Kitabı oku: «Geisterzorn», sayfa 4
Doch dann kam plötzlich der Einbruch: Mir wurde, befreit vom Dunst des Alkohols, bewusst, was aus mir geworden war. Mir wurde klar, dass meine Familie zerstört war. Dass ich meine Tochter verloren hatte, und dass meine Karriere in Trümmern lag. Ich war nur noch ein Häufchen Elend, das in einem Bademantel am Küchentisch saß und Ananas-Scheiben aus der Dose aß.
Mit diesen Gedanken trug ich mich die folgenden fünf Wochen. Währenddessen unternahm ich abermalig einen Versuch mit meiner Tochter sprechen zu dürfen, aber dieses Vorhaben scheiterte kläglich an meiner eisernen Ex-Frau, der ich daraufhin die Pest an den Hals wünschte.
Nicht ein einziges Mal habe ich während dieser Zeit das Haus verlassen. Ich wunderte mich über mich selbst, denn hätte ich nicht stolz darauf sein sollen, nichts mehr zu trinken? Hätte ich mich nicht wie neugeboren fühlen sollen? Das Gegenteil war der Fall. Die Realität, die ich mir literweise schön gesoffen hatte, fuhr über mich wie eine Keule.
Manchmal saß ich nur vor dem Fernseher und sah mir an, was gerade lief. Manchmal lag ich stundenlang in meinem Bett und weinte. Manchmal stand ich regungslos vor dem Spiegel und betrachtete grüblerisch mein schweigendes Spiegelbild. Ich aß, ich trank, ich wusch und rasierte mich. Ich funktionierte immer noch. Aber ich war alt genug, um mir nichts vorzumachen. Ich war zerbrochen.
8
Auf den Tag genau vier Wochen, nachdem ich krank geworden war, klopfte es wieder an meiner Verandatür. Ich saß gerade vor dem Fernseher. Es lief gerade eine Homeshopping-Sendung, in der ein neue, noch nie da gewesene Bratpfanne angepriesen wurde. Ich musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass es Mrs. Trelawney war.
»Die hat Nerven«, grummelte ich den Fernseher an.
Ich hatte alle Jalousien heruntergelassen, sodass sie mich nicht sehen konnte. Ich dachte, irgendwann würde sie schon wieder verschwinden. Aber da irrte ich mich.
Es klopfte erneut.
»Hallo Jack! Sind Sie da?«, schallte ihre gedämpfte Stimme in mein Wohnzimmer.
Die geht nie, dachte ich.
Ich stand auf und öffnete schließlich die Tür.
Mrs. Trelawney sah gesund und rosig aus.
»Ich habe so lange nichts von Ihnen gehört, da dachte ich, ich schaue mal nach und sehe, wie es Ihnen geht«, sagte sie.
Ich war ziemlich verstimmt. Sie hätte schließlich ja schon mal eher hier auftauchen können.
»Mir geht es bestens, danke der Nachfrage«, erwiderte ich in einem Tonfall, der unmissverständlich deutlich machte, dass es mir in Wahrheit beschissen ging.
»Sie sehen immer noch nicht gut aus, Mr. Rafton.«
Ich fühlte mich fast ein wenig geschmeichelt, denn ich fand beim Betrachten meines Spiegelbildes, dass ich große Ähnlichkeiten mit einer Leiche aufwies.
»Ich habe mir wohl noch auf meinen Infekt etwas drauf gesetzt«, sagte ich lauernd.
»Oh! Ich habe Sie doch nicht etwa angesteckt, oder? O, das tut mir aber furchtbar Leid. Aber das ist doch schon so lange her. Sind sie sicher, dass es nicht etwas Ernstes ist?«
»Nein, es ist nicht ernst Mrs. Trelawney, und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gern...«
»Ich wollte Sie keineswegs stören, sondern nur heute Nachtmittag einladen auf meine Veranda, eine kühle Limonade zu trinken«, unterbrach sie mich.
Ich war baff. Stets war ich nämlich der Ansicht gewesen, dass Mrs. Trelawney es vorzog, allein zu bleiben. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie Besuch gehabt hätte.
»Nun, ich... Ja, warum nicht. Sehr gern.« Ich fühlte mich überrumpelt, aber ich war ihr nicht mehr böse. Schließlich war letztlich sie es, die mich vom Alkohol weggeholt hatte.
