Kitabı oku: «Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext», sayfa 9
Als abstrakte Potenz verweist der Begriff des Baumes je nach Sprecher auf eine andere außersprachliche Wirklichkeit und ist damit auch Träger unterschiedlicher symbolischer Systeme, die jedoch stets in Dependenz zum dominanten Sprachsystem bzw. zur Sprache des Feindes stehen. In seinem Interview mit Antoine Bourseiller 1981 entschlüsselt Genet den Ursprung dieses Motivs, bei dem es sich um die Begründung David Hilliards von den Black Panthers handelt, warum er Genet nicht in die im Wald gelegene Stony-Brook Universität bei New York begleite: „Non, il y a encore trop d’arbres.“33 Genet kategorisiert seine Antwort als „réponse que seul un Noir américain pouvait faire“34 und decodiert die Bedeutung des Baumes ähnlich wie in den anderen beiden Textbeispielen als Zeichen der amerikanischen Lynchjustiz, das jedoch allein für die afroamerikanische Bevölkerung eine Gefahrenquelle designiert, während die Aussage für die weiße Bevölkerung ohne eine nähere Erläuterung unverständlich bleiben muss. In diesem Beispiel spiegelt sich die poetische Vision der Welt wider, welche Genet den Black Panthers attestiert. Denn die Poesie entfaltet sich für Genet aus der Situation der gesellschaftlichen Ausgeschlossenheit, die in der Eingeschlossenheit im Gefängnis versinnbildlicht ist. Aus dieser poetischen Vision wird überhaupt erst ein revolutionäres Potential freigesetzt.
2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht Genets, Sartres und Foucaults
Die in Frankreich im Mai ’68 kulminierende soziokulturelle und politische Protestbewegung, deren Zielsetzung mit Karl-Heinz Bohrer als „radikale Transzendenz des Bestehenden“1 bezeichnet werden kann, findet im Nach-Mai in der Person des französischen Innenministers Raymond Marcellin einen Widersacher. Marcellins legislative Maßnahmen, wie die Einrichtung von Ausnahmegerichten (Cour de sûreté de l’État) und die Erweiterung des Strafgesetzbuches um den Paragraphen 314, der unter dem Namen der ‚loi anti-casseur‘ die Organisatoren illegaler Demonstrationen und anderer öffentlicher Aktionen anvisiert, fördern die Sanktionierung und Kriminalisierung der neuen Protestgruppen und -formen, die somit in den Bereich der Illegalität verwiesen werden.2 Die zahlenmäßige Häufung von Gerichtsverfahren gegen oppositionelle Gruppen, deren Zielsetzung die Aufrechterhaltung des im Mai 1968 manifest gewordenen, revolutionären Potentials war, stellt jedoch kein innerfranzösisches Phänomen dar, sondern betrifft die westlichen Industrienationen allgemein, wie Sandra Kraft am Beispiel Deutschlands und der USA ermittelt.3 Diese Konfrontation einzelner Protestgruppen mit Staat und Justiz löst unterschiedliche Debatten im intellektuellen Feld aus. Neben der Kritik an der Rechtsstaatlichkeit und dem als repressiv wahrgenommenen Justizapparat wird die gesellschaftskritische Diskussion darüber hinaus von der Frage nach der Legitimierbarkeit des Einsatzes von revolutionärer Gegengewalt bestimmt. Dieser von Gilcher-Holtey als „Kampf um die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität“4 bezeichnete Konflikt äußert sich folglich auf diskursiver Ebene durch eine grundsätzlich dichotome Rhetorik: Rechts- und Staatskritik und die Motivation von politischer Gewalt durchdringen einander. Im Nachfolgenden soll der diskursive Gegenstand der Kritik an Staat und Justizsystem mit seinen untergeordneten Debatten zum Status politischer Gefangener, zur Bedeutung des Gefängnisses und zur Legitimierung von revolutionärer Gewalt aus der teilweise interdependenten Perspektive Genets, Foucaults und Sartres beleuchtet werden.
