Kitabı oku: «Stoner McTavish - Schatten», sayfa 6
»Kann sein. Aber ich hab ’n ganz guten Instinkt bei Menschen, und im Augenblick sagt mir dieser Instinkt, dass ihr zwei mir keinen Ärger machen würdet, nicht mal wenn ihr es drauf anlegt. Selbst wenn ihr deinen Mann um die Ecke gebracht habt.«
»Danke«, sagte Gwen.
»Wie auch immer, ich hab sowieso nichts mehr zu verlieren. Ich hab alles, woran mir wirklich was lag, in der Nacht verloren, als sie Dan ermordet haben.«
Gwen setzte sich aufrecht. »Ermordet?«
»Ich habe keine Beweise«, sagte Delia. »Sie behaupten, er sei aus dem Boot gefallen, besoffen. Der alte Doc Evans hat den Totenschein unterschrieben, sagte, in Dans Blut sei genug Sprit gewesen, um damit die Bar Harbor-Neuschottland-Fähre vollzutanken.« Sie blies Rauch durch die Nase. »Muss Dans Blut mit seinem eigenen verwechselt haben.«
»Gab es eine Untersuchung?«, fragte Stoner.
»Sicher. Alle blieben bei ihrer Geschichte.«
»Und was bringt Sie zu der Überzeugung, dass sie nicht stimmt?«
»Dan hat alle Gesetze dieser Welt gebrochen, wenn er an Land war. Aber es gab eine Sache, die er niemals getan hätte, und das war, an Bord der Delia II zu saufen.«
Die Tür öffnete sich und drei Fischer kamen hereingeschlendert, wobei sie Schneematsch und Schotter von ihren Stiefeln stampften. Delia drückte ihre Zigarette aus. »Ich muss mal wieder die Tresen-Jenny spielen.« Sie zögerte einen Moment. »Meine Cousine hat ’ne Teilzeitstelle als Küchenhilfe da oben. Ich werd mal sehen, ob sie was über eure Krankenschwester weiß. Kommt nach Feierabend noch mal hier vorbei.«
»Wann wird das sein?«, fragte Gwen eifrig.
»Samstags hab ich bis neun offen, weil das hier ja so ein irrsinnig lebhaftes Plätzchen ist. Kommt durch die Hintertür. Direkt von der Seitengasse die Holztreppe hoch, dann steht ihr schon im Wohnzimmer. Seht zu, dass ihr nicht wieder auf die Katze tretet. He!«, brüllte sie zu den Männern hinüber, »wenn ihr Jungs bei mir was zu essen kriegen wollt, dann lasst euern Dreck gefälligst draußen!«
»Verdammt, Dee«, brüllte einer der Männer zurück, »du kehrst es einfach zusammen und schmeißt es in die Suppe. Du machst sowieso die sandigste Hummersuppe nördlich von Kennebunk.«
»Das kommt davon, dass du mir deine sandigsten Hummer verkaufst.«
»Stimmt gar nicht. Die verkaufe ich Howard Johnson.«
Delia schickte einen abschließenden Blick über den Tisch. »Das macht zusammen – sagen wir fünf Dollar. Nie der Chefin Trinkgeld geben.« Sie knetete Gwens Schulter. »Herzchen, wenn dir die Marmelade schmeckt, nimm sie mit.«
»Das ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte Gwen heftig errötend.
»Na Teufel, wir Skeptikerinnen müssen doch zusammenhalten.« Sie schlurfte zum Tresen.
Gwen schnappte sich ihren Mantel und floh nach draußen.
***
»Was immer du denkst, ich will es nicht hören«, sagte Gwen. Sie stand auf dem Gehweg mitten im Matsch. Ein kalter Luftzug spielte mit ihrem Haar.
»Ich hab kein Wort gesagt.«
»Dein Gesicht spricht Bände.«
»Deins auch.«
»Ich warne dich, Stoner.«
»Du hast die Blaubeermarmelade vergessen, Herzchen«, sagte Stoner und gab sie ihr.
»Was schulde ich dir fürs Frühstück?«
»Nichts. Ich werde es von der Steuer absetzen, unter Vergnügungsspesen.«
Gwen wirbelte herum und stapfte los. »Noch nie«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, »noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich derart lächerlich gemacht.«
»So was kommt mal vor.«
Sie überquerten die Gasse, die die Seegurke von dem Drugstore trennte. Es war eine richtige Gasse, nicht eine von diesen einspurigen Straßen ohne Gehweg, durch die frustrierte Bostoner mit Vollgas hindurchbrausen nach der deprimierenden Entdeckung, dass sie auf einer Einbahnstraße in die verbotene Richtung fahren, die letzte Woche noch keine Einbahnstraße war. Nein, dies war eine richtige Kleinstadtgasse, mit einer Schotterdecke, durch die hier und da Gras wuchs, und Hinterhöfen mit Schuppen und Zäunen und Mülltonnen und der Intimsphäre des Alltags.