Wie versprochen erschien ich pünktlich auf Mrs. Trelawneys Veranda um fünf Uhr nachmittags. Es war ein sehr warmer und sonniger April-Tag. Ich setzte mich auf einen alten Gartenstuhl aus Holz, der dringend imprägniert werden musste, und Mrs. Trelawney saß auf einer breiten Bank, auf der sie wohl immer zu verweilen pflegte. Ihre angebotene Limonade war wirklich außerordentlich schmackhaft. Sie schmeckte nach Limette. Der Geschmack erinnerte mich an irgendetwas aus meiner Kindheit. Zunächst redeten wir nur über Belangloses. Über das Wetter, über die Touristen und über den Ort Lost Haven.
Sie schien mich ein bisschen über meine Lebensgeschichte ausfragen zu wollen, und ich erzählte nur soviel, wie sie wissen musste. Zum Glück gab sie sich damit zufrieden und bohrte nicht nach. Über sich selbst plauderte sie auch ein wenig. Sie erzählte mir, dass es auch einmal einen Mr. Trelawney gegeben hatte, dass dieser aber schon vor vielen Jahren verstorben war. Ihr genaues Alter verriet sie mir natürlich nicht, und ein Gentleman fragt auch nicht danach, aber je länger ich mit ihr auf ihrer Veranda saß, desto unsicherer wurde ich bezüglich ihres Alters. Hier an diesem Ort sah sie viel jünger und lebendiger aus als auf meinem Grundstück.
Während wir saßen und unseren Limetten-Drink tranken, fiel mein Blick häufiger auf den Garten meiner Nachbarin, der zu dieser Zeit in einem sehr verwilderten Zustand war. Auch das Haus in dem die alte Dame wohnte, war schon ein wenig heruntergekommen. Überall pellte sich die weiße Farbe von den Holzlatten ab. Ganz besonders auf der Veranda.
Meine Blicke blieben nicht unbemerkt. »Ja, es ist ein altes Haus, aber ich liebe es, und ich würde nie von hier fortgehen. Für Renovierungen habe ich nicht genug Geld. Und ehrlich gesagt, möchte ich es auch gar nicht renovieren. Das Haus soll genauso altern, wie ich es tue«, sagte sie.
Ich lächelte. Der Gedanke gefiel mir.
»Und der Garten?«, fragte ich.
»Früher kam immer Mr. Hatch hierher und kümmerte sich rührend um meinen schönen Garten. Als er vor acht Jahren starb, konnte ich mir keinen Ersatz mehr leisten. Mr. Hatch, müssen sie wissen, arbeitete immer umsonst hier, weil er ein alter Freund der Familie war.«
Ich betrachte den Garten, das wilde Gras, die Trauerweide, und die großen Rhododendron an der Grenze zu meinem Grundstück.
»Ich könnte ja ein wenig ihren Garten in Schuss bringen«, schlug ich vor.
Mrs. Trelawney's Augen begannen zu leuchten. »O, aber Mr. Rafton. Das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Sie haben bestimmt Besseres zu tun, als für eine alte Frau den Garten zu gestalten.«
»Ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe nichts Besseres zu tun. Es würde mir Spaß machen. Mein Garten macht sich im Prinzip von selber. Da brauche ich nur ein paar Mal Rasen mähen. Das ist alles. Ich würde mich gerne um Ihren Garten kümmern«, sagte ich, und ich meinte es so, wie ich es gesagt hatte.
Mrs. Trelawney grinste und schien überglücklich. »Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet«, sagte sie und fasste sich an den Brustkorb. »Hach, ich bin ganz aufgeregt!«
»Dann stoßen wir darauf an«, sagte ich und hob mein Limettensaft-Glas.
Mrs. Trelawney wiederholte meine Geste.
»Auf den Garten«, sagte sie.
