Kitabı oku: «Tomaten mögen keinen Regen»

Yazı tipi:

TOMATEN MÖGEN

SARAH MICHAELA ORLOVSKÝ

KEINEN REGEN


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage 2014

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Nele Steinborn unter Verwendung

eines Fotos von fotolia.com

Layoutgestaltung: Nele Steinborn, www.steinborn.at

Schrift: Henriette regular und italic (Typejockes), Helvetica Neue light und medium

Druck und Bindung: Druckerei Theiss, St. Stefan

ISBN 978-3-7022-3368-6 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3421-8 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Der Text „Gott schuf die Sonne“ auf den Seiten 43 und 44 stammt aus: Christa Reinig, Sämtliche Gedichte, mit einem Vorwort von Horst Bienek, Düsseldorf, Eremiten-Presse, 1984. Wir danken dem Verlag für die Abdruckerlaubnis.

Das Bibelzitat (Psalm 142) auf der Seite 176 ist entnommen aus der ökumenisch verantworteten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.

© 1980 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

WIDMUNG

Handlung und Personen dieses Romans sind völlig frei erfunden und haben nie woanders existiert als in meinem Kopf und auf dem Papier.

Es kann aber durchaus sein, dass irgendwo in Armenien eine Handvoll junger Menschen lebt, die mir geholfen haben zu verstehen, wie es ist, wenn dich alle behandeln, als wärst du behindert. Nur, weil deine Zunge oder deine Arme oder deine Beine nicht denselben Bewegungsradius haben wie die der meisten Leute.

Dafür möchte ich mich hier bedanken.

Sarah M. Orlovský

Die Trage quietscht, als der Notarzt sie ins Innere seines Wagens schiebt. Schwester Miki klettert hinein und setzt sich neben Sirup. Seine Hand hängt schlaff über den Rand der schmalen Matratze. Schwester Miki nimmt die Hand und legt sie in ihren Schoß. Sie massiert Sirups Finger. Ich habe ihn berührt, vorher, als er auf der Erde gelegen ist. Seine Hand war eiskalt. Eis-kalt. Wie tot.

Ich habe mir so oft ein Leben ohne Sirup gewünscht. Aber jetzt gerade wünsche ich mir nichts mehr, als dass er überlebt.

INHALT

KAPITEL 1

ANA

KAPITEL 2

ANA

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

ANA

KAPITEL 10

ANA

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

ANA

KAPITEL 14

KAPITEL 15

ANA

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

ANA

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

ANA

KAPITEL 24/ICH

KAPITEL 1

„Manchmal trage ich zu viele Geschichten mit mir herum, die nicht mir gehören. Dann habe ich oft das Gefühl, dass mir alles zu viel wird“, sagt Schwester Miki. „Aber ich habe einen Trick. Soll ich ihn dir verraten?“

Ich nicke halbherzig.

„Ich schließe einfach die Augen und öffne meinen Kopf“, fährt Schwester Miki fort, „und alle Gedanken fließen heraus. Ich lasse alles los, was nicht mir gehört. Und dann öffne ich die Augen und stelle mir vor, dass ich alles zum ersten Mal sehe.“ Sie lächelt. „Da kommen oft ganz erstaunliche Dinge zum Vorschein.“

Das ist wieder so ein Spruch, den niemand versteht. Physiotherapie heißt, dass Schwester Miki mir die Knochen wieder einrenkt und meine Gelenke massiert, damit ich in Ruhe schlafen kann. Ohne diese elendigen Schmerzen. Aber sie zieht und dreht und massiert und dabei redet sie ohne Unterbrechung, die ganze Zeit, bis mir am Ende der Kopf weh tut.

Meine Augen schließen und den Kopf öffnen. Genau …

Ich kann mir gut vorstellen, den Bäcker oder den Busfahrer oder den Postbeamten wie zum ersten Mal anzusehen. Das geht leicht. Wenn ich die Augen zumache, bin ich mir nicht einmal ganz sicher, wie sie aussehen.

