Kitabı oku: «Tomaten mögen keinen Regen», sayfa 2
ANA
Levon klopft an, bevor er die Tür zu Anas Büro aufdrückt.
„Hast du kurz Zeit?“
„Was gibt’s denn?“
„Es ist wegen der Behinderten-Story …“, sagt Levon und lässt sich auf den freien Stuhl fallen. „Ich soll ja bis heute sagen, wie ich den Artikel anlegen will.“ Er stockt.
Ana sieht von ihrem Notizbuch auf. „Ja?“
„Ich habe mir überlegt, dass ich über Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung schreiben will“, sagt Levon. „Darüber, wie sie leben. Über ihren Alltag und so.“
Ana nickt. „Klingt interessant.“
„Ich weiß nur nicht, wie ich es schreiben soll“, seufzt Levon.
„Wie meinst du das?“, fragt Ana.
„Na ja – so, wie mein Artikel bis jetzt aussieht, könnte es ein Lexikon-Eintrag sein. Wegen all dieser politisch korrekten Ausdrücke. Und beim Thema bin ich mir auch noch nicht sicher. Versteh mich nicht falsch, aber … barrierefreie Bildung? Kinofilme für Gehörlose, Mode für Kleinwüchsige?“ Levon sieht Ana hilflos an. „Das interessiert doch keinen!“
„Am besten, du schreibst über Einzelschicksale“, sagt Ana. „So etwas lesen die Leute immer gern.“
„Wie“, meint Levon verwirrt. „Soll ich die einfach erfinden?“
„Natürlich nicht! Du besorgst dir die Adresse eines Behindertenheims und dann gehst du hin und schaust es dir an, interviewst die Leute dort, machst Fotos, aus. Viel mehr gibt’s da nicht zu tun.“
„Ich weiß nicht“, sagt Levon zweifelnd.
Ana sieht ihn nachdenklich an. Sie klopft mit dem Bleistift auf die Schreibtischunterlage.
„Hm, na ja, es ist deine erste große Reportage“, sagt sie nach einer Weile. Sie schaut kurz auf ihren Terminkalender. „Weißt du was? Wir tauschen. Ich übernehme das Behindertenheim und du schreibst die Story über die Flößer. Das ist ein historisches Thema, das geht fürs Erste wahrscheinlich einfacher.“
Levon nickt erleichtert. „Dazu fällt mir etwas ein“, sagt er. „Danke!“
Ana schließt kurz die Augen und nickt.
Seit einer Ewigkeit hocke ich hier am Gang, am kalten Boden, ohne Polster, ohne Stuhl. Da bewegt sich die Klinke. Ich richte mich auf, rutsche auf die Knie. Schwester Miki kommt aus dem Zimmer. Sie sieht mich nicht an. Seit dem Unfall hat sie mir noch kein einziges Mal in die Augen gesehen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden das schon sind. Vielleicht drei, vielleicht zwanzig, vielleicht hundert. Aber es tut weh. Es tut verdammt weh und es ist so ungerecht, dass es schreit in mir.
Wenn man etwas falsch gemacht hat, soll man es gleich zugeben und sich entschuldigen, sagen die Schwestern immer. Dann ist alles wieder gut.
Ich weiß aber nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich kann mich auch nicht bei Schwester Miki entschuldigen, wenn sie nicht mit mir spricht und bei Sirup sowieso nicht, wenn sie mich nicht zu ihm lassen. Ich weiß nicht einmal, ob er sprechen kann. Ob er jemals wieder sprechen wird.
Nichts ist gut.
Nichts wird jemals wieder gut.
Schwester Miki läuft wieder an mir vorbei. Sie hat eine Schüssel mit heißem Wasser in der Hand und ein weißes Tuch über dem Arm hängen. Als die Tür aufgeht, sehe ich Schwester Rosa. Sie sitzt an Sirups Bett und hält seine Hand. Die Tür fällt zu und verschluckt sie alle, Sirup, Schwester Rosa und Schwester Miki. Sie brauchen mich nicht. Niemand braucht mich.