»Auf den Garten.«
Und so kam es, dass ich regelmäßig im Frühling mindestens dreimal die Woche und im Sommer in der Regel zweimal die Woche – abgesehen von meinen Einsätzen beim Rasensprengen – bei meiner Nachbarin die Gartenarbeit verrichtete. Es war für mich fast so etwas wie eine Therapie. Die ganzen negativen Gedanken konnte ich zuhause lassen. Auch nach dem Alkohol sehnte ich mich nicht zurück. Ich aß wieder mehr und kam zu Kräften. Und aus meinem Gesicht wich allmählich die Leichenblässe. Ich grub fast den gesamten vorderen Teil des Gartens um und säte neuen Rasen aus. Die Trauerweide und die Rhododendron bekamen neue Formschnitte. Außerdem pflanzte ich große Rosenbüsche in kleinen Inseln mitten im neuen Rasen. Mrs. Trelawney liebte Rosen. Als der Garten zu einem ansehnlichen Zustand zurückgefunden hatte, kam es, wie es kommen musste: Ich renovierte auch die komplette Veranda neu. Farbe abbeizen, Grundieren und Lasieren. Wenn ich nicht bei Mrs. Trelawney arbeitete, war ich im Baumarkt, um Werkzeug, Pflanzen, Lasur und dergleichen zu beschaffen. Selbstverständlich bezahlte ich alles aus eigener Tasche.
Die alte Dame war überglücklich und ich war, jedes Mal, wenn ich mein Tagwerk vollendet hatte, dankbar.
9
Aber zurück zu dem 14. September, an dem ich im Garten meiner lieb gewonnenen Nachbarin Rasen mähte.
Wie immer saß Mrs. Trelawney schon auf ihrer neu lasierten Bank mit der renovierten und in Elfenbeinweiß gestrichenen Veranda. Der obligatorische Limetten-Drink war bereits eisgekühlt bereitgestellt. Ich freute mich schon ganz besonders darauf, wusste ich doch, dass Mrs. Trelawney sich mit dem kalten Erfrischungsgetränk diesmal besondere Mühe gegeben hatte. Schließlich war der Sommer praktisch vorbei. Im Herbst kam ich nur selten, um das Laub zu harken. Und im Winter sahen wir uns manchmal wochenlang nicht.
Wie alles andere für den Garten auch, hatte ich den großen Benzin-Rasenmäher gekauft. Das kam mir sehr gelegen, denn für meinen Rasen leistete die schwere Maschine ebenfalls gute Dienste. Mrs. Trelawney döste stets vor sich hin, während ich den Rasen mähte – inklusive Rasenkanten schneiden, dauerte es immerhin gut zwei Stunden. Nur an einer einzigen Stelle, wenn sich die Maschine der vordersten Insel mit der Rose bedrohlich näherte, beugte sich meine Nachbarin vor und rief zu mir hinüber: »Passen Sie bitte auf den Rosen-Stamm auf.« Genau diese Worte sagte sie bei jedem meiner Einsätze. Und dann musste ich inne halten, mich umdrehen und ihr bestätigend winken. Dann umschiffte ich mit dem Mäher, mittlerweile übertrieben vorsichtig, die Rose, und wenn ich sie passiert hatte, sank Mrs. Trelawney wieder zufrieden zurück in ihre Bank. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum wir dieses Ritual wieder und wieder absolvierten. Aber ich glaube, nach dem Grund zu suchen, ist gar nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass es unser Ritual war.
Jack bekommt Besuch
1
Am Nachmittag verabschiedete ich mich schließlich von Mrs. Trelawney und bedankte mich für die Erfrischung.
»Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Ich habe zu danken. Und übrigens können sie mich Elizabeth nennen.«
Ich war perplex. »Ich bin Jack«, sagte ich.
»Dann bis zum nächsten Mal, Jack«, sprach sie und winkte zum Abschied.
Ich ging zurück in mein Haus, duschte und aß noch ein Sandwich. Es war halb vier. Um sechs würde ich zu Peter fahren, um ihm sein Geschenk zu überreichen. Danach wollten wir essen gehen zusammen mit Beverly, die ich vorher noch einmal unter vier Augen sprechen wollte. Schließlich war das Essen ihre Idee gewesen.
Beverly Stevens wohnte in der Ixwich Street, welche – wie ich schon vorhin erwähnt habe - ausgehend von der Main Street den alten Friedhof von Lost Haven umschloss und wieder in die Main Street mündete. Beverly war neununddreißig Jahre alt und nach eigenen meist nicht ganz ernst gemeinten Aussagen Künstlerin. Das war keine Überraschung, war doch das Gros der Einwohner gut betuchte Künstler. Lost Haven war kein Ort für ehemalige Banker, die sich in ihrem Ruhestand nach einen Ort sehnten, in dem einst Geister ihr Unwesen trieben. Um hier dauerhaft leben zu wollen, war es unerlässlich, und sei es auch nur latent, an die Spiritualität dieses Ortes zu glauben. Dieser Ort war für viele die Hoffnung, ihrer Kreativität auf die Sprünge zu helfen, sie gar erstmals zu entfachen oder einfach nur zu erhalten. In Wahrheit aber war Lost Haven für viele nur eine Sackgasse, aus der man schwer wieder herauskam. Oder stecken blieb. So wie ich.