Aber hier, zu Hause? Ich kenne alle hier fast mein ganzes Leben lang. Eilis singt und Sirup rennt und Gaya grummelt und Tiko träumt von einem Schloss, in dem sie Prinzessin sein kann. Ich weiß, wie sie sind. – Wie leer muss ich meinen Kopf machen, bis ich all das vergesse?

Ich merke, wie Schwester Miki mich anstarrt. Ihre milchblauen Augen schauen ernst. Gleichzeitig lachen sie irgendwie, tief drinnen. Schwester Mikis Gesicht ist jung, fast ohne Falten, aber die Haarsträhnen, die unter dem Schleier hervorlugen, sind schneeweiß. Keine Ahnung, wie alt Schwester Miki ist. Wenn sie selbst Kinder hätte, wären die sicher jünger als wir.

Aber sie hat keine eigenen Kinder.

Sie braucht auch keine. Sie hat ja uns.

„Bewahre dir diesen Blick, Hovanes“, sagt Schwester Miki lächelnd.

Ich werde rot.

„Probier es heute einmal aus.“

Es ist schön warm draußen. Auf der Veranda sitzt Eilis, ein Kissen im Nacken. Sie hat die Augen geschlossen und hält das Gesicht in die Sonne. Wahrscheinlich schläft sie. Ich schleiche mich vorsichtig an sie heran.

Da höre ich sie summen.

Als mein Schatten auf sie fällt, öffnet Eilis die Augen. Sie hat Augen wie schwarze Löcher. Große, schwarze Löcher, die alles aufsaugen. Manchmal falle ich selbst hinein, mit dem Kopf voran und dann ist mir wohl.

Eilis sieht alles. Die kleinsten Dinge. Manchmal ist sie ziemlich verrückt. Wenn sie einen Regenwurm sieht, zieht sie den Bremshebel an ihrem Rollstuhl. Einmal ist Schwester Rosa mit ihr in den Straßengraben gekippt, weil Eilis für eine Nacktschnecke gebremst hat.

Manchmal weint sie. Sie sagt, wenn sie zu viel sieht, wird sie traurig. Keine Ahnung, wieso.

Ich rutsche langsam mit dem Rücken an der rauen Hauswand hinunter, bis ich am Betonboden sitze, das Kinn auf die Knie gestützt. Es ist schön warm hier. Warm und ruhig.

Plötzlich bewegt sich etwas. Ein Schatten huscht zwischen den Apfelbäumen hindurch. Ich will Eilis anstupsen, da geht es schon BAKABAMM und die Tür knallt zu. Eilis zuckt zusammen. Ihre Hand schlägt gegen die metallene Armstütze am Rollstuhl. Sie verzieht das Gesicht vor Schmerz und saugt zischend die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein.

Eilis sieht die kleinsten Dinge, aber in die Zukunft sehen kann sie nicht. Dabei muss man kein Hellseher sein, um sich auszurechnen, dass gleich eine Tür zuknallt – BAKABAMM! – oder ein Glas runterfällt – KALIRRRRR! – oder jemand indianerheult – AIAWUUUUAIAIAIAIAI! –, wenn Sirup vorbeisaust.

Sirup ist am längsten von uns allen hier. Seine Mutter wollte ihn nicht. Das haben die Schwestern zwar nie so gesagt, aber das müssen sie auch nicht.

Sirup liebt Sirup. Immer schon. Am meisten mit Himbeergeschmack. Er würde ihn ohne Wasser trinken, wenn er könnte. Sogar sein erstes Wort war „Sirup“. Normalerweise sagen Babys zuerst „Mama“ oder „Papa“, hat Schwester Rosa erzählt. Aber Sirup hatte ja keine Mama. Und einen Papa auch nicht.

„Unser Robin ist als Baby in den Sirup gefallen, wie Obelix in den Zaubertrank“, sagt Schwester Rosa immer. „Deswegen hat er so viel Energie. Genug Energie für ein ganzes Leben.“

Sirup läuft und läuft und läuft, den ganzen Tag lang.

Trapp trapp trapp läuft er,

TRAPPTRAPPTRAPP, immer schneller, den Hügel hinunter, die Stiege hinauf,

BAKABAMM, knallt die Tür zu.