2.3.1 Zwischen ‚tribunal populaire‘ und ‚contre-procès‘ – Sartres und Foucaults Kritik an der Institution des Gerichtes
Das von Sartre in Anlehnung an das Tribunal Russell elaborierte Konzept einer Justiz des Volkes, das mit Artières als „projet de recours à une justice ‚populaire‘ comme moyen de lutte face à une justice d’État jugée trop partiale“1 determiniert werden kann, ist Ausgangspunkt der zwischen 1970 und 1975 währenden Debatte über die Bildung einer möglichen außerstaatlichen, alternativen Rechtsinstanz. Das Minenunglück im nordfranzösischen Lens, bei dem am 4. Februar 1970 sechzehn Bergarbeiter ums Leben kommen, konstituiert dabei einen Markstein. Parallel zum Prozess gegen eine Gruppe von Militanten der Gauche prolétarienne, die ihren Missmut über die schlechten Arbeitsbedingungen der Minenarbeiter durch den Beschuss des Bergwerks mit Molotowcocktails zum Ausdruck gebracht hatten und sich deswegen vor Gericht verantworten mussten,2 initiierte die in Reaktion auf den Erlass des Paragraphen 314 gegründete Organisation Secours Rouge unter der Schirmherrschaft Jean-Paul Sartres das so genannte tribunal populaire de Lens. Ziel des Volkstribunals war die Aufklärung der Ursachen, die zu jenem Unglück geführt hatten, das nicht länger als unvermeidbarer Unfall oder Fatalitätsprodukt betrachtet werden sollte, sondern aufgrund der fehlenden Sicherheitsmaßnahmen als Tötungsdelikt. Sartres Anklagerede richtet sich gegen den offiziellen Bericht, demzufolge das die Explosion verursachende Grubengas durch eine gelöste Verankerung ausgetreten sei und somit auf einen zufälligen, technischen Schaden zurückgeführt werden könne.3 In Kontrast dazu benennt Sartre hingegen die Verantwortlichen und Mitwisser, nämlich die Direktion des Bergwerks, die Ingenieure und die Ärzte, zeigt deren Fehlverhalten auf und beschuldigt sie nach dem Prinzip eines klaren Täter-Opfer-Verhältnisses der vorsätzlichen Tötung: „Les ouvriers sont les victimes, les porions […] et surtout les ingénieurs, les médecins et les directeurs sont des assassins.“4 Das Verdikt wird als „loi du peuple“5 bezeichnet und nimmt die Funktion einer Gegenklage zum Prozess gegen die der Brandstiftung angeklagten Militanten vor der Cour de sûreté de l’État ein, im Laufe dessen es verlesen werden sollte. Die darin zum Vorschein kommende Idee von Prozess und Gegen-Prozess, welcher den Staat und sein Justizsystem selbst zum Angeklagten erhebt, schreibt sich in das von Sartre in einer Debatte mit den Maoisten formulierte Ziel der „illégalité absolue, ou contestation du système par la légitimité de la démocratie directe“6 ein. Im Laufe der Diskussion mit den Maoisten beschreibt Sartre das Volkstribunal von Lens als eine von außen auf das Justizsystem einwirkende Aktion, die dieses Ideal der absoluten Illegalität und der Legitimität einer direkten Demokratie verkörpere:
Les seuls qui étaient vraiment sur le plan de l’illégalité complète – puisqu’ils refusaient même les droits que leur conférait le système – c’étaient les maos. Bien entendu, ils tentaient quelquefois une action sur la Justice légale. Mais il fallait qu’elle agisse du dehors: par exemple, le tribunal populaire de Lens. […] Par cette raison, je me suis rapproché du groupe mao; l’ennui c’est que, vers 70–71, il a pris un tournant légaliste, c’est-à-dire qu’il a constitué des Comités Vérité et Justice qui contestent la légalité du dedans au nom de la légalité, et non du dehors: au nom de la légitimité.7
