlich, so ohne jede Schnörkel und Schönfärberei, wie es ihre Art war. Sie war ganz abgetaucht in eine andere Sphäre, als ihr die ungewohnten Worte aus der Feder flossen, als sei nicht sie es, die beherzt genug war, einem Fremden so viel Persönliches von sich zu offenbaren.
Als sie wieder auftauchte aus den Tiefen ihrer Seele, waren fünf Seiten beschrieben. Sie besah das Werk, das ihr als das einer anderen erschien, prüfte die Schrift und dachte, weicher, weniger streng als seine, ausgeprägtes Tagesbewusstsein, weniger Schweben in geistigen Sphären, aber Kopf, Geist und Herz gut ausgewogen. Geht in Ordnung. Sie ahnte, ließe sie den Brief bis zum nächsten Morgen liegen, würde sie ihn nicht mehr absenden. Der Mut verließe sie ob ihrer gewagten Offenheit. Sie steckte ihn in ein Kuvert, frankierte ihn und trug ihn noch um Mitternacht zum Postkasten. Auch das unfein, dachte sie lächelnd. Schicklicher wäre gewesen, Paul Freund einige Tage warten zu lassen. Diese gesellschaftlichen Spielregeln erschienen ihr plötzlich hölzern und blutleer. Sie galten nicht mehr, wenn ein heiliger Strahl in die Seele einschlug, das Innere entzündete und danach alles anders war als zuvor.
Sie schrieben jeder noch fünf Briefe und sandten sich ein Foto, dann vereinbarten sie ein Treffen in Breslau. Paul erwartete Emma in der Nähe des Bahnhofes. Sein Zug war früher eingetroffen als der ihre. Er sah sie aus der Eingangspforte des Bahnhofs treten, einen Moment verharren, dann schritt sie zögernd die Stufen hinunter. Sie trug ein blaues Baumwollkleid, das sie für dieses Treffen genäht hatte. Ihr blondes Haar umgab ihr Gesicht wie ein heller Schein. Sie gingen langsam aufeinander zu.
Paul spürte, wie bei ihrem Anblick sein Herzschlag einen Augenblick aussetzte. Mädchenhaft scheu und verhalten näherte sie sich. Unvermutet spürte er das tiefe Verlangen, dieses verletzliche Mädchen fortan zu beschützen. Paul würde dieses Bild nie vergessen: Emma in dem blauen Baumwollkleid, ihr blondes Haar, das wie ein Schein ihren Kopf umrahmte.
Emma schaute zu Paul hin und war angerührt, wie klein und zart dieser phantasievolle, geistreiche und gefühlsstarke Briefschreiber war. Wie fein seine hohe Stirn, sein schmaler Kopf, wie beherrscht seine vollen Lippen. Sie nahm seine unterschiedlich großen Augen wahr und wusste aus seinen Briefen von seinem Schicksal mit den Augenoperationen in der Kindheit und seinem Kunstauge. Sein Anblick griff ihr ans Herz. Sein kraftvoller Händedruck überraschte sie. Paul seinerseits hielt eine fleischige, weiche, warme Hand in der seinen.
Es war nicht leicht, die Nähe, die in den Briefen zwischen ihnen entstanden war, in der persönlichen Begegnung wiederzufinden, wenngleich ihrer beider Herzen überquollen von dem, was sie empfanden und sich sagen wollten. Sie gingen an der Oder spazieren. In einem kleinen Lokal tranken sie Malzkaffee. Ihr Gespräch war nun auch mündlich in Gang gekommen. Ab und zu schauten sie einander mit einem flüchtigen Blick scheu an und lächelten. Hin und wieder auf dem Weg zurück zur Bahn hatte Paul wie versehentlich ihre Hand gestreift. Am liebsten hätte er Emma beim Abschied in den Arm genommen und … ja. Er erschrak. ‚Dann hättest du alles kaputt gemacht‘, sagte er zu sich selbst.
Sie trafen sich in Görlitz. Paul zeigte ihr seine neue Heimatstadt, die Peterskirche mit der Sonnen-Orgel, den Flüsterbogen, die Arkaden am Unter- und Obermarkt. Er fuhr mit ihr zur Landeskrone, um ihr zu einem Blick aus der Vogelperspektive auf die tellerförmige Talsenke der Neiße zu verhelfen.