Das ist Sirup.

Er ist schon zwölf und er geht in die Schule und er kann noch immer keine Tür normal zumachen.

Jetzt sitzt Eilis da, in ihrem Rollstuhl und lächelt. Richtig wütend werden kann sie genau so wenig, wie sie laufen kann. Nie schreit sie oder haut auf den Tisch oder flucht.

Manchmal weint sie. Aber sie flucht nicht.

„Die Prinzessin kommt“, sagt Eilis.

Ich horche.

„Diener, mach die Tür zu!“, hallt es drinnen durch den Gang.

Natürlich gibt es keinen Diener. Das Türschließen erledigt der Wind, wie immer. Schon wieder knallt es.

Eilis kichert.

Die Haustür schwingt auf und ein neonrosa Zepter erscheint, dicht gefolgt von einer kleinen, runden Nase und einem silbernen Glitzerkrönchen. Die kleine Gestalt schreitet majestätisch die drei Stufen zu uns herunter. Der perlenbestickte Umhang weht hinter ihr her und liest den Staub von den Steinfliesen auf.

„Wie haben Prinzessin geruht?“, fragt Eilis und legt den Kopf auf die Seite.

„Wirklich sehr ausgezeichnet“, antwortet die Prinzessin würdevoll.

Ich glaube ihr aufs Wort. Das Muster des Frottee-Kopfkissens hat sich in ihr Gesicht eingraviert.

„Ich mag wieder Tiko sein. Prinzessinspielen ist langweilig“, sagt Tiko, reißt sich das Krönchen vom Kopf und hüpft die letzten zwei Stufen hinunter, direkt in meinen Schoß. Meine Knie knirschen und mir bleibt die Luft weg. Tiko sollte nicht so viel Kartoffelpüree essen.

Tiko wirft ihre kurzen, kräftigen Arme um meinen Hals, drückt ihr Stupsnäschen gegen meine Hakennase und versucht, mir tief in die Augen zu blicken. Die Augen in ihrem kleinen Gesicht stehen viel näher beisammen als meine. Tiko kann sich nicht entscheiden, wo genau sie hinsehen soll. Ihre Pupillen gehen über Kreuz. Sie drückt mir einen Kuss auf die Nasenspitze. Einen sehr feuchten Tikokuss. Ich verziehe das Gesicht. Tiko kichert vergnügt.

Plötzlich legt sie den Zeigefinger an die Lippen und wird ganz starr. Ich höre nichts. Den Wind vielleicht. Aber sonst …

„Sie sind zurück“, sagt Eilis.

„Juhu!“, schreit Tiko und springt auf. Mit einem Satz ist sie auf dem Gartenweg und saust in Richtung Tor. Im selben Augenblick wird die Haustür aufgerissen, knallt – KALAKIBAMM – gegen den Türstopper und kommt postwendend zurückgeschossen. Bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, ist Sirup schon die Stufen hinuntergesprungen. Hastig rennt er Tiko hinterher.

Immer muss er der Erste sein, wenn jemand kommt. Immer muss er das Tor aufmachen. Er hätte besser ein Wachhund werden sollen.

Ich stütze mich mit der Hand an der Wand ab und stehe auf. Ich habe keine Eile. Es sind ja nur Gaya und Schwester Rosa, die vom Einkaufen zurückkommen.

Schwester Miki kommt aus dem Haus. Sie bindet sich gerade ihre Arbeitsschürze um.

„Wollen wir ihnen ausladen helfen?“, fragt sie munter. Ohne eine Antwort abzuwarten, löst sie die Bremsen am Rollstuhl und schiebt Eilis im Renntempo die Rampe hinunter auf den Gartenweg.

„Holterdipolter!“, ruft sie und lässt Eilis über die Steine rumpeln. Eilis kreischt.

Als ich um die Ecke biege, kommen mir Schwester Miki und Eilis schon wieder entgegen. Der Rollstuhl ist mit Kochschokolade, Rosinen, Mohn und Taschentüchern beladen und von den Griffen baumeln vier Familienpackungen Klopapier. Tiko läuft mit wichtiger Miene hinterher und sammelt auf, was während der Rumpelfahrt hinunterrutscht.