In ihrer Vorgehensweise und Zielsetzung orientiert sich die Aktion in Lens an dem zwischen 1966 und 1967 an unterschiedlichen internationalen Standorten8 organisierten und unter dem Namen seines Ideengebers, des englischen Philosophen Bertrand Russell, bekannt gewordenen Tribunal Russell, an dem auch Sartre neben weiteren intellektuellen Repräsentanten unterschiedlicher Länder partizipierte. Seinem Selbstverständnis nach der Zielsetzung der Nürnberger Prozesse nachempfunden, beabsichtigte das Tribunal Russell, über das Verhalten der US-amerikanischen Streitkräfte in Vietnam aufzuklären und zu beurteilen, inwieweit die amerikanische Politik als Kriegsverbrechen eingestuft werden kann. Die emotionalisierte Kritik am amerikanischen Imperialismus steht dabei der rechtlichen Klärung des kriegerischen Vorgehens nach, wie Sartre in einem Interview betont: „Quand on crie dans un meeting: ‚La guerre du Viêt-nam est un crime‘, on est dans le domaine du passionnel. Cette guerre est certainement contraire aux intérêts de l’immense majorité des hommes mais est-elle juridiquement criminelle?“9 Wie auch in Lens basieren die Recherchen zum Vietnamkrieg auf Zeugenaussagen sowie Dokumenten, vermittels derer eine umfassende Aufklärungs- und Informationsarbeit betrieben werden soll. Das Tribunal Russell kennzeichnet auch den Ausgangspunkt für die dann in den frühen 1970er Jahren offene Konfrontation zwischen der sich als legitim verstehenden, revolutionären Aktion und dem staatlich gesteuerten Justizsystem, wie in Sartres letztem für das Tribunal Russell publizierten Text „De Nuremberg à Stockholm“ von 1967 erkennbar wird:
Le Tribunal Russell est tenu pour illégal par l’ensemble des gouvernements occidentaux. Et le général de Gaulle en lui refusant l’autorisation de siéger en France a résumé l’opinion générale des ‚pouvoirs‘ par ces mots: ‚Toute justice n’appartient qu’à l’État.‘ Pourtant cet organisme – qui s’est créé sur l’initiative d’un seul homme, philosophe célèbre mais simple citoyen dépourvu de charges publiques – après sa session de Stockholm et ses premières conclusions n’a plus besoin de prouver sa légitimité.10
Die hier typographisch hervorgehobenen Konzepte der Illegalität und Legitimität nehmen eine für das Volkstribunal von Lens und die maoistische Handlungsinitiative programmatische Bedeutung ein. Der von Sartre benannte Vorwurf der Illegalität des Tribunal Russell steht in der Folge seines Briefwechsels mit dem damaligen Präsidenten Charles de Gaulle, der die staatliche Verankerung des Justizsystems reklamiert und jegliche Form einer Parallel- oder Gegenjustiz in den Bereich der Illegalität verweist.11 Sartres Kritik an der Abhängigkeit von Staat und Justiz äußert sich in der Gegenüberstellung einer vom Staate und einer vom Volke ausgehenden Macht, mit der seine Inauguralrede zum Tribunal Russell inhaltlich beginnt:
Il y a deux sources de pouvoir, en effet. La première, c’est l’État avec ses institutions. […] L’autre source, c’est le peuple, en période révolutionnaire, quand il change ses institutions. Mais, bien que la lutte demeure implacable, par quel moyen les masses, compartimentées par des frontières, parviendraient-elles à s’unir et à imposer aux différents gouvernements une institution qui serait une véritable magistrature populaire?12
Jene vom Volke ausgehende Macht beschreibt Sartre als in der Revolutionszeit zu Tage tretendes Phänomen, das mit einem gesellschaftlichen Macht- und Institutionswechsel verbunden ist und dem Ziele nach folglich eine gegnerische Institution konstituiert. Sartres Ideal einer jenseits von Ländergrenzen bestehenden „magistrature populaire“13 nimmt seiner eigenen Interpretation zufolge im Tribunal Russell selbst Gestalt an, welches er an anderer Stelle mithin als revolutionäres Gericht definiert:
