Kitabı oku: «New Hope City», sayfa 2
»Man kann sein Hirn auch Stück für Stück durch TransTech austauschen. Dann ist es ein fließender Übergang, bis am Ende die Persönlichkeit vollkommen in die Technik übergegangen ist. Das hat doch vor kurzem auch dieser eine brasilianische Geschäftsmann gemacht. Dieser Philanthrop mit dem letzten Stück Regenwald, glaube ich. Mit fällt sein Name gerade nicht ein …«
Pete war die Person mit dem umfangreichsten Halbwissen, die Steiner je kennengelernt hatte. Die Gender-Fluide war wie ein Schwamm, der alles in sich aufsog, was man ihm erzählte. Den restlichen Abend sagte Steiner nichts mehr. Für eine tiefergehende Diskussion fehlten ihm schlicht Kraft und Wille. Irgendwann fand Pete an der Stelle, an der der Kommissar gesessen hatte, das Geld für die Drinks. Er zahlte nie per App, ziemlich altertümlich, aber im Ming machten das viele so. Nachdem ein Virus vor Jahrzehnten das internationale Finanzsystem gecracht hatte, hatte das gute alte Papiergeld eine wahre Renaissance erlebt, die bis heute anhielt.
Das Trinkgeld war zwar nicht gerade üppig, aber in Ordnung. Auch wenn sie damit ihrem neuen Stimmmodulator nicht viel näher kam, half es Pete dabei, über die Runden zu kommen. Dass sie Steiner nirgendwo mehr entdecken konnte, sprach dafür, dass Madame Ming zurückgekehrt war.
*
Aggression. Die unbändige Lust, die Visagen vorbeilaufender Passanten einzuschlagen, tobte ihn ihm. Das Dröhnen von Presslufthammern, das den Sound des Songs Iss dein Selbst der Band Plattenbaubeben bestimmte, wummerte in seinem Kopf. Er spielte den Song direkt in seinem Gehirn, sodass nur er ihn hörte.
Seitdem ihn seine Anwälte aus der Polizeiwache geholt hatten, brodelte es in ihm, seine Wut war kaum zu zügeln. Mühsam hielt er sich zurück, um nicht wahllos Löcher in Wände zu schlagen und laut loszubrüllen. Wer hätte auch gedacht, dass ihm so ein Ding zuvorkommen würde? Er hatte dieser aufgedonnerten Person mit ihren hochgesteckten, schreiend grünen Haaren schon die Hände um den Hals gelegt gehabt. Der Druck seiner Hände auf ihre Kehle hatte jeden Hilfeschrei erstickt. Sogar diese seltsame Zärtlichkeit für sein Opfer hatte Rivera bereits durchzuckt, die ihn immer elektrisierte, wenn er die Anstrengungen seiner Beute betrachtete, sich an ihr Leben zu klammern.
Doch dann war plötzlich dieses Ding gewesen, dieser Tentakel. Er war unerwartet hinter seinem Opfer hochgeschossen und hatte sich dessen Kopf geschnappt. Einfach so aus dem nichts! Zuerst hatte Rivera überhaupt nicht geschnallt, was da geschah. Erst als sich die Augen seines Ofers nach oben gedreht hatten, hatte er erschrocken den noch zuckenden Körper von sich gestoßen und aus sicherem Abstand beobachtet, was diese technische Abnormität mit seiner Beute anstellte.
Nachdem der erste Schreck von ihm gewichen war, hatte ihn jedoch beim Anblick dieser Kreatur eine gewisse Faszination überkommen. Diese erbarmungslose und unaufhaltsame Art des Tentakels hatte ihn schlicht verzückt. Nach weniger als einer Minute war das Ding schon wieder im Abfluss verschwunden, aus dem es gekommen war. Als ob es Rivera gar nicht bemerkt hätte.
Nur warum hatte er die Polizei gerufen? Es hatte absolut keine Notwendigkeit dazu bestanden. Alle Kameras, die ihn beim Betreten der Toilette gefilmt hatten, hatte er manipuliert, sogar die der kleinen Flugdrohne, die über dem Erasmus kreiste. Niemand hätte ihn mit diesem Mord in Verbindung gebracht, er hätte einfach nur den Ort verlassen müssen, als ob nichts gewesen wäre. Stattdessen war er nun der Hauptverdächtige! Und hätte er sich nicht einmal selbst zurücknehmen können, zumindest dem Kommissar gegenüber, der ihn verhört hatte? Einfach etwas freundlicher sein oder gar verängstigt wirken?
Rivera verfluchte seine Dummheit und Überheblichkeit, wegen der er nun den gesamten Tag damit verbracht hatte, Abstand zwischen sich und dem Ereignis am Erasmus zu bringen. Zuerst hatte er, der er normalerweise für die Augen der Kameras, den Augen der Stadt, unsichtbar war, seinen Weg zu seiner Alibi-Wohnwabe in der Undercity aufzeichnen lassen. Zumindest soweit sein Nachhauseweg das Blickfeld von Argus durchkreuzte. Die Polizisten würden ihn bestimmt überwachen. Weitere Unstimmigkeiten zu seiner Person brauchten ihnen nicht aufzufallen.
