Kitabı oku: «Mårbacka», sayfa 3
Holmen Grå
Ums Essen brauchten sich die Reisenden keine Sorge zu machen; man ging nur auf den Markt und kaufte ein. Sie brauchten sich nicht darüber zu beunruhigen, ob die Kühe genügend fraßen und ob der Hafer wuchs, denn jetzt lebten sie zwischen kahlen Felsen und Wasser und hatten vergessen, daß es Äcker und Wiesen auf der Welt gab. Auch brauchten sie keine auswärtigen Besuche zu beherbergen und nicht in der Küche zu stehen und Festessen zu kochen, oder sich den Kopf zu zerbrechen, wo man die Gäste unterbrachte und ob die Bettstücke auch reichten. Wenn das Vieh krank wurde oder die Haushälterin sich mit dem Dienstmädchen zankte, so wußte die Familie Lagerlöf jetzt nichts davon. Man war frei und ungebunden und lebte nur der Gesundheit, dem Vergnügen, ohne alle Sorgen und Kümmernisse.
Noch nie hatten sie es so gut gehabt. Frau Lagerlöf, die etwas mager und angegriffen nach Strömstadt gekommen war, setzte an und bekam rote Wangen. Sie sah auf einmal zehn Jahre jünger aus und fühlte sich auch so. Mamsell Lovisa, die dick und langsam und so schüchtern war, daß sie in Gegenwart Fremder kaum den Mund öffnete, magerte sichtlich ab, taute auf und wurde umgänglich. Johann und Anna fanden viele Freunde unter den Strömstädter Kindern; Johann war ganz vernarrt ins Krabbenfischen, und Anna war glückselig über ihre Freundschaft mit zwei Mädchen, den Töchterchen des Zuckerbäckers, die ihr immer Bonbons anboten, so daß die Geschwister erklärten, nicht wieder heim zu wollen.
Was das kleine kranke Mädchen betraf, so konnte man freilich keinerlei Besserung an ihr bemerken, aber das bekümmerte die Kleine selbst nicht im geringsten, sondern sie war ebenso glücklich wie die andern. Sie hatte es jetzt so, wie sie sich's wünschte: Back-Kajsa und sie waren wieder unzertrennliche Freunde. Sie durfte ihr befehlen und wurde wieder ebenso verwöhnt wie in der ersten unvergeßlichen Zeit ihrer Krankheit.
Am allerbesten aber von allen ging es Leutnant Lagerlöf. Freilich bekam er in den ersten Wochen manchmal abweisende Blicke und kurze Antworten, wenn er mit dem ersten besten Menschen, dem er begegnete, ein Gespräch anknüpfte, nicht anders als ginge er auf den Wegen bei Mårbacka spazieren. Aber er ließ sich nicht abschrecken. Das wäre ihm gegen die Ehre gegangen, wenn er mit den Strömstädtern nicht gut Freund geworden wäre. Auf die Dauer konnten sie ihm auch nicht widerstehen; nach kurzer Zeit schon flog ein Lächeln über das Gesicht der strengen Weiber, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, denn er war bei ihnen in ihren Hütten gewesen, hatte sich nach ihren Männern erkundigt, hatte die Kinder gelobt und sich zum Kaffee einladen lassen. Eine ganze Schar kleiner Jungen zog auf der Straße hinter ihm her, weil sie entdeckt hatten, daß er stets die Tasche voll Kupfermünzen hatte. Auch mit den Fischern stand er auf höchst freundschaftlichem Fuße; einer nach dem andern lud ihn ein, auf den Makrelenfang mitzufahren. Alle alten ausgedienten Schiffskapitäne, die daheim bleiben mußten, sich aber immer noch hinaussehnten aufs Meer, luden ihn zum Grog auf ihre kleinen Veranden ein und berichteten ihm, wie sie sich früher unter Gefahren und Abenteuern in der Welt draußen getummelt hatten.
Leutnant Lagerlöf war eine menschenfreundliche Natur, und er wollte immer wissen, wie die Leute sich hier am Ende der Welt durchs Leben schlügen. Er scheute sich weder vor hoch noch niedrig, an Gesprächsstoff mangelte es ihm auch nie, und dabei sah er stets äußerst gutmütig und freundlich aus; so war es durchaus nicht verwunderlich, daß ihn die Bewohner von Strömstadt auch gern leiden mochten.
Aber niemand hätte auch von ihm sagen können, er sei sich seiner Macht nicht bewußt gewesen.