Gaya ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hat sie sich längst ins Mädchenzimmer verdrückt. Wundert mich nicht.

„Na, wo sind denn meine starken Burschen?“, ruft Schwester Rosa aus der Einfahrt herauf. Ich mag nicht, wenn sie so mit mir spricht. Wie mit einem kleinen Kind. Ich bin kein kleines Kind mehr. Aber sag das einmal einer Nonne.

Schwester Rosa steht unter der Heckklappe des Minibusses und dirigiert das Ausladen.

„Hier, mit besten Grüßen aus Bella Italia!“, sagt sie zu Sirup und zeigt auf eine Riesenladung Spaghetti. Sirup packt den Karton und grinst mich dabei an. Damit ich auch ja sehe, dass das ein Klacks ist für ihn. Dann rennt er davon und heult dabei wie eine Sirene.

„Und für dich die Bananen, mein Guter“, sagt Schwester Rosa und klopft mir auf die Schulter. Ich runzle die Stirn.

„Natürlich bio!“, ruft sie entrüstet, als sie meinen Blick sieht. „Nun hab dich nicht so, aufs unterste Regalbrett, Marsch Marsch!“

Ich nehme also die Bananenschachtel und mache mich auf den Weg. Sirup kommt mir schon bei den Apfelbäumen entgegengerannt. Er stürmt an mir vorbei, als gäbe es beim Auto gratis Eiscreme.

Ich schlichte die Bananen ordentlich ins Regal, damit sie nicht faulig werden. Sirup würde sie wahrscheinlich einfach hineinwerfen und wir müssten wieder zwei Wochen lang braunes Bananenmus essen. Den leeren Karton stelle ich zum Altpapiersammeln in die Abstellkammer. Ich mache alles genau richtig. Das sollte Schwester Rosa jetzt sehen. Aber sie ist noch immer draußen. Das muss wirklich ein Rieseneinkauf gewesen sein. Ich laufe noch einmal hinaus, um den Rest zu holen.

Sirup hebt gerade etwas Großes aus dem Bus. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist, aber es muss schwer sein, so wie er dabei in die Knie geht. Damit schafft er es nie bis ins Haus. Egal, wie breit er grinst.

„Nein, Hovo, nicht!“, schreit Tiko, als ich zum Bus gehe.

Keine Ahnung, was nicht. Sirup taumelt unter seiner Last. Ich mache zwei schnelle Schritte. Da schiebt sich ein Schatten vor die Sonne.

Es ist Schwester Rosa. Sie sollte auch nicht so viel essen.

„Hovanes, bitte sei so gut und trag die Eier hinauf“, sagt sie.

Die Eier? Da bleibt mir der Mund offen. Ernsthaft! Sirup schleppt sich kaputt und ich soll eine Packung blöde Eier in die Küche tragen?

„Hovanes, bitte, stell dich nicht so an“, stöhnt Schwester Rosa. „Schwester Miki wartet schon. Sie braucht die Eier zum Kochen.“

Sie drückt mir den Karton in die Hand und macht auf den Fersen kehrt. Mit Sirups Hilfe wuchtet sie die Riesenlast aus dem Auto, gemeinsam torkeln sie in die Garage.

Ich presse die Lippen aufeinander. Immer darf Sirup alles machen. Immer werde ich behandelt wie ein Baby. – Die Eier! – Ich bin älter als Sirup. Ich kann auch schwere Sachen tragen. Mindestens so gut wie Sirup.

Und die Gießkanne soll Schwester Rosa das nächste Mal alleine schleppen. Das mit den Bandscheiben kann sie ab jetzt jemand anderem erzählen.

ANA

„Ana?“, fragt Levon schüchtern. „Hat das noch bis Montag Zeit?“ Der Praktikant legt einen Packen Papier auf den Schreibtisch der Chefredakteurin.

„Hat was Zeit?“, fragt Ana und blättert die Unterlagen blitzschnell durch.