War es vielleicht der Schreck gewesen, dass dieses Ding auch ihn hätte erwischen können? Oder war es noch viel primitiver, und er konnte einfach nur keinen anderen Killer neben sich dulden? Wie dem auch war, nachdem er seine Wabe erreicht hatte, hatte Rivera sie den restlichen Tag über nicht mehr verlassen. Obwohl er die Hologramm-Umgebung seiner Wohnwabe in einen nächtlichen Dschungel verwandelt hatte, war es ihm unmöglich gewesen, sein Körpersystem in einen schlafähnlichen Zustand zu versetzen.
Normalerweise hätten ihn die Geräusche des Urwalds beruhigt, aber der unerfüllte Drang zu töten ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Eingesperrt in seiner Wabe, diesem winzigen Ort zugestandener Privatheit, hatte er nach langem hin und her schließlich die Freiheit des Netzes gesucht. Uninspiriert hatte er öffentliche und private Shareplattformen auf der Suche nach Interessantem durchforscht, aber die üblichen Verdächtigen boten auch nur die üblichen Inhalte. Aus purer Not loggte er sich in das Pornoportal Happy Together ein, doch von den empfohlenen Videos überzeugten ihn weder Tim&Collegegirls#Springbreak noch RoboboylovesSusanC oder 3BlackDicks1whiteslut und so landete er bei einem Lesbenporno.
Uninteressiert hatte er jedoch mehr seinen Fischen im Aquarium zugesehen als den beiden Japanerinnen, die sich schreiend die Kimonos vom Leib rissen. Der Porno hatte sich dann auch zunehmend absurder entwickelt. Spätestens beim schlecht animierten Tentakelmonster war sein Interesse an dem Film endgültig erschöpft gewesen. Per Zufall fand er eine Dokumentationsreihe über Künstler der Renaissance und des Frühbarocks, die ihn zum Glück über den restlichen Tag brachte. Rivera wählte zuerst die Folge mit Caravaggio und beendete seinen Dokumentationsmarathon mit Leonardo da Vinci.
Aggression. Das Wummern von Plattenbaubeben im Kopf zusammen mit dem Kreischen der Kinder, die von ihrem Vater Kronos gefressen wurden. Er war wieder auf der Straße, in den vom dämmrigen Licht beschienenen kalten Betonröhren, die zu den Bezirken New Hopes führten, die nie offiziell in Betrieb genommen worden waren. Dort, wo die lebten, die nichts hatten und nirgendwo sonst hinkonnten. Illegale Einwanderer, Obdachlose, Leute auf der Flucht vor der Staatsgewalt ... All diesen Menschen bot der Bezirk World’s End mit seinen Betonruinen und provisorischen Kunststoffbauten ein schmutziges und menschenunwürdiges Zuhause.
Für Rivera jedoch viel wichtiger: Hier vermisste man niemanden, hier gab es genügend Beute. Hier waren Argus’ Augen blind.
Es fehlte zwar der prickelnde Reiz des Erwischtwerdens, so wie am Erasmus mit seinen Menschenmassen und der Polizeipräsenz. Aber den Kitzel konnte sich Rivera in nächster Zeit nicht leisten. Er trug daher auch nicht seinen weißen Anzug, so wie sonst üblich, sondern begnügte sich mit unauffälliger straßentauglicher Kleidung. Er verspürte brennende Wut, wenn er daran dachte, sich in den nächsten Monaten in seiner gewohnten Art des Jagens einzuschränken: belebte Gebiete zu meiden, absolut mittelmäßige Alltagskleidung zu tragen, und sich ausschließlich vom Abschaum der Gesellschaft zu nähren. Rivera fluchte innerlich auf äußerst obszöne Weise. Doch das Töten war ihm im Zweifelsfall wichtiger als das Wie.
In den dunklen Bauruinen unfertiger Blocks war es für ihn am einfachsten, sich unbemerkt mit seiner Beute zu vergnügen. Das war es, was Rivera jetzt brauchte; maximale Brutalität, möglichst lange auskostbar.
Ein Umgebungsscann zeigte ihm sämtliche technische Anwendungen in der Umgebung, darunter mehrere Smartpods, zwei Ghosts, aber keine Überwachungssysteme. Er wählte einen der abgeschiedenen Smartpods aus.
Mit beschleunigten Schritten steuerte Rivera das Ziel seiner Wahl an. Hier gab es keine Beleuchtung, aber das konnte ihm mit seinen Augen egal sein, die selbstverständlich über Nachtsicht verfügten.