Stoner blieb stehen, um das alles zu bewundern, und verspürte plötzlich ein unbestimmtes, aber deutliches Unbehagen.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, rief Gwen.
Sie machte einen Schritt. Das Gefühl verschwand. »Nur ein Schauder.«
»Hast du dich erkältet?«
»Irgendwas stimmt mit dieser Gasse nicht.«
Gwen sah sich um. »Sieht mir nach einer ganz gewöhnlichen Hinterhofgasse aus.«
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht hat Tante Hermione ja recht. Vielleicht bist du doch ein Medium.«
»Nein, ich bin kein Medium.«
»Ich weiß nicht, warum dich das so aufregt. Es ist doch nichts Schlimmes, medial veranlagt zu sein.«
»Ich hab auch so schon genug Probleme mit meinem Leben. Ich muss mich nicht auch noch mit den Schatten der Zukunft herumschlagen.« Stoner rannte hinter Gwen her. »Kannst du nicht ein bisschen langsamer gehen?«
Gwen wartete auf sie. »Was machen wir als Erstes?«
»Schattenhain unter die Lupe nehmen, oder?«
»In Ordnung, und dann fahren wir die Halbinsel rauf und suchen uns ein Restaurant. Irgendwo zwischen hier und Damariscotta muss es ein Mittagessen für uns geben.«
»Wir wollen es hoffen. Damariscotta selbst sah nicht sehr vielversprechend aus.«
»Ich glaube, ich hab auf der Eins eine Fernfahrerkneipe gesehen.«
»Es kann natürlich sein«, sagte Stoner beiläufig, »dass du lieber in die Seegurke willst, Herzchen.«
»Und warum sollte ich lieber in die Seegurke wollen?«
Stoner zuckte die Achseln. »Ich dachte, es gefällt dir. Und da ist doch auch noch der Rest von der hausgemachten Hühnersuppe.«
»Ich mag keine hausgemachte Hühnersuppe.«
»Vielleicht Kabeljaukroketten?«
»Auch keine Kabeljaukroketten.«
»Und was ist mit der sandigsten Hummersuppe nördlich von Kennebunk?«
»Stoner …«
»Oder lieber die Köchin?«
»Ich will kein Wort mehr darüber hören«, Gwen hob die Stimme. »Hast du mich verstanden? Kein Wort mehr!«
»Klar, kein Wort mehr.«
»Und wehe, du nennst mich noch mal ›Herzchen‹.«
»Kein Herzchen.«
»Und keine Anspielungen auf Blaubeermarmelade.«
»Nix Blaubeer.«
»Verarsch mich nicht.«
Stoner grinste. »Du lieber Himmel, hast du denn noch nie für jemanden geschwärmt?«
»Nicht mehr, seit ich zwölf war.«
»Dann wird’s aber höchste Zeit.«
»Ich bin eine erwachsene Frau, Stoner!«
»Na und?«
»Das ist doch kein vernünftiges Verhalten.«
»Also, dazu kann ich nichts sagen«, meinte Stoner, »aber ich find’s völlig in Ordnung.«
Gwen stapfte davon. »Ich will nicht darüber reden.«
»Nun werd nicht sauer auf mich«, rief Stoner hinter ihr her. »Ich kann nichts dafür.«
»Ich bin nicht sauer, ich bin verlegen.«
»Und ich bin deine Freundin, erinnerst du dich?«
Gwen blieb stehen. »Tut mir leid. Ich bin so durcheinander.«
»Glaub mir, du musst dir nichts daraus machen.« Sie strich Gwen eine Haarsträhne aus den Augen. »Ich bin eine Fachfrau auf diesem Gebiet.«
Ein Stück Papier knisterte im Gully. Der Wind heulte um sie herum und Kälte kroch unter ihren Mantel, aber Stoner fühlte in sich eine Wärme, die genügte, um Gwen mit zu wärmen, und die Möwen, und die Schneehaufen, und das ganze liebe, gruselige Castleton.
»Ich war in ihrer Wohnung«, gestand Gwen.