Beverly war auch eine sehr spirituelle Person, jedoch nicht im religiösen Sinne. Als sie das erste Mal von Lost Haven gehört hatte, sei sie sofort verliebt gewesen. Sie glaubte an Geister und hatte vor allem deswegen beschlossen, hierher zu ziehen. Sie wollte unbedingt einmal einen Geist sehen, sagte sie mir einmal halb im Scherz.
Ich traf sie zum ersten Mal – wie sollte es auch anders sein – bei Beaver’s Books. Das war vor zwei Jahren.
Kaum hatte ich damals den Laden betreten, sprach mich Beverly auch schon an.
Ich war zunächst von ihrer offensiven und direkten Art, mit der sie auf mich zuging, etwas befremdet, da ich mir über ihre Absichten nicht im Klaren war. Aber nach einem kurzen Gespräch wurde deutlich, dass sie maximal an einem intellektuellen Gedankenaustausch interessiert war. Für mich seit langem endlich wieder eine reizvolle Herausforderung.
Beverly schrieb viel Poesie und Gedichte für Kinder. Über ihr früheres Leben wollte sie aber auf meine Nachfrage hin nicht sprechen. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass man sich mit Gedichten ein Haus in Lost Haven finanzieren konnte. Die Immobilienpreise waren gepfeffert. Selbst nach dem Platzen der Immobilienblase.
Seither trafen wir uns öfter, meist im alten Café am Hafen und sprachen über ganz normale Dinge. Ich vertraute ihr soweit, dass ich ihr meine Situation erklärte. Ich erzählte ihr von meiner Scheidung und meiner Tochter, die ich nur alle paar Monate für ein paar Stunden zu Gesicht bekam. Ich beichtete ihr auch mein Alkoholproblem und die ungewöhnliche Art meines unfreiwilligen Entzugs. Beverly reagierte nicht mit übertriebener Anteilnahme oder falschem Mitleid. Sie unterließ es auch, mich zu kritisieren, sondern blieb vornehm zurückhaltend und enthielt sich eines Kommentars, der mich sowieso vermutlich nur wütend gemacht hätte. Ein Umstand, der mich sehr überraschte, hatte sie doch sonst stets zu allem und jedem eine Meinung. Sie akzeptierte mich so, wie ich war.
Wie gesagt, ich vertraute ihr.
2
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zur Ixwich Street. Ich hätte laufen können, wollte aber jetzt nicht mehr Zeit verlieren. Es war schon erstaunlich, dass Beverly es fertig gebracht hatte, Peter davon zu überzeugen, mit uns beiden essen zu gehen. Und das auch noch an seinem Geburtstag! Ich hätte bei diesem Vorhaben bei ihm auf Granit gebissen, aber Beverly konnte ziemlich hartnäckig sein. Weil ich nicht riskieren wollte, dass der Abend hässlich enden könnte, wollte ich Beverly vorher noch ein wenig instruieren. Dieses Essen widerstrebte Peter zutiefst, weil er es vorzog, allein zu bleiben.
Er sagte mir einmal, dass er gerne allein, nicht aber gerne einsam wäre.
Er trug, seit ich ihn das erste Mal kennen gelernt hatte, immer einen Schatten in seinem Gesicht mit sich herum. Es war ein Schatten aus der Vergangenheit, der sich nicht lösen konnte. Ein Schicksalsschlag. Vielleicht verstand kaum jemand besser als ich, dass es irgendwann einen Punkt gibt, an dem der Schmerz zu einem Teil von einem selbst geworden ist, und dass man sich nie wieder von ihm befreien konnte. Deshalb wusste ich auch, dass man Peter nicht in die Enge treiben durfte, und deshalb redeten wir nicht über unsere früheren Leben. Es war eine stumme Übereinkunft, die wir nie antasten würden. Nur auf diese Weise war unser Leben hier noch erträglich.