Die Mårbackaer hatten auf dieser Reise wirklich Glück. Unter anderem hatten sie gute alte Freunde aus Wermland getroffen, mit denen sie nun tagtäglich zusammen waren. Magister Tobiäson aus Filipstadt mit seiner Frau und zwei Schwestern, sowie ein unverheirateter Magister Lundström gehörten auch mit zu ihrem Kreise.
Mit diesen bildeten sie eine Bootsgesellschaft, und jeden Tag oder jeden zweiten Tag wurden weite Segelfahrten unternommen. Diese Ausflüge machten den Kindern ungeheuern Spaß. Dann pflegte Leutnant Lagerlöf alles zu berichten, was die Leute in Strömstadt Lustiges zu ihm gesagt hatten. Die einen hatten ihn angeschnauzt, andere aber hatten ihm gesagt, es sei recht schade, daß so ein Prachtkerl wie er kein Segelschiffer sei. Außerdem befanden sich stets ein paar große Henkelkörbe mit im Boot, und wenn die Gesellschaft des Segelns müde war, gingen sie irgendwo an Land und hielten auf einer Felseninsel ein Festmahl. Dann sammelten die Kinder eifrig Muscheln. Sie hatten noch nie welche gesehen und waren über die Maßen erstaunt, weil sie von diesen Schätzen einheimsen durften, soviel sie wollten. Sie machten ihnen ebensoviel Freude wie Wiesenblumen oder Beeren.
So waren sie wieder einmal draußen auf einer Segelfahrt. Wind und Wetter waren günstig, die Henkelkörbe standen im Boot, Leutnant Lagerlöf war voll geladen mit Geschichten, und alle freuten sich auf den herrlichen Nachmittag.
Unglücklicherweise bemerkte einer von der Gesellschaft, man sei ja noch nie an der kleinen Insel gelandet, die Strömstadt gerade gegenüberliege und den Namen »Holmen Grå« führte. Und sofort wurde beschlossen, diesmal auf der Rückfahrt an diesem Holm anzulegen und dort einen Imbiß einzunehmen.
Nun lebte aber vor mehreren hundert Jahren auf dieser Insel die berüchtigte Hexe Kitta Grå, die mächtiger war als der Teufel selbst, und solange sie lebte, durfte kein Mensch einen Fuß auf die Insel setzen. Wenn es jemand dennoch einmal wagte, traf ihn sofort ein Unglück; er brach den Arm oder das Bein oder glitt von den schlüpfrigen Klippen ins Meer hinab.
Jetzt aber, da Kitta Grå längst tot und verschollen war, konnte doch sicherlich ein Besuch auf Holmen Grå nicht mehr gefährlich sein. Der Bootsmann warnte allerdings vor einer Landung; denn im letzten Frühjahr war er mit ein paar andern Burschen quer durch die Insel gegangen, und gleich war einer in eine Schlucht gestürzt und hatte das Bein gebrochen.
Aber das ließ den Ausflüglern die Insel nur noch verlockender erscheinen. Sie sehnten sich geradezu danach, den Fuß auf Holmen Grå zu setzen.
Das Boot kreuzte zu der Insel hinüber, glitt unter den Felswänden hin, und der Bootsführer suchte nach einer geeigneten Landungsstelle.
In diesem Augenblick zupfte die kleine Anna Lagerlöf ihre Mutter am Arme.
»Mama«, sagte sie, »Selma weint.«
Ja, wirklich, das kranke Kind saß da und weinte! Sie hatte sich doch während der Fahrt gar nicht gefürchtet, erst jetzt war die Angst über sie gekommen. Sie hatte es sich wie die andern gar schön gedacht, auf Holmen Grå an Land zu gehen; aber ach, unter diesen Felswänden sah es gar so dunkel und unheimlich aus! Nur die Felswände schreckten sie, sonst fehlte ihr nichts.
Die andern fragten, warum sie weine, aber sie wollte nicht antworten. Sie konnte doch nicht sagen, daß sie sich vor einer Felswand fürchtete.
Die Antwort wurde ihr auch erspart; da der Schiffer soeben einen Landungsplatz gefunden hatte, gab es anderes zu denken.
In dem Augenblick, wo das Boot an Land stieß, stand Magister Lundström aus Filipstadt auf und sprang mit der Trosse an Land. Aber wie wenn ein unsichtbares Wesen am Ufer gestanden und ihm einen Stoß vor die Brust versetzt hätte, prallte er zurück und stürzte von der Felsenplatte, auf der er stand, rücklings ins Meer.