»Wie war’s?«
»Bücher und Pflanzen und Kerzen.«
»Und Aphrodite.«
»Da waren auch ein paar Fotos, aber ich hab sie mir nicht näher angesehen.«
»Wie ehrenhaft.«
»Die Zeit reichte nicht.« Auf Gwens Stirn erschien eine kleine Falte. »Meinst du, dass sie ihren Mann wirklich getötet haben?«
»Sie glaubt es jedenfalls.«
»Ich frage mich, wieso.«
»Das werden wir hoffentlich heute Abend erfahren. Meinst du, du kommst klar?«
»Lass mich einfach nicht aus den Augen.«
Niemals.
Sie standen vor der Stadtbücherei, einer kleinen weißen Streichholzschachtel von einem Haus, mit abblätternder Farbe und einem Hof, der völlig überwuchert war von Rosen, die jetzt Winterschlaf hielten.
»Ich frage mich«, meinte Gwen, »ob wir da drin nicht etwas herausfinden könnten.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Einfach … irgendwas.« Sie starrte das Gebäude sehnsüchtig an.
Stoner lachte. »Ich glaube, du bist süchtig nach Büchereien.«
»Ich fürchte, das stimmt.«
»Dann lass uns Schattenhain hinter uns bringen und den Nachmittag hier verbringen. Der Teufel soll Damariscotta holen.«
»Nach allem, was wir wissen«, sagte Gwen, »hat der Teufel Damariscotta längst geholt.«
Kapitel 4
Die kopfsteingepflasterte Straße machte eine scharfe Rechtskurve, die Fichten und Schierlingstannen blieben hinter ihnen, und da, auf einer windumtosten Klippe, stand Endstation.
»Meine Güte«, flüsterte Gwen.
Ganz langsam öffnete Stoner die Augen, fühlte das Kribbeln in ihren zu Fäusten geballten Händen und sah das Haus an. Ihr Magen zog sich zu einem vorbildlich geknüpften Knoten zusammen.
»Ist es das?«, fragte Gwen.
»Das ist es.«
»Verflixt.« Sie legte ihre Hand auf Stoners Faust. »Wenn dieser Ort in meinen Träumen vorkäme, würde ich schreiend aufwachen, selbst wenn weiter gar nichts passieren würde.«
Schattenhain, alias Endstation, posierte mächtig und weiß in der Mitte einer abgestorbenen Wiese, in aggressiver Dissonanz mit dem verwaschenen Himmel. Eine steinerne Freitreppe führte auf eine Veranda, die die ganze Länge des Gebäudes einnahm. Hohe Fenster flankierten eine wuchtige Tür, die in neuen Messingangeln hing. Im zweiten Stock öffnete sich eine Doppelflügeltür auf eine weitere Veranda, die von einer kunstvoll geschwungenen Balustrade umschlossen war. Sonst gab es nichts, was einen Sturz von dort oben auf die Steintreppe unten hätte aufhalten können. Das flache, geteerte Dach trug eine schachtelförmige Dachgaube mit einem kleinen Laufsteg. An beiden Seiten des Hauses ragten Schornsteine in den Himmel. Die Fassade bröckelte, die Farbe blätterte ab. Die Fenster glommen silbrig.
Nichts regte sich.
»Es gefällt mir nicht«, sagte Gwen.
Stoner war zu sehr mit ihrer Angst beschäftigt, um zu antworten.
»Es ist scheußlich, Stoner. Es sieht aus, als könne es uns bei lebendigem Leib verschlingen. Lass uns das verdammte Karma in den Wind schreiben und machen, dass wir wegkommen.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Stoner.
Das Haus schien sich zu einem höhnischen Grinsen herabzulassen.
Es will mich.
»Im Ernst. Vergiss Schattenhain. Vergiss Claire Rasmussen. Vergiss …«
»Ich hab Nancy versprochen …« Sie kroch in den Sitz.
»Niemand wird dich darauf festnageln, glaub mir.«
»Aber wenn du gesehen hättest, wie besorgt sie ist … Gwen, die Welt wimmelt nur so von gebrochenen Versprechen. Von mir sollen nicht auch noch welche dazukommen.«
Gwen seufzte und schüttelte den Kopf. »Wie kommt es bloß, dass die Dinge, die ich an dir am meisten liebe, zugleich die Dinge sind, die mich zur Weißglut treiben?« Sie stieß ihre Tür auf. »Na, los.«
Der kiesbestreute Parkplatz lag dem Haus gegenüber. Zur Linken gab es mit dornigem Gestrüpp zugewachsene Tennisplätze, Überreste von Strandrosen, einen Steilhang und unten das Meer. Unsichtbare Wellen gischteten auf scharfkantige Klippen, etwas entfernter wiegte sich hörbar der Ozean. Hinter dem Hauptgebäude ragte ein renoviertes Kutscherhäuschen hervor. Einige wenige Autos standen verstreut auf dem Parkplatz herum.