Das Ergründen und Erklären, das Begreifen und das Lernen, mit dem Schmerz umzugehen, so wie man es in einer Therapie machen würde, war für uns keine Option mehr. Denn es änderte nichts daran, dass wir beide etwas verloren hatten, das einem niemand mehr zurückgeben konnte, ohne das wir aber beide nicht mehr vollständig waren. Sicher, wir konnten damit irgendwie weiterleben. Aber zwischen Leben und bloßem Weiterleben liegen Welten. Ich wollte Beverly also zu verstehen geben, dass sie keinesfalls nach Anekdoten aus Peters Leben fragen sollte. Das war mir sehr unangenehm. Nicht nur, weil ich sie nicht bevormunden wollte, sondern auch, weil ich ja praktisch gar nichts über Peters Vergangenheit wusste, was ein Auslöser für eine unangenehme Situation aufgrund einer unbedachten Äußerung hätte sein können.
Beverly stand gerade an ihrem Briefkasten, als ich auf ihre Auffahrt fuhr.
Sie blätterte den Stoß Briefe durch. »Nenne mir mal ein Grund, warum ich den Briefkasten überhaupt noch aufmachen soll«, sagte sie und seufzte.
Ich vermutete, dass ihr die zahlreichen Werbebriefe auf den Wecker gingen.
»Schmeiß sie doch in den Müll.«
Sie sah mich an und deutete zustimmend mit dem rechten Zeigefinger auf mich. »Ein gute Idee, Mister.«
Sie strich sich eine Strähne aus dem Haar. »Also, was wolltest du mir noch schrecklich Wichtiges sagen? O warte! Ich weiß was Besseres! Ich lese es aus deiner Hand«, sagte sie und griff nach meiner rechten Hand, die ich aber schnell genug wegzog. Beverly machte sich nicht selten einen Spaß daraus, mich mit ihrem Esoterik-Kram aufzuziehen. Ich war kein Freund von Horoskopen, und Astrologie hielt ich für ausgemachten Unsinn. Beverly hingegen war von diesen Dingen überzeugt. Sie las zwar nicht jeden Tag ihr Horoskop, glaubte aber fest daran, dass irgendwelche Planetenkonstellationen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben würden. Sie glaubte, dass wir alle in einem Multiversum leben, in dem es unendlich viele Möglichkeiten gibt, und in dem alles schon einmal geschehen ist. Und wie sie nun mal so war, liebte sie es, mich mit derartigen Bemerkungen zu piesacken.
»Wenn ich wissen möchte, wann ich das nächste Mal anständigen Stuhlgang haben werde, dann werde ich deinen sechsten Sinn in Anspruch nehmen«, entgegnete ich.
»Ich bin entzückt!«
»Jetzt mal ernsthaft Beverly: Ich wollte noch kurz mit dir über Peter reden.«
»Ja, ja ich weiß. Ich soll ihm nicht zu nahe treten. Ich soll ihn nicht ausfragen. Ihr beide seid schon zwei komische Vögel, weißt du.«
»Immerhin geht er nur mit uns aus, weil er uns, respektive dir einen Gefallen tun möchte. Wer weiß, an was ihn sein Geburtstag erinnert? Es wäre sein gutes Recht, allein zu bleiben.«
»Darf ich denn wenigstens atmen, wenn wir im Restaurant sind?«, stichelte Beverly.
Ich presste die Lippen zusammen und zog die Brauen hoch.
»Schon gut, schon gut, tut mir Leid. Ich werde dich oder Peter nicht in Verlegenheit bringen. Für was hältst du mich?«
»Ich wollte ja nur...«
»Ja, ja ich habe es schon verstanden. Ich weiß doch, wie wichtig er dir ist.«
Ich schwieg.
Beverly musterte mich abschätzend. Ich mochte das nicht.
»Es wird euch aber gewiss nicht schaden, mal ein wenig unter Leute zu kommen. Peter und auch du, Ihr verkapselt euch doch sonst nur. Du wirst mir vielleicht gleich widersprechen, aber du solltest das Essen heute ein bisschen lockerer nehmen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Der eine mehr, der andere weniger. Peter ist ein erwachsener Mann. Du brauchst nicht auf ihn aufzupassen.«
Ich runzelte die Stirn und wollte schon widersprechen. Aber ich musste mir eingestehen, dass Beverly recht hatte. Vermutlich wollte ich nur nicht, dass Peter genauso abstürzte, wie es bei mir der Fall gewesen war. Kein Wunder, dass ich Beverly so zu schätzen wusste. Sie konnte einem die Dinge aus einer anderen Perspektive erklären, ohne dabei verletzend zu sein.