Nous avons jugé – nous, hommes de la masse – pour la masse et, sans aucun doute, avant son accord. Mais notre jugement n’a pas encore sa vérité: il nous faut à présent le présenter aux peuples, avec ses motifs et ses attendus. S’ils le ratifient, il deviendra le leur et prendra d’eux toute son objectivité. Nous saurons alors que notre légitimation est entière et que les masses, en donnant leur accord, dévoilent une exigence plus profonde: c’est qu’un véritable tribunal soit créé contre les criminels de guerre. Un tribunal qui émane d’elles et qui donne à leurs exigences éthiques une dimension juridique. Un tribunal révolutionnaire.14
Das Tribunal Russell als Gegengericht sowie vor allem dessen Verdikt, so Sartre hier, müsse erst vom Volke seine Legitimierung erfahren, um so dessen ethischen Ansprüchen kraft eines legislativen Stützwerks gerecht zu werden. In seiner Funktion einer revolutionären Gegeninstanz, die sich der staatlichen Institution des Gerichtes widersetzt und in seiner Funktion doppelt, bildet das Tribunal Russell einen Wegweiser nicht nur für das Volkstribunal von Lens, sondern auch für die Handlungsstrategie der Maoisten. So entbrannte nämlich im Juni 1971 eine Debatte über die mögliche Instauration eines Volkstribunals zur Verurteilung polizeilicher Übergriffe, ein Projekt, das bereits im Anschluss an die Pariser Mai-Unruhen und in Analogie zum Tribunal Russell von Daniel Cohn-Bendit lanciert wurde.15 In diesem Kontext interveniert auch Michel Foucault und diskutiert mit Mitgliedern der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen maoistischen Gauche prolétarienne.16 Foucault lehnt die Idee eines Volkstribunals grundsätzlich ab und kritisiert implizit Sartre sowie dessen intellektuellen Handlungsentwurf einer unabhängigen, übergeordneten moralischen Instanz:
Ça renforce l’idée, pour qu’une justice soit juste, il faut qu’elle soit rendue par quelqu’un qui est hors du coup, par un intellectuel, un spécialiste de l’idéalité. Quand, par-dessus le marché, ce tribunal populaire est présidé ou organisé par des intellectuels qui viennent écouter ce que disent, d’une part les ouvriers, de l’autre, le patronat, et dire: ‚L’un est innocent et l’autre est coupable‘, tu as tout un idéalisme qui est drainé à travers tout ça.17
Jedoch richtet sich Foucaults Kritik nicht alleine gegen die Rolle des Intellektuellen, der nach seinem Verständnis im Projekt des Volkstribunals eine richtende Funktion einnimmt, sondern insbesondere gegen die Reproduktion und die Repetition der Gerichtsinstanz selbst. Indem nämlich das Gericht grundsätzlich als Modell übernommen werde, könne die gesellschaftliche Ordnung nicht überwunden werden, so Foucault, der als Basis der Revolution vielmehr die Auflösung des gesamten Justizsystems fordert: „[T]out ce qui peut rappeler l’appareil pénal, tout ce qui peut en rappeler l’idéologie et permettre à cette idéologie de s’insinuer subrepticement dans les pratiques populaires doit être banni.“18 Für ihn besteht eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen dem Wunsch nach einem radikalen gesellschaftlichen Umbruch und der Aufrechterhaltung der im Entwurf des Gerichts repetierten Ordnung einer vermeintlich neutralen Instanz „entre le peuple et ses ennemis, et susceptible d’établir le partage entre le vrai et le faux, le coupable et l’innocent, le juste et l’injuste“19. Jenes Prinzip einer Trennung zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Recht und Unrecht, auf dem nach Foucault das Justizsystem basiert, konsolidiert die diskursive Ordnung, welche seinem Verständnis zufolge im Modus bestimmter Ausschlussprinzipen funktioniert.20 Das Gericht ist damit nicht einfach eine legislative Instanz, sondern auch ein symbolischer Repräsentant des gesellschaftlichen Wertesystems. Anhand der räumlichen Disposition des Gerichtes erläutert Foucault die klare Trennung zwischen den einzelnen, an einem Prozess beteiligten Personen und deren Funktionszuweisung:
Une table; derrière cette table, qui les met à distance des deux plaideurs, des tiers qui sont les juges; leur position indique premièrement qu’ils sont neutres par rapport à l’un et à l’autre; deuxièmement cela implique que leur jugement n’est pas déterminé par avance, qu’il va s’établir après enquête par audition des deux parties, en fonction d’une certaine norme de vérité et d’un certain nombre d’idées sur le juste et l’injuste, et, troisièmement, que leur décision aura force d’autorité.21
Die übergeordnete Stellung des Richters, dessen Urteil sich in einen normativen Wahrheitsdiskurs einschreibt und den Anspruch der Absolutheit vertritt, wird hier von Foucault in ihrer Gültigkeit hinterfragt. In L’ordre du discours kennzeichnet Foucault die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen als „volonté de vérité“, als Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten den Diskurs durchdringt und institutionell verankert ist: „Enfin je crois que cette volonté de vérité ainsi appuyée sur un support et une distribution institutionnelle, tend à exercer sur les autres discours – je parle toujours de notre société – une sorte de pression et comme un pouvoir de contrainte.“22 Dieser Wille zur Wahrheit beherrscht seinem Verständnis nach auch das System der Strafjustiz, „comme si la parole même de la loi ne pouvait plus être autorisée, dans notre société, que par un discours de vérité.“23 Foucaults eigener Entwurf einer Gegeninstanz zur etablierten Institution des Gerichts steht unter der Prämisse, dass die Ordnung des Gerichts mit der darin kolportierten „norme de vérité“24 gänzlich aufgelöst werden müsse und damit folglich auch die Funktion eines Substitutes für das Gericht verliere. Dabei unterscheidet Foucault zwischen dem, was er als „guérilla antijudiciaire“25 bezeichnet, und dem eigentlich angestrebten „contre-procès“26. Während sich nämlich hinter dem Schlagwort des antigerichtlichen Guerillakampfes punktuelle, teilweise spontane Aktionen gegen Polizei und Justiz verbergen, die von einer Anklage gegen die Polizei über eine Flucht vor der Polizei bis hin zur Verhöhnung des Gerichtes und einer persönlichen Gegenüberstellung mit einem Richter reichen können,27 wird das Konzept des Gegenprozesses von der Negation und der Subversion der bestehenden Ordnung getragen. Foucault definiert den Gegenprozess in Opposition zu Sartres Volkstribunal:
Je dirai pour conclure que la réutilisation d’une forme comme celle du tribunal, avec tout ce qu’elle implique – position tierce du juge, référence à un droit ou une équité, sentence décisive – doit aussi être filtrée par une critique très sévère; et je n’en vois, pour ma part, l’emploi valable que dans le cas où l’on peut, parallèlement à un procès bourgeois, faire un contre-procès qui fasse apparaître comme mensonge la vérité de l’autre et comme abus de pouvoir, ses décisions.28