Der Wind heulte.
Das Haus wartete.
Sie stählte sich. Okay, Schattenhain, oder Endstation, oder wie auch immer du dich zu nennen beliebst, die Würfel sind gefallen. Der Fehdehandschuh ist geworfen. Der Rubikon ist überschritten. Ich bin da.
Ein Sonnenstrahl huschte aufblinkend über eines der Fenster in der ersten Etage, wie ein obszönes Zwinkern.
Es weiß, dass ich da bin. Es wusste, dass ich kommen würde.
»Was jetzt?«, fragte Gwen.
»Also, wenn du jemals den Wunsch hattest, Lord Byron zu zitieren«, scherzte Stoner etwas zittrig, »jetzt wäre der ideale Augenblick dafür.«
Gwen schüttelte den Kopf. »Was wir jetzt brauchen, ist unerschütterlicher, glasklarer, praktischer Menschenverstand.«
»Also dann, Position.« Die Sonne war links von ihr. Die Klippen wanden sich halb um das Haus herum, so dass nach zwei Seiten Meerblick möglich war. »Süden«, sagte sie und zeigte direkt vor sich, dann nach links. »Osten. Wir sind von Westen gekommen, also muss Castle Point im Norden liegen.«
»Sehr gut«, sagte Gwen. »Jetzt erklär der Klasse, was du noch gelernt hast.«
»Ich frage mich, ob ich im Ort eine topografische Karte kriege.«
»Wofür denn?«
»Nur für alle Fälle.«
»Hast du vor, Zelten zu gehen?«
Stoner zuckte hilflos die Achseln.
»Na ja, wenn du dich dadurch sicherer fühlst …«
Sicherer? Nichts konnte bewirken, dass sie sich hier sicherer fühlte. Kein Talisman, kein Amulett, kein Medizinbeutel, nichts konnte sie vor dem eigentümlichen Warten da drinnen beschützen.
Gwen stapfte los, auf die Freitreppe zu.
»Wo willst du hin?«
»Claire suchen. Herumschnüffeln. Eine Inspektion machen. Den Laden auschecken. Nenn es, wie du willst.«
Stoner sah zu, wie das Haus Gwen verschluckte.
Sie schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch gegen den Wind.
Es ist ein Haus. Bloß ein Haus. Später Kolonialstil, leicht griechisch-römisch verbrämt. Ungefähr 1790. Ein Haus wie jedes andere auch. Das netteste Haus im ganzen Viertel …
Was mache ich denn jetzt?
Erst mal verzieh dich aus der Bühnenmitte. Dann halt Ausschau nach Claires Wagen.
Sie begann ihren Rundgang Richtung Osten, hielt sich dicht bei den Bäumen. An der Ostseite des Hauses gewährte eine Fensterfront einen Blick auf gigantische Topfpflanzen und Korbmöbel. Vermutlich ein Wartezimmer, oder einfach ein Wintergarten. Der Raum war leer.
Sie sah auf die Uhr. Halb zwölf. Vielleicht waren alle beim Mittagessen.
Ein überdachter, seitlich offener Laubengang an der Rückseite führte zu dem Kutscherhäuschen. Hier war der Anstrich frisch, die Vorhänge an den Fenstern ein Durcheinander von Mustern und Farben. War hier das Personal untergebracht?
Sie sah auf. Etwas Grünes überzog Dachrinne und Schornsteine. Es glänzte nass. Es schien mit weichen Schattenfingern über die abbröckelnden Steine zu streichen.
Moos, sagte sie sich. Moos wächst in feuchtem Klima. Küsten haben feuchtes Klima.
Auf einem kleineren Parkplatz standen ebenfalls ein paar Wagen, aber kein blassblauer Achtundsiebziger Ford mit Nummernschild aus Massachusetts.
Vielleicht ist Claire wirklich im Urlaub.
Vielleicht.
Die Klippen begannen einige hundert Meter hinter dem Haus. Das Meer fing an, sich zurückzuziehen. Tief unten klatschten Wellen auf muschelverkrustete Felsbrocken. Ebbe setzte ein. Draußen auf dem Ozean schnitt ein Schiff leise durch leichten Nebel.
An der südöstlichen Hausecke zögerte sie. Die Südwand würde rau sein, mit abblätternder Farbe, der Boden mit Schotter bedeckt.
So war es.
Sie wusste, wenn sie die Mauer berührte, würde sie warm sein.
Sie berührte die Mauer nicht.