KAPITEL 3
Im Geräteschuppen ist es unerträglich heiß. Die Kaninchen sitzen bewegungslos in ihrer Kiste und starren vor sich hin. Ich knie mich auf den Boden und spähe durch die Holzlatten, um besser sehen zu können. Das graugetupfte Kaninchenmädchen liegt lang ausgestreckt auf dem Boden. Nur die kleine Nase bewegt sich schnell auf und ab. Das soll nicht so sein. Etwas ist falsch.
Die Kiste ist falsch. Sie ist für Kartoffeln, nicht für Kaninchen. „Zuerst müssen wir darüber nachdenken, wo sie wohnen sollen“, sagt Schwester Rosa und geht neben mir in die Hocke. „Die Holzkiste ist zu klein für alle drei.“
Es stört mich, dass Schwester Rosa da ist. Das sind meine Kaninchen. Aber es ist immer das Gleiche: Zuerst schenkt sie dir was und dann will sie darüber bestimmen. Sie kann ja schon über das ganze Haus bestimmen, und Schwester Miki muss auch immer machen, was Schwester Rosa sagt, weil Schwester Rosa die Mutter Oberin ist. Da muss sie nicht auch noch die Mutter Oberin im Kaninchenstall sein.
„Du musst gut auf die Hasen Acht geben und den Stall sauber halten, Hovanes“, sagt Schwester Rosa. „Hasen werden leicht krank, wenn sie im Schmutz schlafen. Dann sterben sie.“
Das sind Kaninchen, keine Hasen. Sie weiß nicht einmal, wie die Tiere richtig heißen und dann will sie bestimmen, was ich mit ihnen machen soll. Ich bin kein Kind mehr. Und ich bin nicht blöd.
Ich muss einen Stall bauen. Am besten einen auf Stelzen. Dann kann der Dreck durch das Gitter hinunterfallen und ich brauche nur den Boden zu kehren.
„Ein Mal am Tag musst du sie füttern, Hovanes“, fährt Schwester Rosa fort und steht ächzend auf. „Ich habe Hasenfutter gekauft, das steht dort hinten in der Ecke. Dort liegt auch ein Messbecher. Ein Becher pro Hase reicht. Sonst überfressen sie sich.“
Hasenfutter. Das Zeug sieht aus wie Müsli. Das kann ihnen nicht schmecken. Das ist doch viel zu trocken. Kaninchen brauchen sicher frisches Gemüse. Karotten gibt es genug im Garten. Aber Kaninchen fressen ja nicht nur Karotten. Das glauben nur kleine Kinder und Leute, denen Kaninchen egal sind.
„Hovanes, hörst du mir überhaupt zu?“ Schwester Rosa stemmt die Hände in die Seiten.
Ja. Leider. Du bist ja nicht zu überhören. Aber Schwester Rosa muss man ansehen, wenn sie mit einem spricht. Darauf steht sie.
Ich schaue ihr brav ins Gesicht und nicke.
„Na gut. Jetzt lasse ich dich erst einmal allein mit deinen Schätzen, Hovanes“, sagt Schwester Rosa zufrieden. „Wenn du etwas brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ Sie streicht mir über den Kopf und geht. Wahrscheinlich ins Haus, um Gaya zu quälen. Oder zu ihren Blumen.
Ich muss Gras mähen für die Kaninchen. Und Heu machen. Vor allem für den Winter.
Ich glaube, das wird ganz schön viel Arbeit.

Wenn es nur nicht so heiß wäre … Es ist wie verhext! Die Nägel zu lang, die Bretter zu kurz, alles wird schief. Jetzt habe ich den ganzen Tag geschuftet und der blöde Stall sieht aus wie ein Vogelhaus nach dem Sturm. Ich hätte nie gedacht, dass das so lange dauert.