„Bis heute sollte ja das Konzept stehen, nicht? Für die Reportage über Menschen mit Behinderung“, erinnert sie Levon. „Aber ich stecke noch immer mitten in den Recherchen. Das ist so ein umfangreiches Thema. Kann ich da bitte noch übers Wochenende dran schreiben?“

„Ist gut“, seufzt Ana. „Ich komme vor Montag sowieso nicht dazu, mir das anzusehen.“

„Danke“, sagt Levon. „Und – ach ja – für die Sitzung morgen um 11.00, soll ich da noch etwas vorbereiten?“

„Welche Sitzung?“

„Ähm – die Redaktionssitzung für die Herbstausgabe.“

„Die Redaktionssitzung“, flucht Ana. „Verdammt.“

Levon starrt Ana verblüfft an.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt er vorsichtig.

Ana holt tief Luft.

„Sowieso“, lächelt sie. „Es ist nur gerade etwas dicht, alles zusammen.“

Einen kurzen Moment lang steht Levon da, unschlüssig, ob er gehen oder noch kurz bleiben soll.

„Magst du vielleicht auf einen schnellen Kaffee gehen?“, fragt er schließlich.

Ana sieht auf ihre Uhr. „Warum nicht“, sagt sie. „Eine Pause kann nicht schaden.“

Ich habe den Kopf fest zwischen die Knie geklemmt, um den Schmerz in meinem Kopf wegzudrücken. Trotzdem höre ich den Wagen. Das Tor schlägt klirrend gegen die Mauer und dann heult ein Motor auf.

Ich schiebe mich hinter dem schweren Regal hervor. Mein Hals und mein Rücken sind ganz steif vom langen Sitzen. Ich steige auf zwei Kartoffelsäcke, um aus dem Fenster sehen zu können. Von der Speisekammer aus sieht man nur die kleine Ecke der Einfahrt, in der die Mülltonnen stehen. Das Auto ist genau davor geparkt. Ich kann nur die offene Seitentür erkennen.

Es ist der Rettungswagen.

Sie sind zurück aus dem Krankenhaus.

KAPITEL 2

Die Leute fragen immer, wie das so ist, in einem Waisenheim zu leben.

„Es ist so, dass wir keine Eltern haben“, sagt Eilis dann. „Aber wir haben hier trotzdem eine Familie.“

„Das Essen ist okay“, sagt Sirup dann, „oder was meinst du?“ „Ein Waisenheim ist halt ein Waisenheim“, sagt Gaya dann. Wenn sie überhaupt etwas sagt.

Ein Waisenheim ist halt ein Waisenheim. Und wenn man sein ganzes Leben in einem Waisenheim gewohnt hat, weiß man auch gar nicht, wie es anders sein könnte. Es ist eben so.

Ich hätte nur gerne ein eigenes Zimmer, für mich allein. Oder zumindest irgendetwas, das nur mir gehört. Das Haus gehört allen, der Garten gehört allen, wir essen und beten und atmen zusammen, Schwester Miki regiert in der Küche und Schwester Rosa kontrolliert unsere Schränke. Dazwischen ist kein Platz für Wut und keine Zeit zum Spazierengehen.

Ich stopfe die Gartenhandschuhe in meine Hosentasche und schlüpfe in die Gummistiefel. Das raue Material reibt an meiner Ferse, als ich zu den Gemüsebeeten stiefle, aber ich bin zu faul, zurückzugehen und mir Socken zu holen.

Schwester Rosa kratzt mit Schere und Feile die Trauerränder unter Tikos Fingernägeln heraus. Eilis sitzt daneben und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Sie lächelt mir zu. Aber mir ist nicht nach Lächeln. Mir ist nach Vasenzertrümmern und Ziegelwerfen.

Stattdessen hebe ich den Deckel von dem Eimer mit der Brennnessel-Jauche. Schnell drehe ich den Kopf weg. Der Gestank haut mich fast um. Seit fünf Tagen schwimmen die Brennnesseln im Wasser. Der Sud ist bestimmt längst giftig.

Für Menschen.