Stattdessen bückte sie sich und starrte in den Schotter. Sie sah Büschel von kleinen gekrümmten Zweigen mit winzigen braunen Blättern. Sie zupfte ein Stück ab, rieb es zwischen den Fingern und roch daran.
Thymian.
Es fehlte nur noch der Skorpion.
Sie hockte sich hin, und wie ein bleierner Mantel legte sich Bewegungsunfähigkeit um sie.
Nun gab es nichts mehr zu tun, als den Traum ablaufen zu lassen.
Sie schloss die Augen und wartete.
Etwas bewegte sich. Langsam, gleichmäßig.
Es knackte auf dem Boden.
Kam näher …
Berührte ihr Gesicht, ihre Augenlider.
Etwas Kaltes, Feuchtes, das nach den dunklen Tiefen des Ozeans roch. Nach finsteren geheimen Orten unter den Wellen, wo sich nichts regte, wohin kein Lichtstrahl fiel, wo das Wasser bewegungslos stand und der Schlamm von Jahrtausenden immerfort abwärts sank, schwerelos wie schwarzer Schnee, der durch ewiges Schweigen rieselt … Auf die zerschmetterten, in tausend Scherben verstreuten Körper von Trilobiten, Schachtelhalmen und Riesenpalmen, ausgestorbenen Reptilien und flügellosen Vögeln sank der Schlamm herab, auf Wracks von Segelschiffen, grinsende Schädel, versunkene Berge, verkohlte Scheite von längst erloschenen Feuern; begrub unter sich Fetzen ritueller Gewänder, verbogene Metalle von verlorenen Flugzeugen, verlorene Hoffnungen, vergessene Götter, tote Helden, träge Träume von Riesenschildkröten und winzigen Pferden mit Hufen wie Teetassen, verzweifelte Frauen, verbrauchte Wut, ungeborene Kinder, die Samen von zerdrückten Blumen …
… den Abfall der ganzen Geschichte und der Zeit vor der Geschichte, alles für immer in Dunkelheit getaucht.
Der Schrei einer Möwe brachte sie wieder zu sich. Der Wind flüsterte in dem trockenen Gras. Blinzelnd sah sie sich um. Da war das Haus, das Meer, Gwens Wagen. Und Gwen, die mit schnellen Schritten den Weg hinunterlief.
Stoner rannte hinterher. »Was haben sie gesagt?«
»Steig ein«, schnappte Gwen. Sie knallte die Wagentür zu, drehte den Zündschlüssel, trat das Gaspedal durch und ließ den Kies sprühen.
»Was ist denn los?«
»Ich hasse Lügner.«
»Hab ich denn gelogen?« fragte Stoner.
»Die! ›Oh, Schwester Rasmussen ist auf Urlaub‹«, flötete sie. »Diese Schweine.«
»Also, ihr Wagen ist wirklich weg. Vielleicht auch sie.«
»Ich hab sie gesehen.«
Stoner fuhr hoch und saß stocksteif da. »Du hast was?«
»Sie gesehen.« Gwen ließ das Auto einen Schlenker nach links machen, um eine vereiste Schmelzwasserrinne zu umfahren. »Im Speisesaal.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Ich bin nicht über die Eingangshalle hinausgelangt.«
»Was hat sie gemacht?«
»Nichts, rein gar nichts. Und du hast noch nie jemanden so intensiv nichts machen sehen, wie sie da drin nichts machte. Ich weiß nicht, auf was für einer Reise sie ist, aber Urlaub würde ich es nicht nennen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hab diesen Gesichtsausdruck schon mal gesehen. Also wenn sie noch dealt, würde ich sagen, sie schießt sich offenbar die Gewinne.«
Stoner runzelte die Stirn. »Drogen … Aber wenn das stimmt, und bei ihrer Vorgeschichte, warum machen sie dann so ein Geheimnis daraus?«
»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie selbst was zu verbergen. Reizende Leute.« Der Wagen hüpfte über einen Stein und schleuderte leicht.
»Und warum ist dann ihr Auto weg?«
Sie eierten von der einen Straßenseite zur anderen. Stoner zog ihren Gurt fester.
»Und, hast du was gefunden?«, fragte Gwen.