Wenigstens sind Sommerferien.
Ich mag die Schule, aber in den Ferien sind die Tage friedlicher. Sie sind ohne Stillsitzen und Aufpassen und Aufzeigen und sie gehören mir.
Außerdem haben die Internate zu.
Ich kenne nicht viele Leute, die ins Internat gehen. Eigentlich kenne ich nur Lucine. Lucine musste ins Internat ziehen, weil ihre Schule in der Stadt ist. Sie kommt nur mehr selten heim und wenn sie heimkommt, besucht sie uns trotzdem nur manchmal. Aber jetzt hat das Internat zu und sie wohnt ganz hier bei ihren Eltern. Da hat sie Zeit, Eis zu essen und ihre Freunde zu besuchen, jeden Nachmittag, so oft sie will.
Meistens ruft sie nicht einmal vorher an. Wenn jemand zu Besuch kommen will, muss er immer zuerst Schwester Rosa anrufen. Sonst sagt Schwester Rosa: „Es tut mir leid, wir empfangen gerade keinen Besuch, bitte melden Sie sich vorher an.“
Bei Lucine sagt sie das nie. Lucine kann einfach so kommen. Das hat sie schon immer so gemacht, schon im Kindergarten. Gestern hat sie trotzdem angerufen. „Ich komme morgen vorbei“, hat sie zu Schwester Rosa gesagt. „Irgendwann am Nachmittag.“
Jetzt ist es schon drei Uhr.
Aber das macht nichts. Lucine kommt bestimmt. Tiko und Eilis warten schon seit dem Mittagessen vor dem Haus. Tiko hat sich geweigert, ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Ich würde auch lieber im Schatten unter dem Vordach sitzen. Mir ist heiß. Aber zum Sitzen ist keine Zeit. Den Kaninchen ist auch heiß in ihrem dicken Fell. Und im Geräteschuppen ist es stockdunkel. Sie haben sicher Angst. Sie brauchen endlich einen Stall.
Die Glocke schrillt. Tiko springt auf und sprintet zum Tor. Da läutet es schon wieder.
Zwei Mal kurz, ein Mal lang.
Lucine.
Ich sammle die verbogenen Nägel ein und richte mich auf. Uff, mein Rücken tut so weh …
KABUMM! – die Tür. Und Sirup rennt. Dieses Mal kommt er zu spät. Er rennt trotzdem. Die Schottersteine fliegen unter dem Druck seiner Schuhe in alle Richtungen davon. Es ist ohrenbetäubend laut. Ein Stein fliegt direkt in Schwester Rosas Blumenbeet.
Sirup überholt Tiko genau vor dem Tor. Tiko schimpft, ganz leise, sie braucht ihre Luft zum Laufen.
„Immer machst du Unangenehmheiten!“, zetert sie.
Zu dritt kommen sie um die Ecke. Lucine streichelt Tikos Hand. Sirup macht ganz große Augen. Er redet wie der Nachrichtensprecher im Radio. Nur schneller.
„Und wir haben Hasen bekommen! Wir bauen einen Stall!“ Seine Stimme überschlägt sich.
Wir bauen einen Stall. Na klar. Das Einzige, was Sirup produziert, ist heiße Luft.
Sirup fuchtelt mit Händen und Armen. Er zeigt Lucine, wie groß die Kaninchen sind. So wie er die Arme streckt, sieht das eher aus, als hätten wir ein Pferd oder eine Kuh gekauft. Lucine beißt sich auf die Unterlippe und dreht den Kopf. Sie sieht mich.
Sieht mich an.
In der Schule haben wir besondere Wörter gelernt. Für Augenfarben. Es gibt meergrüne Augen oder eisblaue oder bernsteinfarbene. Aber diese Wörter passen nicht zu Lucine.
Lucines Augen sind schön. Sie sind ein bisschen wie Sonne oder Stroh.
Ich glaube, Lucines Augen sind blond.