Das war ein Entsetzen, ein erschrecktes und ängstliches Rufen! Doch die Angst war nur kurz. Der Schiffer beugte sich mit der Schnelligkeit einer fischenden Möwe über den Bootsrand, erfaßte den Rockkragen und zog den langen Magister pudelnaß aber unversehrt aus dem Wasser heraus.
Alle waren natürlich aufs höchste erregt über den schrecklichen Anblick, einen Menschen so geradewegs in die tödliche Tiefe stürzen zu sehen, und obgleich nun die Gefahr vorüber war, konnte niemand die vorige Munterkeit wiederfinden.
Magister Lundström selber schlug vor, die ganze Gesellschaft solle nun an Land gehen und ihm das Boot überlassen, damit er nach Strömstadt zurückfahren und trockene Kleider anziehen könne. Es sei ja nicht weit, und das Boot könne auf Wunsch unverzüglich zurückfahren und die andern holen.
Aber darauf wollte niemand eingehen. Alle miteinander hatten genug von Holmen Grå. Niemand hatte Lust, auf die schlüpfrigen Felsplatten zu steigen oder an den drohenden Felswänden emporzuklettern.
So fuhr man denn nach Strömstadt zurück, und jedes überlegte im stillen, ob wohl etwas Wahres an den alten Geschichten sein könne. War es nicht sonderbar, daß der Unfall gerade hier geschehen mußte? Man war doch fast an allen den Inseln der Strömstädter Schären an Land gegangen, und stets war alles gut abgelaufen.
»Mir kam es gleich so unheimlich vor, als die Kleine zu weinen anfing«, sagte eines der Fräulein Tobiäson. »Da schwante mir sofort, daß uns etwas zustoßen würde«
»Ja, Herr Leutnant, was sagen Sie nun zu dieser Geschichte?« sagte das andere Fräulein Tobiäson, indem es sich an den Angeredeten wandte.
»Was ich dazu sage?« antwortete dieser. »Ich sage, es hätte nicht gut anders gehen können, wenn wir einen solchen Schulfuchs an Land schickten. Das war doch nicht der Mann für Kitta Grå.«
»Sie meinen also«, sagte Mamsell Tobiäson, »wenn ein anderer – wenn der Herr Leutnant selber an Land gesprungen wäre, so würde der Empfang besser ausgefallen sein?«
»Ja, zum Kuckuck, das mein' ich!« rief Leutnant Lagerlöf.
Lieber Gott, gab das ein Gelächter! Die düstere Stimmung im Boot war auf einmal verflogen. Sie malten sich das Zusammentreffen des Leutnants mit Kitta Grå aus.
Ja, ja, der Herr Leutnant wußte, daß er unwiderstehlich war.
Lieber Gott, wie herzlich sie jetzt alle lachten!
Der Paradiesvogel
Die Familie Lagerlöf bewohnte ein ganz kleines Häuschen am oberen Ende der Karlstraße und fühlte sich da äußerst behaglich. Leutnant Lagerlöf und die Kinder beschlossen sogar, das Häuschen Klein-Mårbacka zu nennen. Das war gewiß der höchste Ehrentitel, den ein Haus in einer fremden Stadt bekommen konnte.
Vor dem Häuschen war ein von einem Lattenzaun umgebener Baumgarten, in dessen Schatten man das Frühstück und das Abendessen einnahm, denn diese beiden Mahlzeiten wurden daheim zubereitet. Hinter dem Hause war noch ein kleines Stück Land, das mit Kartoffeln bepflanzt war. Und hinter diesem, dicht an der steilen Berglehne, stand ein Hüttchen, nicht viel größer als die Kajüte auf dem »Uddeholm«. In diesem Hüttchen wohnte die Hauswirtin, Frau Kapitän Bergström.
Die Familie Lagerlöf hatte erfahren, daß Frau Bergström im Winter das größere Haus selber bewohnte, es aber während des Sommers an Badegäste vermietete und solange in dem kleinen Hüttchen wohnte. Dort saß sie nun vom Morgen bis zum Abend zwischen großen blühenden Oleanderbäumen, und alle Tische und Wandbretter standen ganz voll der wunderbarsten Dinge aus fremden Ländern, die Kapitän Bergström mit heimgebracht hatte.