Aber nicht für Tomaten. Die Tomatenstauden trinken Brennnesselsaft wie verrückt. Besonders jetzt, wo sie Blüten kriegen. Ich muss den Sud noch mit reinem Wasser mischen, damit er nicht zu stark ist. Mit angehaltenem Atem greife ich nach der Gießkanne.

Da plätschert es. Und dabei habe ich die Kanne noch nicht einmal gekippt …

Regnet es? – Blödsinn. Blitzblauer Himmel, kein Tropfen von oben. Ich drehe mich um.

Es ist Sirup. Er steht breitbeinig da in seinen Gummistiefeln und wäscht den Kiesweg mit dem Gartenschlauch. Er sieht meinen Blick.

„Alles staubig!“, ruft er und zeigt auf die Steine. „Ganz schön viel Arbeit.“

Sirup nennt das Arbeit. Schwester Rosa würde sagen, es ist Wasserverschwendung. Aber Sirup ist das egal. Dafür duscht er nur, wenn es absolut notwendig ist.

Gaya kommt aus dem Haus. Ihr T-Shirt ist zerknautscht und die langen braunen Locken stehen ihr wild vom Kopf. Gut, dass Schwester Rosa beschäftigt ist. Sie will, dass ihre Mädels ordentlich aussehen. Adrett, sagt sie. In diesem Punkt haben Sirup und ich es besser. Wir müssen nur sauber sein.

Gaya sieht verächtlich zu den anderen Mädchen hinüber. Dann kommt sie mit großen Schritten zu uns. Vor Sirup bleibt sie stehen und zieht die Augenbrauen hoch.

„Goldwaschen war schon“, sagt sie und tippt sich an die Stirn. Dann nimmt Gaya ein Stück Bindfaden und macht sich an der Staude neben mir zu schaffen.

„Alles ist besser als Nägelschneiden“, knurrt sie.

Das Abendessen verläuft schweigsam. Sirup schaufelt den Eierreis in sich hinein wie ein Mähdrescher. Man kann ihm kaum zusehen, ohne dass einem schlecht wird dabei. Gaya trennt Körnchen für Körnchen den Reis von den Eiern.

„Kann ich schon aufstehen?“, fragt Tiko schmatzend.

„Mach erst mal deinen Mund leer“, sagt Schwester Miki. Tiko schluckt und klingt dabei wie unsere alte Waschmaschine.

„Jetzt?“

„Hab ein bisschen Geduld, Schätzchen“, gurrt Schwester Rosa.

„Wir warten, bis alle fertig sind.“

„Aber ich könnte doch schon …“

Schwester Miki verschließt Tiko den Mund mit einer Sonnenblumenserviette.

Ich habe große Lust, aufzustehen und meinen Teller abzulecken. Mal sehen, was sie dann tun.

„Den Abwasch erledigen wir nachher“, sagt Schwester Rosa endlich und schiebt ihren Stuhl zurück. „Ausnahmsweise. Wir haben noch etwas Wichtiges vor, bevor es dunkel wird.“

Tiko kichert.

„Psst!“, macht Eilis und legt den Zeigefinger an die Lippen.

Ohne weitere Fragen zu stellen, folgen alle Schwester Rosa in den Garten. Ich komme mir vor wie bei einer Verschwörung. Bin ich der Einzige, der nicht weiß, worum es geht? Oder denken die anderen einfach nicht darüber nach? Bin ich der Einzige hier, der sein Hirn benützt?

Ich gehe als Letzter aus dem Haus. Sirup springt hakenschlagend an den anderen vorbei zum Geräteschuppen. Anscheinend hat Schwester Rosa ihm den Schlüssel gegeben. Er fummelt am Schloss herum und hält die Tür für uns auf. Als wäre das sein Privatschuppen. Ich könnte ihn erwürgen.