„Hoi, Hovo“, sagt Lucine.
Ich nicke ihr zu und versuche ein Lächeln ohne Spucke. Es ist so heiß hier. Tiko zieht an Lucines Hand. Immer will sie Prinzessin spielen, wenn Lucine kommt.
Sirup steht da, mit offenem Mund, als wollte er etwas sagen. Aber es kommt nichts mehr.
Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und starre Sirup an. Er starrt zurück. Langsam wird er unsicher. Ich zeige mit dem Kopf in Richtung Haus.
Sirup knurrt und trottet davon.
Gewonnen.
„Was hat er denn?“, fragt Lucine verwundert. Ich zucke mit den Schultern und greife mir einen neuen Nagel. Ich will das Drahtgitter am Holzrahmen befestigen. Verflixt! Immer rutscht das Gitter über die Nägel und dann hängt es durch. Das kann doch nicht sein!
„Das wird wohl der Hasenstall, von dem mir Sirup erzählt hat?“, meint Lucine.
Sie geht in die Hocke. Noch immer hält sie Tikos Hand. Tiko steht ganz schief da. Sie weiß nicht, ob sie stehen, sich hinhocken oder Lucines Hand auslassen soll.
„Hovanes bastelt das schon drei Tage lang“, sagt sie und kauert sich doch neben Lucine, auf den heißen Kies, die Nase zwischen den Knien. Ich seufze zur Bestätigung.
„Ganz schön viel Arbeit, so ein Stall, hm?“, meint Lucine. „Kann ich die Hasen mal sehen?“
„Sie sind im Schuppen! Komm, ich zeig sie dir!“, ruft Tiko, verwandelt sich in einen Gummiball und springt davon.
Unsere Augen müssen sich erst an die dunkle Staubluft gewöhnen. Aber den Albino sehen wir gleich.
„Oh, sind die süß!“, haucht Lucine. „Und schon so groß!“
„Die werden noch größer“, prahlt Tiko. „Das sind nämlich Hasenriesen.“
Lucine starrt gebannt in die Kiste. Die drei Mümmelmänner hoppeln herum. Sie kümmern sich gar nicht um uns. Lucine liest einen Grashalm vom Boden auf und steckt ihn durch einen Spalt in die Kiste.
„Tststs“, lockt sie.
„Das ist langweilig“, mault Tiko. Sie schlurft hinaus.
Wir sind allein.
„Brauchst du vielleicht Hilfe?“, fragt Lucine.
Lucine hilft immer. Sie ist ein Engel, sagt Schwester Rosa. Ich nicke begeistert und strecke beide Daumen hoch. Das sieht dämlich aus. Aber Lucine schaut sowieso nur auf die Kaninchen.
Vier Hände schaffen viel mehr als zwei. Lucine ist so geschickt. Sie bohrt Löcher in den Holzrahmen und fädelt den Blumendraht abwechselnd durch das Holz und das Drahtgitter. Es dauert gar nicht lange. Ich schraube noch die vier Stelzen an, damit der Stall nicht direkt am Boden steht. Ratzfatz.
Fertig!
Nebeneinander hocken wir in der Sonne und bewundern unser Werk.
Lucine dreht ein Gänseblümchen zwischen ihren Fingern. Dann steckt sie es sich zwischen die Zehen.
„Wie willst du die Hasen da reinbringen?“, fragt sie nach einer Weile.
Meine Kinnlade klappt nach unten. Ich spüre einen Speichelfaden im Mundwinkel.
Da ist ein Fehler. Ich habe einen Fehler gemacht. Der ganze Stall ist falsch. Die Kaninchen können nicht rein. Der Stall ist auf allen Seiten zugenäht. Knallbumm zu!
Lucine ist ganz rot im Gesicht. Sie presst die Hand gegen den Mund. Sicher findet sie mich blöd.
Sie lacht und legt mir dabei eine Hand aufs Knie.