Wenn Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa bei ihren Freunden Kaffee tranken und Leutnant Lagerlöf draußen beim Makrelenfang war, Anna sich zu den Zuckerbäckertöchtern begeben hatte und Johann zu seinen Krabben, dann nahm Back-Kajsa ihr kleines Mädchen auf den Arm und wanderte hinauf in das Häuschen zu Frau Bergström.
Das kleine Mädchen fühlte sich bei Frau Bergström zwischen den Oleanderbäumen ganz so behaglich und geborgen wie daheim auf Mårbacka, wenn sie neben der Großmutter im Ecksofa saß. Frau Bergström konnte zwar keine Märchen erzählen, aber sie hatte viele merkwürdige Dinge, die sie ihr und Back-Kajsa zeigte: Große Muscheln, in denen es rauschte und sang, wenn man sie ans Ohr hielt, Porzellanmänner mit langen Zöpfen und langen Schnurrbärten, die aus China stammen sollten, und zwei riesige Schalen, von denen die eine eine ausgehöhlte Kokosnuß, die andere ein Straußenei war.
Back-Kajsa und Frau Bergström unterhielten sich meistens über ernsthafte und fromme Dinge, von denen das Kind nichts verstand; aber zuweilen führten sie doch auch einfachere Gespräche. Dann erzählte Frau Bergström von ihrem Mann und seinen Reisen. Die beiden Gäste erfuhren, daß der Kapitän ein großes, schönes Schiff besaß, das »Jakob« hieß, und daß er gerade jetzt unterwegs nach St. Ybes in Portugal war, um Salz zu holen.
Back-Kajsa fragte, ob Frau Bergström denn ihre Seelenruhe bewahren könne, wenn ihr Mann da draußen auf dem greulichen Meere herumfuhr? Aber Frau Bergström erwiderte, es lebe ja doch einer, der ihren Mann beschütze. Sie sorge sich, wenn er an Bord seines Schiffes sei, nicht mehr um ihn, als gehe er durch die Straßen von Strömstadt.
Gleich darauf wendete sich die gute Frau Bergström zu dem kleinen Mädchen und sagte, ihr Mann werde hoffentlich bald heimkommen, denn auf dem »Jakob« sei etwas, was die Kleine gewiß gern sehen möchte, nämlich ein Paradiesvogel.
Das beschäftigte natürlich das Kind gewaltig. »Was ist denn das, ein Paradiesvogel?« fragte es.
»Du hast doch deine Großmutter schon vom Paradies erzählen hören, Selma«, sagte Back-Kajsa.
Ja gewiß, jetzt erinnerte sich Selma wieder. Die Großmutter hatte ihr vom Paradies erzählt, und sie hatte gedacht, es müsse dort ungefähr so aussehen wie in dem Rosengarten an der westlichen Giebelseite von Mårbacka. Gleichzeitig wurde sie sich auch bewußt, daß ja das Paradies mit dem lieben Gott in Verbindung stand, und nun drängte sich ihr ein neuer Gedanke auf: Der Frau Bergströms Mann beschützte, so daß die gute Frau ganz unbesorgt sein konnte, ob er sich nun auf dem »Jakob« befand oder daheim in Strömstadt umherging, war gewiß niemand anders als der Paradiesvogel.
Diesen Vogel wollte Selma wirklich gern sehen. Vielleicht konnte er auch ihr helfen. Alle Leute bedauerten ihren Vater und ihre Mutter, weil sie ein krankes Kind hatten. Und diese teure Reise war auch nur ihretwegen unternommen worden.
Sie hätte so gerne Back-Kajsa oder Frau Bergström gefragt, ob sie meinten, der Paradiesvogel werde etwas für sie tun, aber sie hatte das Herz nicht dazu. Sie fürchtete, ausgelacht zu werden.
Aber sie vergaß das Gespräch nicht. Jeden Tag wünschte sie, der »Jakob« möchte ankommen, damit der Paradiesvogel an Land fliegen könne.
Und siehe, wenige Tage später hörte sie, nun sei der »Jakob« wirklich angekommen.
Das war eine große Freude für die Kleine; aber sie redete mit niemand darüber, denn für sie war das etwas sehr Feierliches. Sie dachte daran, wie ernsthaft Großmutter gewesen war, als sie von Adam und Eva erzählt hatte. Auch wollte sie Johann und Anna nichts von dem Vogel aus dem Paradiese sagen, der an Bord des »Jakob« war und den sie bitten wollte, sie zu heilen. Nein, nicht einmal Back-Kajsa!