»Haargenau das, was ich erwartet hatte. Inklusive Thymian.«
»Skurril.«
»Ja.«
»Bist du sicher, dass du hier noch nie warst?«
»Nicht in diesem Leben.« Sie hatten die Asphaltstraße wieder erreicht. Gwen nahm die erste Kurve mit quietschenden Reifen. »Welches sich vermutlich gerade dem Ende zuneigt.«
Gwen starrte sie an. »Was?«
Das Meer war plötzlich direkt vor ihnen. »Pass auf!«, schrie Stoner. »Sieh doch auf die Straße. Du fährst wie eine Irre.«
»’tschuldigung.« Gwen verlangsamte den Wagen auf ein immer noch halsbrecherisches Tempo. »Die haben mich wütend gemacht.«
»Offensichtlich.«
»›Auf Urlaub‹, sagt er.«
»Sagt wer?«
»Die Kreatur, die die Tür bewachte. ›Ach, ist das nicht Claire, da im Essraum?‹, frage ich zuckersüß. ›Das ist keine Schwester, das ist eine Patientin.‹–›Ich sehe, dass es sich um eine Patientin handeln muss, aber sie sieht aus wie Claire Rasmussen.‹–›Tja, sie ist es aber nicht‹, sagt er. ›Rasmussen ist auf Urlaub.‹« Gwen schnaubte empört. »›Auf Urlaub‹, ich bitte dich. Wo hat er Sprechen gelernt, im Zirkus?«
»Bitte fahr nicht so schnell, Gwen.«
Gwen ignorierte sie. »Und erzähl mir nicht, es war nicht Claire. Ich mache keine Fehler.« Sie hielt inne. »Na ja, jedenfalls nicht solche.«
Der Wagen geriet auf den vereisten Sand, der neben der Fahrbahn lag. Gwen brachte ihn mit einem tückischen Schlenker auf die Spur zurück.
»Wenn du nicht sofort dieses Auto unter Kontrolle kriegst«, sagte Stoner, »dann springe ich raus.« Sie legte eine Hand auf den Türgriff. »Ich meine es ernst, Gwen.«
»Folgendes werden wir tun«, sagte Gwen. Ein nasses Eichenblatt klatschte gegen die Windschutzscheibe und blieb daran kleben. Sie verschob und zerquetschte es mit zwei wilden Scheibenwischerschwüngen. »Wir fahren in die Stadt zurück und schlagen bis kurz nach drei die Zeit tot, dann schleichen wir uns hintenrum wieder rein …«
»Wo hintenrum?«
»Unterbrich mich nicht. Wir schleichen uns wieder rein und sehen uns etwas genauer um.«
»Warum nach drei?«
»Schichtwechsel. Falls wir erwischt werden, will ich keinen der Gorillas von eben wiedertreffen, die mich schon gesehen haben.«
»Sehr vernünftig.«
Sie jagten an der Hafenschänke vorbei, die in ihrer ganzen hoffnungslosen Verkommenheit dalag.
»Bist du sicher, dass es Claire war, die du gesehen hast?«
»Die Flunder war es jedenfalls nicht. Glaub mir. Ich hab ein fotografisches Gedächtnis.«
Gwens Hände hielten das Steuer fest. Stoner musste daran denken, wie sie sich auf ihrer Haut anfühlten, und erschauerte wohlig. Mein Körper hat ein fotografisches Gedächtnis. »Was tun wir bis dahin?«, fragte sie, hauptsächlich, um ihre Gedanken von solch gefährlichen Themen wegzukriegen.
»In die Stadtbücherei gehen.«
Sie grinste. »Die Bücherei.«
»Büchereien in Kleinstädten werden immer von irgendjemandes altjüngferlicher Tante betreut, die sämtlichen Klatsch und Tratsch der letzten sechs Generationen kennt.«
***
Nicht so die Oliver Winthrop-Gedenkbibliothek in Castleton. Die Oliver Winthrop-Gedenkbibliothek in Castleton wurde von einem rundgesichtigen, übertrieben gut gelaunten jungen Mann namens Al aus Decatur, Illinois, betreut, der einen Magister in Literaturwissenschaft besaß. Er lebte seit zwei Monaten in Castleton und wusste weniger als nichts, war aber mehr als bereit, das zu teilen. Er war ebenfalls mehr als bereit, Gwens Gesellschaft für den Abend zu teilen.
Während Stoner müßig eine völlig veraltete Ausgabe der Geschichte des historischen Castle Point durchblätterte, beschäftigte sie sich vorrangig damit, lange Ohren zu machen und zu verfolgen, wie ihre Gefühle zwischen Verärgerung und Belustigung hin- und herhüpften wie ein Tennisball in Wimbledon.
Al flirtete.
Gwen kramte im Lochkartensytem.
Er raspelte Süßholz.
Sie wies ihn zurück.
Er schmollte.
Sie gab ihm einen Korb.
Er versuchte es mit Charme.
Sie beklagte mangelnde Aktualität des Lochkartensystems.
Er bot Abendessen mit Kino.