„Sei mir nicht böse“, prustet sie. „Aber sieh dir das einmal an! Das ist grenzgenial! Das gehört ins Museum!“ Sie lacht und lacht und lacht, bis ihr die Tränen kommen.
Ich lache mit. Ich kann gar nicht anders.
Ich habe einen Fehler gemacht.
Aber das macht nichts.
KAPITEL 4
Schweißgebadet wache ich auf und weiß im selben Augenblick: Es war nur ein Traum. Es ist immer nur der eine, selbe, hässliche Traum. Er kommt daher wie eine Erinnerung, verschwommen, in Braun-Grau. Bis Mama mir den Rücken zudreht und die Tür aufmacht. Ihr Mantel ist gelb. Ich sehe ihre schmalen Schultern und den eckigen Koffer und ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Das Geräusch ist so laut wie die Stille.
Ich möchte ihr hinterherlaufen. Mich ihr in den Weg stellen. Sie soll mich ansehen.
Wenn sie mich sieht, bleibt sie hier.
„Mama!“, möchte ich schreien. „Mama!“
Ich möchte ihr nachlaufen, aber ich habe kein Gefühl in den Beinen. Ich habe überhaupt kein Gefühl, außer dieses eine, das mir ins Genick drückt, diese Angst. Ich öffne den Mund und ich fühle, wie meine Stimmbänder aneinander reiben.
Es kommt kein Ton. Weil mein Leben ein Stummfilm ist.
Ich bleibe einfach sitzen, wo ich bin, und weine.

„Weißt du, welcher Tag heute ist?“, kräht Tiko.
Erschrocken fahre ich hoch. Der Radiowecker zeigt 6.15 Uhr.
Welcher Tag? Mir ist schnurzpiepegal, was für ein Tag heute ist! Die Lider kleben schwer auf meinen brennenden Augen. Ich falle zurück in mein Kissen. Tiko hüpft auf mein Bett. Sie stößt mir ihr Knie in die Rippen und setzt sich rittlings auf meine Beine.
Ich versuche, sie abzuschütteln.
„Aber du musst aufstehen!“, ruft Tiko störrisch. „Heute ist doch ein besonderer Tag für dich!“
Es wäre ein besonderer Tag für mich, wenn ich endlich einmal in Ruhe ausschlafen könnte.
„Komm schon, steh auf!“ Tikos Piepsstimme ist jetzt ganz nah an meinem linken Ohr. „Wir müssen uns fertig machen! Heute feiern wir doch, dass dein Vater gestorben ist!“
Gayas Kopf bewegt sich im Rhythmus der Scheibenwischer. Hin und her, hin und her, hin und her. Das ist ihr Lieblingsspiel. Wenn sie weiß, dass wir einen Ausflug mit dem Auto machen, betet sie schon am Vorabend um Regen. Die Zunge zwischen den Lippen, folgt sie den Scheibenwischern mit den Augen und wiegt sich in die Wischbewegung ein.
Der Heilige Petrus erhört Gayas Gebete fast immer. Der Regen peitscht gegen die beschlagenen Scheiben des Wagens. Draußen ist nichts zu sehen außer Massen von Wasser, die vom Himmel stürzen. Sirups Finger öffnen und schließen den Aschenbecher in der Beifahrertür. Klickklackklickidiklack. Tiko schaut angestrengt zwischen den Sitzen nach vorne.
Ein LKW überholt uns hupend. Als er sich mit einem Mördertempo vor uns wieder einreiht, schwappt eine Riesenwelle auf die Windschutzscheibe. Schwester Miki schaltet die Scheibenwischer auf die höchste Frequenz. Gaya versucht einen kurzen Moment mitzuhalten, dann gerät sie ins Schleudern. Sie greift sich mit beiden Händen an die Ohren und rollt mit den Augen. Ich muss lachen.
„Wasser“, brummt Gaya empört und dreht sich zum Fenster.
Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Ich glaube, ich sollte nicht lachen.
„Heute feiern wir, dass Hovanes’ Papa tot ist“, sagt Tiko zu Sirup, als hätte sie ihn gerade zufällig getroffen und müsste ihm die neuesten Neuigkeiten stecken.
„Hör auf, das zu sagen!“, fährt Gaya sie an.
„Warum denn?“, fragt Tiko beleidigt.
„Weil man so was nicht sagt“, brummt Gaya.
„Aber wir machen doch eine Feier?“, ruft Tiko nach vorne.
„Ja“, nickt Sirup.
„Weil Hovanes’ Papa gestorben ist, nicht?“
„Ja“, bestätigt Sirup.
„Also feiern wir, dass er tot ist!“, ruft Tiko triumphierend.
„Gaya, ruhig Blut!“, sagt Schwester Miki schnell, bevor Gaya mit den Fäusten auf Tiko losgehen kann.
„Wir veranstalten heute eine Gedenkfeier“, erklärt Schwester Miki und fixiert dabei abwechselnd Gaya und Tiko im Rückspiegel. „Weil sich heute der Tag jährt, an dem Hovanes’ Vater seiner Krankheit erlegen ist.“
Tiko streckt Gaya blitzschnell die Zunge heraus. Aber nicht schnell genug.
„Aber du darfst nicht sagen, dass wir ‚feiern‘, Tiko“, sagt Schwester Miki streng. „Denn feiern tut man nur, wenn man Grund zur Freude hat. Und freust du dich etwa, dass Hovanes’ Vater gestorben ist?“
„Nein“, haucht Tiko unglücklich. „Tut mir leid, Hovanes.“
Ich lege die Hand auf Tikos Schulter.
Mir tut es auch leid.
Mir tut es leid, dass jedes Jahr alle wegen mir zum Friedhof pendeln und eine Gedenkfeier abhalten müssen. Alle bis auf Eilis. Sie ist mit Schwester Rosa zu Hause geblieben. Eilis war nur ein Mal mit. Danach konnte sie nächtelang nicht schlafen. Es war wie ein Albtraum für Eilis, einer, aus dem man nicht mehr aufwachen kann.
Mein Vater hat sich vielleicht gefreut, dass jemand so lange an ihn gedacht hat. Wer hat denn sonst schon Zeit, in der Nacht an die Toten zu denken?
Die Fahrt zum Friedhof dauert nicht lange. Schwester Miki parkt das Auto und wir gehen gemeinsam zum Grab des Mannes, der mein Vater war. Fünf Regenmäntel in Rot, Grün und Gelb kämpfen sich durch die Wassermassen. Das Plastik bläht sich knisternd auf im Wind.
Wir wissen alle genau, wo es ist. Zweite Reihe rechts, ganz hinten in der Ecke.
Heute bin ich zum zwölften Mal hier. An das erste Mal habe ich keine Erinnerung. Ich war noch viel zu klein. Ich konnte noch nicht einmal alleine stehen.
Wer mich wohl gehalten hat, während sie ihn begraben haben? Ich glaube, als mein Vater gestorben ist, war Mama schon weg. Da hatte sie schon ein neues Leben. Ohne uns.
Ob ich geweint habe?
Jemand muss mich gehalten haben.
Ich kann mich nur an die Gedenktage mit den Schwestern erinnern. Dass mich Schwester Rosa an der Hand genommen und zum Grab meines Vaters geführt hat. Seither ist es jedes Jahr das Gleiche.
Wir stellen uns rund um das Grab auf. Schwester Miki macht das Kreuzzeichen. Wir machen es gehorsam nach.
Wir beten.
Schwester Miki beginnt mit dem Vaterunser. Ich versuche die Lippen zu bewegen, ohne Regen zu schlucken und lasse den Blick schweifen.