Einer der nächsten Briefe begann mit der Anrede: ‚Königin meines Herzens.‘ Emma wusste, ja, das ist Glück.
Sie lebte parallel in zwei Welten. Alles erschien ihr leicht. Sie konnte das Elend um sich herum für Stunden ausblenden und vergessen. Sie beherrschte ihre Arbeit, konnte zeitgleich Löhne ausrechnen, Geld sortieren, nach Stichworten einen Brief für den Chef tippen und an Paul denken. Rausch, was ich erlebe, ungeahnter Glücksrausch, dachte sie.
Ihre Kollegen betrachteten sie mit neuen Augen. Wie wunderschön Emma war, wie sie strahlte! Wie konnte ihnen Emmas Glanz bisher entgangen sein! Auch diejenigen, die sie bisher kaum beachtet hatten, machten ihr Komplimente. Den Grund ihrer Verwandlung kannten sie nicht.
Paul und Emma trafen sich mehrfach in Dresden und saßen zusammen still und andächtig in der Frauenkirche.
In der Kreuzkirche, der evangelischen Hauptkirche am Markt neben dem Rathaus, besuchten sie eine Aufführung des Weihnachts-Oratoriums von Bach. Ergriffen lauschten sie der klaren, eindringlichen Musik, den Texten und Chören. Diese Musik war wie komponiert für den schlichten, hellen Innenraum dieses Gotteshauses.
‚Wenn ich neben ihm sitze, bin ich wunschlos. Dann ist alles gut‘, dachte Emma. ‚Mit Emma zusammen zu sein, ist wie angekommen sein. Wohlbefinden und innerer Frieden‘, empfand Paul. Jeder liebte, was auch der andere liebte.
Im Frühjahr fuhren sie mit dem Ausflugsboot nach Pillnitz, um die Kamelie zu bestaunen. Dieses japanische Teegewächs, von einem Reisenden im achtzehnten Jahrhundert aus Japan nach Deutschland mitgebracht, stand in voller Blüte. Sie ließen sich berauschen von dem Zauber der vielen Tausend glockenförmigen, karminroten Blüten dieses Wunderbaumes.
In Meißen betrachteten sie die Werke der Porzellan-Kunst. Emma entzündete sich besonders für den Porzellan-Baum, dessen einzelne Blätter aus Porzellan fein gestaltet und in dem feinen Geäst aufgehängt waren. Ein Schild bat die Besucher, vorsichtig aufzutreten, um Erschütterungen des Bodens zu vermeiden wegen der Empfindlichkeit dieses Kunstwerkes. Paul hatte mehr und mehr das Gefühl, Emma öffne ihm auf eine besondere Weise Auge und Herz auf eine neue, bisher nicht gekannte Weise. Seine Welt wurde reicher.
Ein anderes Mal fuhren sie zum Elbsandstein-Gebirge und bestiegen die Bastei. Hier oben fragte Paul Emma, ob sie seine Frau werden wolle.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Je länger er Emma kannte, umso mehr zweifelte er, ob er gut genug für sie sei. Sie kannte sich in der Musik aus, spielte drei Instrumente, sang, nähte, strickte, malerte, las gute Bücher. Sie erschien ihm perfekt und ideal als Mutter für die Kinder, die er sich wünschte. Für jeden Mann ein Glücksfall. Ich bin nicht groß, stattlich, athletisch, trage eine Brille, bin kein Typ, auf den Frauen fliegen, dachte er, erneut von Selbstzweifeln gequält, die noch seiner dunklen Kindheit entstammten.
Emma ihrerseits dachte, was kann ich diesem wunderbaren Mann schon bieten? Seit ihrer Kindheit nagte an ihr die Scham, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Der Stiefvater konnte diese Wunde nicht heilen. Meine Familie ist arm. Gut, ich habe einen Beruf, mache meine Sache ordentlich. Aber könnte dieser geistvolle, phantasievolle, gefühlsstarke Mann nicht jede andere Frau fesseln? Mit seinem klugen Denken kann ich nicht mithalten.