Er bot an, Stoner mitzunehmen.
Er tat so ziemlich alles Erdenkliche, außer aufgeben.
»Hör mal«, sagte Gwen schließlich, »siehst du die Frau da hinten?«
Er schielte rüber und nickte.
»Sie«, fuhr Gwen fort, »ist zufällig der härteste männerhassende, messerschwingende, Schwänze-als-Trophäen-sammelnde kesse Vater von Boston. Und ich bin ihre Stammbraut.«
Er starrte mit offenem Mund zu ihr rüber.
Stoner wurde drei Schattierungen röter und lächelte gewinnend.
»Sie sieht nicht sehr hart aus«, sagte er ziemlich unsicher.
»Aussehen ist Schall und Rauch«, erwiderte Gwen und senkte die Stimme. »Sie ist so knallhart, sie brettert mit ihrer Harley den höchsten Berg von Massachusetts hinunter, ohne Sturzhelm natürlich.«
Stoner versuchte furchterregend auszusehen.
»Der letzte Typ, der versucht hat, sich an mich ranzumachen«, fuhr Gwen fort, »also glaub mir, das willst du nicht wissen.«
Al schluckte hart.
»Ich sage nur, er hat ganz allein die größte Privatklinik von Boston zu einem Non-Profit-Unternehmen gemacht.«
»He«, sagte Al und hielt beide Hände hoch. »Schon gut. Ich hab nichts gesagt, geht mich ja auch alles nichts an.« Er schlurfte zur Rückgabekiste und fing an, wie wild Bücher zu sortieren.
»Komm, Hulk«, rief Gwen Stoner zu. »Lass uns abzischen und eine heiße Nummer schieben.«
Als sie draußen waren, brach Stoner an einem Baum zusammen und schrie vor Lachen, bis ihr Gesicht schmerzte. »Wie konntest du nur?«
»Die Situation verlangte nach außergewöhnlichen Mitteln«, sagte Gwen.
Stoner wischte sich die Augen. »Du solltest so was nicht machen, weißt du, manche Männer fassen das als direkte Einladung zur Vergewaltigung auf.«
Gwen zuckte die Achseln.
»Hast du das ernst gemeint«, stichelte Stoner, »von wegen heiße Nummer schieben?«
Gwen sah zur Seite. »Vielleicht.«
Stoner hielt den Atem an. »Gwen?«
»Ich hab Iowa nicht vergessen.«
Stoners Herz machte einen Satz und blieb in ihrer Kehle stecken.
»Manchmal«, sagte Gwen, »glaube ich, ich möchte es gern wieder tun.«
»Wirklich?«
Gwen nickte. Ihr Haar hatte im Sonnenlicht die Farbe von Toast. »Geht es dir auch manchmal so?«
»Ähm … ja, schon …«
»Aber nicht einfach nur so. Ich müsste schon sicher sein.«
»Inwiefern sicher?«,
»Dass es nicht bloß ein Abenteuer ist.«
»Ach, na ja«, sagte Stoner lahm, »auch Abenteuer haben ihren Reiz.«
»Sind aber nicht mein Stil. Deiner doch auch nicht, oder? Du bedeutest mir viel zu viel, um dich auf diese Art zu benutzen.«
Soll wohl heißen: Ich bin nicht in dich verliebt. »Ich weiß das wirklich zu schätzen«, Stoner zwang sich zu einem leichten, beiläufigen Ton. »So was kann einer Freundschaft sehr schlecht bekommen.«
»Freundschaften sollte frau nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.«
»Gute Freundschaften jedenfalls nicht.«
»Wirklich enge Freundschaften.«
Sie betraten die Parkanlage in der Mitte der Stadt. Als sie die Hände in ihre Taschen steckte, entdeckte Stoner ein altes Bonbonpapier. Sie warf es in den Springbrunnen. »Sogar mittelmäßige Freundschaften.«
»Miese Freundschaften.«
»Lausige Freundschaften.«
»Aber wir zwei haben eine gute Freundschaft«, sagte Gwen. »Oder nicht?«
»Bilderbuchreif.«
»Außer«, fuhr Gwen fort, ohne auf den Sarkasmus einzugehen, »wenn ich ein Ekel bin und dich schlecht behandele.«
»Jede kriegt irgendwann einen Rappel, wenn sie den Bostoner Winter ertragen muss«, sagte Stoner. »Der Frühling steht ja jetzt vor der Tür.«
Ein eisiger Windstoß fegte ihnen Staub und Straßendreck ins Gesicht. »Nicht vor dieser Tür«, bemerkte Gwen grimmig. »Hast du in dem Buch irgendwas von Belang gefunden?«
»Nicht viel. Deine historische Skizze über Endstation war übrigens erstaunlich akkurat.«
»Ich geb mir eben Mühe.«
»Abgesehen von der Stelle mit Cicero im griechischen Original.«
Gwen zuckte die Schultern.