Gaya steht da, das Gesicht halb von der großen Kapuze verdeckt, die Augen geschlossen. Der Wind trägt ein leises Murmeln zu mir herüber. Tiko betet laut und voller Selbstvertrauen ihre eigene Version des Vaterunsers.
Sirup steht auf dem Stein des Nachbargrabes und versucht, auf einem Bein zu balancieren. Schwester Miki zupft ihn am Mantel. Sirup macht einen Satz, landet mit beiden Füßen am Boden und ruft laut: „Amen!“
Genau im richtigen Moment.
Glückselig die Armen im Geist.
Jetzt kommt mein Auftritt.
Ich nehme vorsichtig die Rose aus Schwester Mikis Hand und lege sie neben das ewige Licht auf das Grab.
Das sollte jetzt ein besonderer Moment sein.
Jetzt sollte ich irgendetwas spüren. Jetzt sollte ich mich mit meinem Vater verbunden fühlen. Spüren, dass er irgendwie da ist.
Aber ich spüre nichts.
Ich stehe wieder auf und stelle mich zurück zu den anderen.
Wer möchte, kann ein kleines Gebet sprechen.
„Ich bitte für Hovos Papa, dass er es gut hat im Himmel“, betet Tiko mit geschlossenen Augen. Irgendetwas verschließt mir die Ohren. Ich höre nur Rauschen.
Unterwassersender. Tauchstation.
Ich würde auch gerne eine Fürbitte sagen.
Aber ich kann nicht.
Vielleicht sollte ich weinen. Schwester Miki sagt immer, weinen hilft. Aber das geht nicht. Weil ich nicht will. Weil ich nicht wirklich traurig bin. Ich habe meinen Vater ja nicht einmal richtig gekannt.
Ich bin nur traurig, dass die anderen für meinen Vater beten.
Und ich glaube nicht einmal an den Himmel.
Es regnet immer stärker.
„Die Engel weinen“, sagt Tiko vergnügt.
Schwester Miki scheucht alle zurück in den Bus.
„Gebt mir die Mäntel heraus!“, ruft sie. „Sonst werden die Sitze ganz nass!“
Ich bleibe einfach stehen und lasse den Regen über meine Augenlider laufen. Sie fühlen sich schwer an. Vielleicht sind es all die Bilder, die darauf drücken. Bilder von meinem Vater, wie er mich auf dem Schoß hält oder in die Luft wirft. Die ganz nahe sind. Nur dass ich sie nicht einfangen kann.
„Es ist gut, Hovanes“, sagt Schwester Mikis Stimme plötzlich ganz nah an meinem Ohr.
„Lass es gut sein.“
In der Küche blubbert der Wasserkocher und Schwester Miki rauscht mit einer Wärmflasche an mir vorbei. Es ist die grüne mit dem Froschgesicht. Es zischt seltsam, als Schwester Miki das Wasser einfüllt. Noch während sie den Verschluss festschraubt, verschwindet sie wieder im Bubenzimmer. Knallt die Tür zu und lässt mich hier sitzen.
Ich presse die Zähne zusammen und schlucke. Mein Hals drückt. Blinzelnd schaue ich durch den Türspalt ins Mädchenzimmer. Tiko sitzt an Eilis’ Knie gelehnt und frisiert ihre Puppe.
„Wie spät ist es?“, fragt Tiko.
„Du bist eine kleine Nervensäge“, sagt Eilis. „Ich hab’s dir doch vor zwei Minuten gerade erst gesagt.“
„Wie spät ist es?“, wiederholt Tiko unbeirrt.
Eilis seufzt. „16.53 Uhr“, liest sie von ihrer Armbanduhr ab.
„Und wie spät ist das?“, fragt Tiko.
„Das ist eine Stunde vor dem Abendessen“, sagt Eilis. Sie dreht die Hand, sodass Tiko auf die Armbanduhr sehen kann.
Tiko starrt auf das Ziffernblatt.
„Und warum liegt Sirup dann noch im Bett?“
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