Doch der Vogel ließ sich nirgends sehen, und das war höchst sonderbar. So oft Selma zu Frau Bergström kam, erwartete sie, ihn auf den Oleanderbäumen sitzen zu sehen, aber er war nie dort.
Sie fragte Back-Kajsa nach ihm, aber Back-Kajsa meinte, er sei eben noch auf dem »Jakob«.
»Aber du darfst ihn bald sehen«, sagte sie, »denn der Herr Leutnant sagte, wir würden morgen alle miteinander an Bord des ›Jakob‹ gehen.«
Back-Kajsa hatte wahr gesprochen. Kapitän Bergström war kaum einen Tag daheim, als er und Leutnant Lagerlöf auch schon die dicksten Freunde waren. Der Leutnant war schon mehrere Male draußen auf dem »Jakob« gewesen, und es gefiel ihm ausnehmend gut dort. Nun sollte aber auch die ganze Familie sehen, wie herrlich es dort war.
Als sie von Hause weggingen, hatte sich keines von ihnen richtig klar gemacht, was es heißen wolle, an Bord des »Jakob« zu gehen. Das kleine kranke Mädchen wenigstens glaubte, er werde genau so am Bollwerk liegen wie die großen Dampfer.
Aber das war nun nicht der Fall. Der »Jakob« lag weit draußen in See, und sie mußten sich in ein Boot setzen und zu ihm hinrudern lassen. Auch war es höchst sonderbar: je näher man dem Schiffe kam, desto höher wuchs der »Jakob« empor. Schon lag er da so still wie ein Berg, und es schien rein unmöglich, aus dem kleinen Ruderboot zu ihm hinaufzuklettern.
Tante Lovisa meinte gleich, wenn dieses hohe Schiff das Ziel ihrer Fahrt sei, dann könne sie ganz gewiß nicht mit an Bord kommen.
»Wart' nur, Lovischen«, sagte der Leutnant. »Du wirst sehen, es geht besser, als du glaubst.«
Aber Mamsell Lovisa erklärte, da könnte sie ebensogut versuchen, an der Flaggenstange auf Laholmen hinaufzuklettern. Und sie meinte, es wäre sicher am besten, man kehrte wieder um.
Frau Lagerlöf und Back-Kajsa gaben ihr recht und stimmten dafür, gleich wieder heimzufahren.
Aber Leutnant Lagerlöf war hartnäckig und gab nicht nach. Nein, nein, sie müßten an Bord kommen, es sei gänzlich ohne Gefahr. Vielleicht sei dies das einzige Mal, wo sie ein großes Handelsschiff zu sehen bekämen, und diese Gelegenheit dürften sie nicht versäumen.
»Ja, und wenn wir auch an Bord kommen, so kommen wir doch niemals wieder herunter«, sagte Tante Lovisa.
Während der Fahrt begegnete ihnen ein Boot, das mit Säcken beladen war.
»Siehst du das Boot?« sagte Leutnant Lagerlöf zu seiner Schwester. »Weißt du, was in den Säcken ist?«
»Nein, lieber Gustav, wie sollte ich das auch wissen?« erwiderte Mamsell Lagerlöf.
»Nun, das sind Salzsäcke vom ›Jakob‹, berichtete ihr Bruder. »Sie haben weder Arme noch Beine; aber wenn sie aus dem Schiff herunterkommen konnten, so wird es dir wohl auch gelingen.«
»Jawohl, trag du einmal eine Krinoline und lange Röcke, dann wird dir deine Keckheit schon vergehen«, versetzte Mamsell Lovisa.
So neckten sie sich während der ganzen Fahrt. Das kleine Mädchen, das so gern den Paradiesvogel sehen wollte, wünschte von ganzem Herzen, Tante Lovisa und die andern möchten sich doch entschließen, an Bord zu gehen; aber wie die andern hielt auch sie es für unmöglich.
Jedenfalls legte nun das Boot unter der schaukelnden Fallreeptreppe an, und ein paar Matrosen des »Jakob« sprangen ins Boot, um den Besuchern beim Hinaufsteigen behilflich zu sein. Die erste, die sie ergriffen, war die kleine Kranke. Einer der Matrosen reichte sie einem seiner Kameraden hinauf, der sie die Treppe, oder wie man das Ding heißen mochte, emportrug und sie auf dem Deck des »Jakob« niedersetzte. Dort verließ er sie, um den übrigen Gästen zu helfen, und sie blieb allein da stehen.