Ich lächelte. »Okay, ich glaube du hast recht«, sagte ich.
»Ihr holt mich dann ab?«
»Natürlich«, sagte ich, stieg wieder in den Wagen und fuhr nach Hause.
3
Pünktlich um 17.30 Uhr klingelte ich an der Tür von Peter Fryman. Peters Haus im Lexington Drive, nur etwa fünfhundert Meter entfernt von meinem Haus, war eines der kleineren in Lost Haven. So war auch das Grundstück nur etwa 500 Quadratmeter groß. Dafür aber bot es einen fantastischen Blick auf den Atlantik, weil das Grundstück gut 40 Meter über den Meeresspiegel ragte. Aus diesem Grund waren die Grundstücke auch hier die begehrtesten und folgerichtig die teuersten.
Ich musste daran denken, wie ich mit dem Kauf meines Hauses hier ein großes finanzielles Wagnis eingegangen war. Zum Glück war es gut gegangen. Während ich darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde, wippte ich nervös auf meinen Zehenspitzen und warf einen prüfenden Blick auf das Geschenk in meinen Händen. Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Tür geöffnet und zum Vorschein kam ein etwas müde wirkender Peter. Seine Haare wurden von Mal zu Mal, die wir uns sahen, länger. Aber was mir an diesem Tag besonders auffiel, war, dass er mächtig gealtert aussah. Peter sah erst mich und dann das in blaues Geschenkpapier verpackte Buch an. Er starrte einen Augenblick darauf, so als ob er zum ersten Mal in seine Leben ein Geschenk gesehen hätte. Dann sah er wieder mich an. »Was soll das denn?«, fragte er mit wenig Begeisterung. Jeder andere in meiner Situation hätte zu Recht beleidigt reagiert, hatte man doch mit seinem Präsent eigentlich eine andere Reaktion gewünscht. Aber wie ich bereits zuvor andeutete, war ein Geschenk für Peter eine heikle Angelegenheit.
»Es ist nichts Besonderes. Nur ein Buch«, sagte ich zurückhaltend.
Peter begann zu grinsen. »War nur Spaß. Ich habe es nicht so gemeint.«
Ich war erleichtert »Schon in Ordnung. Wenn du bei mir mit einem Geschenk aufgetaucht wärst, hätte ich sicherlich ähnlich reagiert. Nur habe ich das Glück, dass du meinen Geburtstag nicht kennst.«
»Also, mit einem Präsent hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.«
»Du kannst es später aufmachen. Also, kann es losgehen?«
»Lässt sich ja wohl kaum vermeiden«, antwortete Peter resigniert.
Nachdem wir Beverly abgeholt hatten und endlich im Restaurant am Hafen 'The Eagle' auf der geräumigen, von der Abendsonne verwöhnten Terrasse saßen, hatte ich den Eindruck, dies könnte wirklich ein ganz lustiger Abend werden. Peter und ich, wir waren in unserer momentanen Verfassung ganz bestimmt nicht die angenehmsten Gesprächspartner. Beverly aber verstand es, dieses Manko durch ihren flotten Witz und ihren unerschöpflichen Fundus an Anekdoten komplett wett zu machen. Kurz: Sie rettete den Abend.
Als wir uns das Dessert bestellten, kam es jedoch dann so, wie ich befürchtet hatte.
»Hmm! Das Himbeer-Sorbet ist fantastisch! Meint ihr nicht auch?«, fragte uns Beverly.
Ja, das Sorbet war wirklich vorzüglich. Aber für Peter und mich waren solche Wahrnehmungen nur noch rudimentär vorhanden. Für uns hatte die Welt an Farbe und an Geschmack verloren. Und das machte es schwierig, sich den Sinn für das Schöne zu bewahren.
»Ist wirklich toll«, sagte ich. »Oder, Peter?«
Ich blickte zu Peter, der rechts von mir saß, während ich das Sorbet mechanisch in mich hinein schaufelte. Peter hatte aufgehört zu essen und starrte mit bleichem Gesicht auf sein Dessert. Ich wusste genau, dass das, was er dort gerade sah, kein Sorbet war. Er ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten und war am ganzen Körper angespannt.
Es ist nicht aufzuhalten. Du kannst es nicht wegsperren. Irgendwann bricht es aus dir heraus, dachte ich traurig als ich erkannte, dass mein Freund gerade eine Panikattacke durchlitt. Ich selbst hatte davon schon genug gehabt, um das zu erkennen.
»Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte Peter auf einmal, sprang von seinem Stuhl auf und stürmte ins Innere des Restaurants Richtung Toiletten.
Ich blieb regungslos sitzen und sah Beverly in dieAugen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie auf eine Weise anzusehen, die sagte: Verstehst du jetzt, warum ich so vorsichtig bin?
Es vergingen ein paar Sekunden.
»Vielleicht gehst du besser mal nach ihm sehen«, schlug Beverly vor. Sie wirkte ein wenig zerknirscht und sprach viel leiser, als ich es von ihr gewohnt war.
»Geben wir ihm noch eine Minute«, sagte ich ruhig.
Beverly senkte enttäuscht den Blick. »Das hier«, sagte sie und deutete auf den Tisch, »war wohl doch keine so gute Idee.«
»Doch, das war es. Er fängt sich schon wieder«, tröstete ich sie. Sie hatte sich den ganzen Abend solche Mühe gegeben, für gute Stimmung zu sorgen. Und jetzt sah ich, dass sie sich nun schuldig fühlte.
»Ich gehe dann mal zu ihm«, sagte ich nach einer Weile.
Peter stand in der Herren-Toilette an einem der vier Waschbecken und ließ den Kopf zwischen den Schultern hängen. Zum Glück war gerade niemand außer uns in dem Raum.
»Und? Wolltest du nachsehen, ob ich mich in der Toilettenschüssel ertränkt habe?«, fragte Peter, ohne mich anzusehen.
»Nein«, sagte ich, schlenderte an ihm vorbei und steuerte das nächstbeste Urinal an. »Ich musste nur pinkeln. In meinem Alter kann man es nicht mehr so lange halten. Aber davon verstehst du Jungspund ja nichts.«
Peter hob immerhin wieder die Mundwinkel. Als ich fertig war, stellte ich mich an das Nachbar-Waschbecken und wusch mir gemächlich die Hände.
»Geht es wieder?«, fragte ich und sah Peters Spiegelbild an.
»Ja, aber ich glaube, ich möchte jetzt nach bald Hause. Ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen. Ob Beverly...«
»Sie wird es verstehen«, unterbrach ich seine Frage.
Und Beverly verstand es wirklich. Als wir wieder zu ihr an den Tisch kamen, hatte sie bereits die Rechnung beglichen.
»Eigentlich wollte ich...«, begann ich.
»Keine Diskussion! Ich zahle. Es war meine Idee.«
»Vielen Dank Beverly. Das war wirklich ein schöner Abend«, sagte Peter, wobei ihm die Worte nur schwer, aber überzeugend über die Lippen kamen.
Wir setzten Beverly zu Hause ab. Es gelang mir dann doch noch, Peter zu überreden, für eine Weile zu mir zu kommen, um den Abend ausklingen zu lassen.
»Das Bier musst du aber selber mitbringen«, witzelte ich. Ich hatte Peter erzählt, dass ich keinen Alkohol mehr trank. Mehr jedoch nicht.
»Kein Problem. Ich gebe mich mit einer eiskalten Cola zufrieden.«
4
Es wurde zehn Uhr am Abend. Wir saßen in meinem großen Wohnzimmer, dessen komplette Rückseite zum Garten hin verglast war. Michelle beschwerte sich früher immer, dass, obwohl das Wohnzimmer aufs Meer zeigte, man eben jenes nicht sehen konnte, weil ein kleiner Hügel, der sich über mehrere Grundstücke erstreckte, die Sicht versperrte. Ein anderes Haus stand damals jedoch entweder nicht zum Verkauf oder überstieg mein Budget. Mir war das jedoch ganz recht, weil das Haus dadurch besser vor dem Wind geschützt war.
Peter und ich saßen hier oft gemeinsam bis spät in die Nacht zusammen. Wir ließen es dunkel und hatten, wenn überhaupt, dann nur den Fernseher als Lichtquelle stumm laufen. Viel geredet wurde nicht. Und wenn, dann sprachen wir über Sport. Meistens über Basketball. Ab und zu warfen wir beide auch ein paar Körbe auf meiner Garagenauffahrt.
An diesem Abend verfielen wir, wie so oft, wenn uns die Vergangenheit einholte, in ein langes Schweigen.