»Eine Zeitlang galt das Haus als Spukschloss«, fuhr Stoner fort. »Der übliche Kram – seltsame Lichter, unheimliche Geräusche. Dann wurde jahrelang nichts mehr bemerkt. Es scheint im Familienbesitz der Winthrops geblieben zu sein, jedenfalls bis 1910, als das Buch geschrieben wurde.« Sie zerquetschte einen Klecks Schneematsch unter ihrem Stiefel. »Ich weiß nicht, was ich zu finden gehofft habe, aber es war jedenfalls nicht da.«
»Vielleicht kommen wir heute Nachmittag ein Stück weiter.«
»Ach, Gwen, du kannst doch nicht im Ernst erwarten, dass Claire im Garten herumhüpft und Krocket spielt.«
»Trotzdem könnten wir einen Fingerzeig entdecken.«
»Ja, oder wir könnten zwischen den Bäumen herumstolpern wie Kleinkinder, die Rotkäppchen spielen, und alles, was wir am Ende davon haben, ist eine mittelschwere Lungenentzündung.«
»Ich wette, wenn wir den Tiefstand der Ebbe erwischen«, sagte Gwen, »dann können wir von der Wasserseite aus den Zaun umgehen.«
Stoner blieb stehen, nahm Gwen mit beiden Händen an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Hör mir gut zu, Gwen, irgendwas war da heute Morgen bei dem Haus. Ich hab keine Ahnung, was das war, aber es war nichts Rationales. Ich hab Angst, und ich weiß nicht mal, wovor.«
Gwen sah sie an, die dunklen Augen sehr ernst, und presste ihre Hand gegen Stoners Wange. »Ich verspreche dir, dass ich nicht zulassen werde, dass dir was passiert.«
Stoner schüttelte den Kopf. »Das ist nichts, worauf du irgendwelchen Einfluss hast.«
»Traumzeugs?«
»So etwa.«
Gwen legte ihren Arm um Stoners Schultern und überlegte einen Moment. »Na ja, also pass mal auf, ich könnte doch allein …«
»Nein«, sagte Stoner scharf, »wir gehen zusammen oder gar nicht.«
»Kann es sein, dass du ein bisschen overprotective bist?«
»Nur ganz normal vernünftig. Mal abgesehen von meinen persönlichen Schwierigkeiten mit dem Haus könnten diese Leute durchaus gefährlich sein.«
»Also«, Gwen verschränkte ihre Hände in Stoners Nacken, »was denn nun? Sehen wir den Dingen ins Auge, oder schleichen wir uns davon wie die gelbbäuchigen Feiglinge, die wir beide in Wirklichkeit sind?«
Stoner lachte. »Tolle Auswahl. Okay, wir gehen hin, aber du musst mir versprechen, nichts Leichtsinniges zu tun.« Was rede ich da bloß? Das muss ein Witz sein. Da stehst du, umfängst meinen Nacken, siehst mir in die Augen. Lady, das ist der himmelschreiendste Akt von Leichtsinn, der in der Geschichte der Menschheit je begangen wurde. »Ich meine es ernst, Gwen.«
»Chauvinistin.«
»Na und?«
»Politisch ziemlich daneben«, stichelte Gwen.
»Nicht für einen Schwänze-als-Trophäen-sammelnden kessen Vater aus Boston.« Ich will zu dir gehören. Ich will Versprechungen für die Ewigkeit. Ich will ein rosenbewachsenes Häuschen und Frühstück im Bett. Ich will das ganze verdammte Klischee.
»Keine Sorge, Stoner, ich werde nicht zulassen, dass deine Träume Wirklichkeit werden.«
Ich weiß, dachte sie. Das ist ja mein Problem.
***
Sie parkte den Wagen am Straßenrand, da, woder Maschendrahtzaun im rechten Winkel abknickte und aufs Meer zulief. Der Himmel war noch blau, aber von Osten her zogen Wolkenzipfel heran und ließen das Blau blasser werden. Durch eine Gruppe Tannen hindurch konnte sie die scharf abfallenden Klippen sehen, und dahinter eine undurchdringliche graue Wand. Nebel.
»Okay«, sagte Gwen forsch, »lass uns einen Schlachtplan machen. Wir schleichen uns zum Haus, möglichst ohne uns sehen zu lassen …«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.