Ziel des Gegenprozesses ist in Foucaults Sinne die Entlarvung der bestehenden Wahrheitsnorm als Lüge und der rechtlichen Entscheidungen als Machtmissbrauch. Die durch die Instanz des Gerichtes vermittelte Trennung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Recht und Unrecht, auf der die gesellschaftliche Ordnung fundiert ist, soll mithilfe des Gegenprozesses eine Subversion erfahren. Im Unterschied zu Sartres Kritik an der Interdependenz von Staat und Justiz, basiert Foucaults Kritik am Justizsystem vielmehr auf dem Infragestellen einer gesamten diskursiven Ordnung, die in den gerichtlichen Instanzen und Prozessen zum Ausdruck kommt. Foucaults Forderung nach einer Auflösung dichotom strukturierender Kategorien begründet auch die Schaffung des Groupe d’information sur les prisons, wie Foucault mit Bezug auf eine Stellungnahme Jean Genets herausstellt:
Je pense que les actions ponctuelles et locales peuvent aller assez loi. Regardez l’action du G.I.P. durant l’année écoulée. Ses interventions ne se proposaient pas comme but ultime que les visites aux prisonniers puissent durer trente minutes ou qu’il y ait des chasses d’eau dans les cellules. Mais d’arriver à ce que le partage social et moral entre innocents et coupables soit lui-même mis en question. […] Notre action, au contraire, ne cherche pas l’âme ou l’homme derrière le condamné, mais à effacer cette frontière profonde entre l’innocence et la culpabilité. C’est la question que posait Genet à propos de la mort du juge de Soledad ou de cet avion détourné par les Palestiniens en Jordanie; les journaux pleuraient sur le juge et sur ces malheureux touristes séquestrés en plein désert sans raison apparente; Genet, lui, disait: ‚Un juge serait-il innocent, et une dame américaine qui a assez d’argent pour faire du tourisme de cette manière-là?‘29
Unter Rekurs auf Genet untermauert Foucault hier seine Kritik an einem manichäischen Gesellschaftsbild und verdeutlicht emblematisch, dass die klare Trennung zwischen Schuld und Unschuld hinterfragt werden muss. In Foucaults Verständnis kann ein Prozess stets nur den institutionell verankerten Wahrheitsdiskurs hervorbringen. Seine Vision eines Gegenprozesses basiert folglich auf der Implementierung einer Gegenwahrheit, welche die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter entsprechend der von Genet geäußerten Vorstellung ins Wanken bringt.
Anders als Sartre erhebt Foucault somit nicht den Staat zum absoluten Gegner, sondern er versteht die staatlichen und legislativen Institutionen vielmehr als Basis, um den vorherrschenden Diskurs der Wahrheit zu kontinuieren. Sein Ziel formuliert er als Angriff auf die Institution „jusqu’au point où elle culmine et s’incarne dans une idéologie simple et fondamentale comme les notions de bien, de mal, d’innocence, de culpabilité.“30 Diese ordnenden Kategorien von Gut und Böse, Schuld und Unschuld bezeichnet er auch als „expressions d’un dualisme constitutif de la conscience occidentale.“31 Foucault distanziert sich von dem von ihm als humanistisch bezeichneten Ansatz, der alleine den Bewusstseinswandel der Individuen anstrebt, nicht aber die Institutionen abschaffen will, ebenso wie von dem reformistischen Prinzip, wonach die Institutionen unter Beibehalt des in ihnen verkörperten ideologischen Systems verändert werden sollen. In Abgrenzung zu den von ihm als Humanismus und Reformismus umschriebenen Prinzipien beansprucht er für seinen eigenen, gegen die bestehenden Machtverhältnisse gerichteten Kampf, welcher die Destabilisierung sowohl des Bewusstseins als auch der Institution voraussetzt, den Status einer revolutionären Aktion:
Pour simplifier, l’humanisme consiste à vouloir changer le système idéologique sans toucher à l’institution; le réformiste, à changer l’institution sans toucher le système idéologique. L’action révolutionnaire se définit au contraire comme un ébranlement simultané de la conscience et de l’institution; ce qui suppose qu’on s’attaque aux rapports de pouvoir dont elles sont l’instrument, l’armature, l’armure.32