Irgendwann stand ich von meiner Couch auf und ging zur Hifi- Anlage, über der ich in einem großen Regal meine umfangreiche CD-Sammlung aufbewahrte. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Für diese Momente hatte ich immer die passende CD. Und was würde in dieser Nacht besser passen als Beethoven Mondscheinsonate? Es war Peters Lieblingsstück. Immer wenn der Druck zu groß wurde und wenn die Erinnerung zu schmerzhaft war, bedienten wir uns der Musik. Wir mussten nicht über das sprechen, was uns bedrückte. Das übernahm die Musik für uns, denn sie war unser Kommunikationsinstrument. Wenn wir der Musik lauschten, bedurfte es keinerlei Worte. Nur wenn die Musik spielte, gab es unter uns ein einvernehmliches Verstehen, ein Teilen, das zwar nicht tröstlich, aber notwendig war. Notwendig zum Weiterleben.
Wir ließen die Klavierklänge durch den Raum driften, bis sich unsere Gedanken auf die gleiche Frequenz einstellten. Ich dachte daran, wie es wäre, wenn ich wieder mit meiner Tochter zusammen wäre. Wie ich sie zum Lachen bringen würde, und wie sie stolz auf ihren Papa wäre. Das mag für Sie vielleicht naiv oder infantil klingen, aber ich werde mich dafür garantiert nicht schämen, weil es ungeheuer gut tat. Peter, der auf dem Sessel mir schräg gegenüber saß, sah das, was nur für seine Gedanken bestimmt war, und was für ihn unerreichbar war. Und so saßen wir im Dunkeln, lauschten der Musik, schauten durch uns hindurch und blickten in eine Gegenwart, die nicht existierte.
5
Es war weit nach Mitternacht, als Peter schließlich gehen wollte.
»Ich werde morgen noch mal Beverly anrufen und mich bei ihr für den schönen Abend bedanken. Ich dachte schon, ich würde heute alles versauen«, sagte Peter, als er sich seine Jacke anzog.
»Das wird sie bestimmt freuen.«
»Glaubst du, dass sie sauer auf mich ist, weil wir den Abend so plötzlich abgebrochen haben?«
»Mach dir keine Sorgen. Wir reden hier schließlich über Beverly. Sie wäre die Letzte, die nachtragend wäre.«
Peter nickte und schaute mich nachdenklich mit müden Augen an. »Danke noch mal für dein Geschenk. Ich werde es zu Hause gleich aufmachen.«
»Das kann auch bis morgen warten«, sagte ich.
Als Peter das Haus verlassen hatte, schloss ich die Tür und hielt inne. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Absolute Stille. Peters Panikattacke hatte mich viel mehr aufgewühlt, als ich mir gewünscht hätte.
Irgendwann bricht es durch dich durch. Alles vergeht. Ich kann es nicht aufhalten. Ich bin gezwungen, es zu spüren. Ich muss mit ansehen, wie die Welt jeden Tag um eine Farbnuance ärmer wird. Ich höre jeden Tag ein Vogellied weniger. Schmecke nur noch bitter. Kann das Meer nicht mehr riechen. Merke mir jeden Tag einen Namen weniger. Träume jede Nacht einen Traum weniger. Ich sehe nur noch eine Konstante. Den Pfad, den man nur einmal betritt.
Viel zu oft hatten Peter und ich zusammengesessen und Musik gehört, während wir Träumen nachjagten. War das genug? Reichte das zum Weiterleben? Ich wunderte mich nicht, als in mir die Erkenntnis reifte, dass wir unsere Zeit nur deshalb mit Träumen vergeudeten, weil uns letztlich der Mut fehlte, dieser traurigen Existenz ein Ende zu setzen.
Warum eigentlich nicht?
Wie oft war ich schon an diesem Punkt angelangt? Wie oft hatte ich mir schon Gedanken darüber gemacht, mich umzubringen?
Warum eigentlich nicht?
Wie viele Möglichkeiten hatte ich nicht schon in Erwägung gezogen, es zu tun? Wie oft war ich schon kurz davor gewesen, es zu tun? Und wie oft hatte ich kurz davor den Schwanz eingezogen und war weinend in mein Bett gekrochen? Es war ein merkwürdiges, fast unbeschreibliches Gefühl, als ich alleine im Flur meines Hauses stehend sagte: »Nein, heute kann ich es tun.« In dieser Nacht verspürte ich das erste Mal diesen Mut, der sonst gefehlt hatte.