Sie war entsetzt, denn da war nur ein schmaler Rand des Decks, auf dem sie stehen konnte. Vor ihr öffnete sich ein großes, gähnendes Loch, und in der Tiefe lag etwas Schneeweißes, das in Säcke gefüllt wurde.
Lange Zeit stand sie allein da oben, im Boote unten mußte sich noch Widerstand gegen den Aufstieg erhoben haben. Niemand war zu sehen, und als sie sich ein wenig gefaßt hatte, fing sie natürlich an, nach dem Paradiesvogel auszuschauen.
Zuerst schaute sie hinauf ins Takelwerk. Sie hatte sich gedacht, er müsse mindestens so groß sein wie ein Truthahn, und so könne es nicht schwer sein, ihn zu finden.
Aber als kein Vogel zu erblicken war, wandte sie sich an Kapitän Bergströms Kajütenjungen, der in der Nähe stand, und fragte ihn, wo denn der Paradiesvogel sei.
»Komm mit, dann darfst du ihn sehen«, sagte der Junge. Er reichte ihr die Hand, damit sie nicht in den Laderaum hinabstürzte. Dann ging er rückwärts nach der Kajütentreppe, und sie folgte ihm.
Unten in der Kajüte war es riesig fein. Möbel und Wände ringsum waren aus glänzendem Mahagoni, und da war auch richtig der Paradiesvogel.
O dieser Vogel! Er war noch wunderbarer als Selma sich's hatte träumen lassen. Er lebte zwar nicht, stand aber doch in ganzer Größe und Pracht mit allen seinen Federn vor ihr.
Sie kletterte auf einen Stuhl und von diesem auf den Tisch. Und da setzte sie sich neben den Paradiesvogel und betrachtete seine Schönheit. Der Kajütenjunge stand daneben und zeigte ihr die langen, glänzenden, hängenden Federn. Dann bemerkte er:
»Siehst du, man könnte meinen, er käme aus dem Paradies. Er hat gar keine Füße.«
Das paßte sehr gut in die Vorstellung des Kindes vom Paradies, daß man dort nicht gehen müsse, sondern sich mit zwei Flügeln fortbewege, und sie betrachtete den Vogel in tiefer Andacht. Dann faltete sie die Hände, wie wenn sie ihr Abendgebet sprechen wollte. Alsdann überlegte sie, ob der Kajütenjunge wohl wisse, daß es der Vogel sei, der den Kapitän Bergström beschützte. Aber sie wagte nicht zu fragen.
Den ganzen Tag hätte sie voll übergroßer Bewunderung so sitzen können, aber jetzt wurde sie durch lautes Rufen auf Deck aufgescheucht. Es klang, als riefe man: »Selma, Selma!«
Gleich darauf kamen die andern eilig und eifrig in die Kajüte gelaufen, der Leutnant Lagerlöf, Back-Kajsa, Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa, Kapitän Bergström, Johann und Anna. Es waren ihrer so viele, daß die ganze Kajüte voll war.
›Wie bist du hierhergekommen?‹ fragten sie und sahen ganz bestürzt und verdutzt aus.
Und nun kam es auch ihr selbst zum Bewußtsein, daß sie über das Deck gegangen, die Treppe herunter gegangen, in die Kajüte gegangen war, und daß niemand sie getragen hatte.
›Komm herunter auf den Boden‹, sagten sie, ›damit wir sehen, ob du wirklich gehen kannst.‹
Sie kroch vom Tisch auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Boden, und als sie auf dem Boden angelangt war, konnte sie stehen und gehen.
Ach, was war das für ein Glück! Nun war der Zweck der Reise erreicht, das kostspielige Unternehmen war nicht vergeblich gewesen! Das Kind würde kein hilfloser, unglücklicher Krüppel bleiben, sondern ein richtiger Mensch werden.
Da standen nun die Großen mit Tränen in den Augen um die Kleine herum und sagten, das herrliche Bad in Strömstadt habe die Heilung bewirkt. Sie priesen die Luft und das Meer und die ganze Stadt und waren glücklich, hierhergekommen zu sein.
Das kleine Mädchen aber hatte seine eigenen Gedanken. Sie fragte sich, ob es wirklich der Paradiesvogel sei, der ihr geholfen habe. War es das kleine Wunder mit den wehenden Schwingen, das aus dem Lande gekommen war, in dem man keiner Füße bedurfte, das sie gelehrt hatte, auf dieser Erde zu gehen, wo Füße doch etwas so sehr Notwendiges waren?