Als Paul Emma seine Herzensfrage gestellt hatte, entstand eine Pause. Sie erschien Paul endlos wie zwei Ewigkeiten. Jeder von beiden rätselte, was in Kopf und Herz des anderen wohl vorginge. Pauls Knie waren butterweich. Emmas Herz machte erst einen Luftsprung, dann setzte es einen Moment lang aus. Heiß und kalt, dachte sie, gleich falle ich tot um. Dann sagte sie mit kaum gebändigter, überschwänglich glucksender Stimme: „Ja, Paul, möchte ich. Ich möchte deine Frau werden.“ Ihr fiel auf, dass sie Paul gerade geduzt hatte. Er hatte gefragt: „Fräulein Menzel, möchten Sie …“ Deshalb hielt sie sich die Hand vor den Mund und sagte: „Entschuldigung.“
„Wofür?“
„Weil ich Sie gerade geduzt habe.“
„Danke für das Du“, sagte Paul mit belegter, tiefer Stimme, „dabei sollte es bleiben, ja?“ „Kommst du noch auf ein Bier mit in den Braunen Hirsch ?“, fragt Paul seinen Kollegen Ewald. „Klar, wollte sowieso mit dir einiges besprechen.“
Sie waren zu dieser Zeit die einzigen Gäste im Lokal und setzten sich in ihre bevorzugte Fensternische. „Was hältst du von dem amerikanischen Young-Plan, mit dem endgültig die Reparationszahlungen festgelegt werden sollen?“ Paul hat leise gesprochen. Das Thema ist heikel. Die Meinungen in der Bevölkerung sind geteilt. Schnell entsteht Streit, wenn zwei entgegengesetzte Ansichten aufeinanderprallen. „116 Milliarden Reichsmark, zu zahlen bis 1988. Das heißt, auch unsere Enkel zahlen noch für unseren Krieg“, entgegnet Ewald. Paul sieht, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist. „Und trotzdem vorteilhafter als die bisherige Regelung“, wendet Paul ein. „Gewaltiges Problem“, gibt Ewald zu bedenken, „die Nazis werden da nicht mitspielen. Werden Zulauf bekommen, weil viele das so sehen wie sie: Keine Reparationszahlungen, die bis in das Leben unserer Enkel hineinreichen sollen.“
Beide heben ihren Bierkrug und nehmen lustlos einen Schluck. „Und jetzt noch der sogenannte ‚Schwarze Freitag‘ in New York. Experten befürchten, Deutschland könnte in den Sog hineingeraten mit einer schweren Wirtschaftskrise als Folge“, erwidert Paul mit gedämpfter, düsterer Stimme. „Hoffen wir, dass diese Propheten Unrecht haben.“
Paul machte sich Sorgen um Emma, sie könne sich bei den Patienten im Sanatorium anstecken. Deshalb bat er sie, sich bei der WKK in Dresden als Sachbearbeiterin zu bewerben. Emma wurde in Dresden eingestellt. Ihre Treffen waren nun weniger zeit- und kostenaufwendig als bisher.
Für beide ist entschieden, dass sie zusammengehören und für immer zusammenbleiben wollen. Sie heiraten im Jahr 1930 und beziehen eine Wohnung in Görlitz.
Die beiden Neuvermählten bedauerten, dass eine ersprießliche Beziehung zu Pauls Eltern nicht zustande kam. Hermine lehnte Emma ab. Paul versuchte Emma zu erklären, warum das nach seiner Meinung so war.
Durch Hermines fast übermenschliche Kraft, die immer wiederkehrenden Rückschläge und Enttäuschungen seiner misslungenen Augen-Operationen während seiner frühesten Kindheit zu ertragen, hatte sie immer neue Hoffnung aus sich selbst geschöpft. Die dämpfenden Aussagen der Ärzte wollte sie nicht hören oder verdrängte sie sofort wieder. Sie klammerte sich an die winzige Chance, die die Mediziner Paul einräumten. Ihre ausdauernde Hoffnungskraft führte zum Sieg. Im siebenten Jahr wurde es hell in Pauls vorher dunkler Welt und Paul gewann die Chance auf ein normales Leben.
„Hermine betrachtet mich seitdem als ihr Werk und ihr Eigentum“, endete Paul. „Du, meine Emma, bist für sie der Eindringling, der ihr vermeintlich die Liebe des Sohnes nimmt. Meine Liebe soll auch weiterhin nur ihr gehören. Zudem vergleicht dich Hermine mit meiner Schwester Ilse. Jeder Mensch ist anders. Hermine hat da so ihre eigenen Maßstäbe“, fügte er schmunzelnd hinzu.