Ich hätte nie gedacht, dass wir alle in die kleine Holzhütte passen. Sogar Eilis’ Rollstuhl geht sich aus. Irgendjemand hat Ordnung gemacht. Die Rechen, Harken und Schaufeln lehnen ordentlich nebeneinander an der Wand, der Schubkarren steht in der Ecke bei den Kisten und Schachteln und die Säcke mit der Blumenerde sind zu einer Pyramide aufgestapelt. In der Mitte steht etwas Großes, Eckiges, das mit einem Tuch verhüllt ist. Sirup baut sich mit verschränkten Armen daneben auf. Tiko flattert um ihn herum wie ein Huhn, das gerade ein Ei gelegt hat.

„Lieber Hovanes, es ist uns eine große Ehre, dir drei Gäste vorzustellen, die die nächste Zeit mit uns verbringen werden“, sagt Schwester Rosa feierlich.

„Bis wir sie essen“, murmelt Gaya. Schwester Miki legt ihr die Hand auf die Schulter.

„Wir präsentieren: Mümmelmann eins, zwei und drei!“, ruft Sirup und zieht kräftig an dem Tuch.

„Das war meine Idee!“, kräht Tiko. „Sie heißen alle Mümmelmann! Aber nur mit Nachnamen. Die Vornamen darfst du aussuchen, hat Schwester Rosa gesagt.“

Vor mir steht eine große Holzkiste, mit Heu ausgelegt und mit einem Gitter bedeckt. Im Heu sitzen wie erstarrt drei Hasen. Nur die kleinen Nasen bewegen sich hektisch auf und ab.

Ich verstehe nicht ganz. Alle wissen davon? Nur ich nicht?

„Das sind Riesenkaninchen“, sagt Schwester Rosa stolz. „Sie werden bis zu sieben Kilo schwer. Wir dachten, jetzt wäre ein ganz guter Zeitpunkt, um etwas Neues auszuprobieren – Hasenzucht. Du hast ja Zeit genug in den Ferien. Würdest du diese Aufgabe für uns übernehmen, Hovanes?“

Ich fasse es nicht. Riesenkaninchen züchten? Hoffentlich haben sie wenigstens Männchen und Weibchen gekauft …

„Was sagst du dazu?“, fragt Schwester Miki. Alle sehen mich erwartungsvoll an. Die Schwestern haben sicher eine Menge bezahlt für die Karnickel. Außerdem war es eine Überraschung, extra für mich. Es muss echt schwer gewesen sein, das geheim zu halten. Besonders für Tiko.

Ich versuche, so dankbar auszusehen wie möglich. Ein Kuss für Schwester Miki, einer für Schwester Rosa. Aber nur in die Luft. Das muss reichen.

„Schluss?“, fragt Gaya gähnend.

„Ja. Lasst uns drinnen aufräumen und dann ab in die Heia“, nickt Schwester Rosa. Im Gänsemarsch verlassen alle den Schuppen. Ich hocke mich neben die Kiste. Die drei Mümmelmänner scheinen sich beruhigt zu haben. Einer knabbert sogar ganz lässig an einem Heuhalm. Unglaublich, wie schnell er die Lippen bewegen kann. Das sieht witzig aus. Der Kerl ist ganz weiß. Er hat rote Augen. Oder sie. Keine Ahnung. Mümmelmann Numero zwei sieht auf jeden Fall aus wie ein Mädchen. Weiß mit grauen Flecken. Wie Schminke um die Augen. Und lange Wimpern. Das dritte Kaninchen ist weiß mit hellbraunen Flecken. Es sieht ein bisschen schmutzig aus. Vielleicht wäscht es sich nicht so gerne. Wie Gaya.

Waschen sich Hasen überhaupt? Vielleicht putzen sie sich mit der Zunge, wie die Katzen. Oder gar nicht, wie Hunde. Vielleicht kratzen sie sich nur. Ich muss sie genau beobachten. Das wird mein Projekt. Meine Aufgabe, ganz allein meine.

„Hovanes?“

Die Kaninchen erschrecken und ich auch. Wir kauern alle vier regungslos am Boden. Aber es ist nur Schwester Rosa, die sich durch die Tür schiebt.

„Hovanes, komm rein“, sagt sie. „Morgen zeig ich dir alles, was du über die Hasen wissen musst.“

Na toll. So viel zu „ganz für mich allein“.