Das Echo auf Foucaults kritisch-theoretische Äußerungen findet sich in Sartres 1972 veröffentlichtem Konferenzbeitrag mit dem programmatischen Titel „Justice et État“33. Darin diskutiert er zwar unter Rückbezug auf das Tribunal Russell auch weiterhin die Problematik des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Staat und Justiz, jedoch findet die Forderung nach einer revolutionären, vom Volke ausgehenden Justiz ihre Legitimierung in Auseinandersetzung mit Foucaults Entwurf. Tatsächlich beschreibt Sartre die Volksjustiz mit Bezug auf Foucault als nach dem Prinzip von Schlag und Gegenschlag verfahrendes Modell: „Foucault […] dit que la justice populaire ne se réclame d’aucun principe absolu: on lui fait un dommage et elle riposte.“34 Diese Interpretation unterzieht Sartre jedoch einer marxistischen Lesart. So erhalten die Begriffe „dommage“ und „riposte“ durch ihre Gleichsetzung mit den dem dialektischen Materialismus entlehnten Gegensatzpaaren der „exploitation“35 und des „ensemble des activités qui veulent mettre fin, en ce lieu, en ce temps, en cette conjoncture aux pratiques de l’exploitation“36 eine marxistische Konnotation. Dieser marxistischen Tonart wird in der weiteren Argumentation Rechnung getragen, indem zwischen zwei Arten von Justiz unterschieden wird, nämlich der als „codifiée et permanente“37 beschriebenen bürgerlichen Justiz, die aufgrund ihrer staatlichen Verankerung die Ausbeutung perpetuiert, und der als „intermittente et sauvage“38 bezeichneten Volksjustiz. Erneut erläutert Sartre unter Rekurs auf Foucault die ausbeuterische Eigenschaft der bürgerlichen Justiz:
Comme le dit encore Foucault, son rôle depuis le XVIIIe siècle a été d’opposer l’une à l’autre deux catégories des masses: les hommes qui sont forcés d’accepter un travail à très bas salaire, et qui ne sont pas condamnables, dans la mesure même où ils acceptent parce qu’ils ne peuvent faire autrement, et qui constitueront le prolétariat, et ceux qui refusent ces conditions de vie et sont par là même condamnables pour délit de vagabondage.39
Dabei scheint sich Sartre auf eine in der Debatte mit den Maoisten hervorgebrachte Stellungnahme Foucaults zu beziehen, mit welcher Foucault seinerseits jedoch die notwendige Abschaffung des Justizsystems begründet:
Dans les sociétés comme la nôtre […] l’appareil de justice a été un appareil d’État extrêmement important, dont l’histoire a toujours été masquée. […] Le système pénal a eu pour fonction d’introduire un certain nombre de contradictions au sein des masses et une contradiction majeure qui est celle-ci; opposer les uns aux autres les plébéiens prolétarisés et les plébéiens non prolétarisés. […] Voilà pourquoi la révolution ne peut que passer par l’élimination radicale de l’appareil de justice, et tout ce qui peut rappeler l’appareil pénal […].40
Sartre bedient sich der Argumentation Foucaults, um schließlich die Notwendigkeit der von ihm selbst als Volksjustiz bezeichneten und der zum staatlichen Justizsystem alternativ geltenden Form des Rechtswesens zu untermauern. Beide Justizformen stehen in einem Wechselverhältnis zueinander: „[S]i l’on choisit l’une, on sera condamnable par l’autre.“41 Trotz Sartres marxistischer Filterung und der daraus resultierenden Umdeutung von Foucaults Stellungnahmen und seines Konzeptes einer Gegenjustiz verbindet beide Philosophen eine Bereitschaft zur Grenzverschiebung zwischen Legalität und Illegalität.
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