Einer der beiden Ghosts, die er aufgespürt hatte, kam ihm wankend entgegen. Niemand wusste, woher diese roboterhaften Kreaturen kamen. Man munkelte, dass es sich bei ihnen um Menschen aus der Ära der ersten TransTech-Revolution handelte, die den Durchbruch technischer Implantate bedeutet hatte. In deren Folge waren die ersten Cyborgs entstanden. Doch manche dieser Technikbegeisterten hätten ihren Körper nach und nach vollkommen durch das damals verfügbare TransTech ausgetauscht, so hieß es. Zurückgeblieben seien diese stumpfen und auf wenig mehr als auf ihre grundlegenden Überlebensinstinkte reduzierten Kreaturen geblieben. Urban Myths. Andere behaupteten recht unspektakulär, dass es sich bei den Ghosts lediglich um die Resultate von Hobbybastlern oder um freigelassene Prototypen aus Forschungseinrichtungen handelte.
Wie dem auch war, da sie niemandem etwas taten und sich in weitgehend unbewohnte Gegenden und Schrottplätze zurückzogen, wurde von amtlicher Seite nichts gegen sie unternommen. In den Fokus der Öffentlichkeit gerieten sie hauptsächlich durch PR-wirksame Aktionen von Pro-Ghost-Aktivisten, die auf die gelegentliche Zerstörung von Ghosts durch Rowdys aufmerksam machten.
Rivera war stehengeblieben und betrachtete die Metallkonstruktion, während sie an ihm vorbeischlurfte. Sie war einem gebückten menschlichen Skelett nicht unähnlich, dem mehrerer Metallstangen aus dem Rücken ragten. Gewissermaßen war dieser Ghost genauso künstlich wie er selbst. Nur dass er, Rivera, ein Bewusstsein hatte, das diesen Namen auch verdiente. Einmal hatte er sich in einen Ghost gehackt und sich selbst mit den Augen eines solchen Wesens betrachtet. Die Erinnerung daran, in ein anderes Bewusstsein einzudringen, wie einfach gestrickt es auch war, war sehr … befremdlich gewesen.
Ben Rivera war einer der wenigen Menschen, die überhaupt dazu in der Lage waren, eine solche Erfahrung zu machen. Denn entgegen den Prophezeiungen der Vergangenheit war die breite Masse nie in den Genuss gekommen, sich mit dem eigenen Geist in das Internet einzuloggen. Es sei denn, man gehörte zu dem erlesenen Kreis von Zeitgenossen der Netwalker, die illegal mit dem Risiko des Cyberspace spielten.
Schweigend ließ Rivera den schwankenden Haufen Technik an sich vorübergehen. Dann wandte er sich wieder dem ursprünglichen Grund zu, weswegen er überhaupt erst in diese deprimierende Gegend aus Ruinen und zusammengezimmerten Slumwohnungen gekommen war. Das Signal eines einsamen Smartpods zeigte ihm nach wie vor die Position seiner Beute an. Rivera verspürte schon die innere Befriedigung, die ihm die Vorstellung seines baldigen Zerstörungswerks verschaffte. Seine Beute befand sich in der Eingangshalle des gegenüberliegenden Wabenblockes. Der Killer hätte auf die Daten des Smartpods zugreifen und somit etwas über sein Opfer herausfinden können, doch er bevorzugte die Überraschung. In freudiger Erwartung neigte er seinen Kopf zur Seite und ließ sein Genick knacken. Es konnte losgehen. Endlich.
Die Luft in der Halle war dumpf und abgestanden. Graffitis an den Wänden zeugten von der überschaubaren Kreativität selbsternannter Straßenkünstler, während haufenweise Müll auf dem Boden der Beweis dafür war, dass hier in der Vergangenheit schon mehrere Menschen gehaust hatten. Rivera kam sich beinahe wie ein Archäologe vor, der als erster Mensch seit Jahrtausenden eine Höhle der Steinzeit betrat. Mit dem Unterschied, dass er den letzten Höhlenmenschen töten würde. Das mochte archäologisch zwar höchst unsensibel sein, aber letztendlich war es auch nur ein netter Vergleich gewesen, der ihm gerade in den Sinn gekommen war.
Wo war er denn nun, sein Neandertaler? Er musste sich wegbewegt haben. Ein weiterer Scann verriet Rivera, dass sich der Träger des Smartpods im Stockwerk über ihm befand. Entkommen konnte er ihm nicht mehr. Vor lauter Vorfreude fiel sämtlicher Stress von ihm ab und er hüpfte begeistert wie ein kleiner Junge die Treppe hinauf.
Da war es auch schon, sein Opfer. Es lehnte zusammengekauert an einen Betonpfeiler, die Arme verschränkt, den Kopf in der Kapuze seines Pullovers versteckt. Wahrscheinlich hatte es sich gerade erst zum Schlafen gelegt. Gemächlich schritt der Tod darauf zu, jetzt brauchte er keine Eile mehr an den Tag zu legen. Doch dann blickten ihn zwei müde Augen durch die Dunkelheit an, und eine junge, brüchige Männerstimme fragte ihn unvermittelt:
»Kennst du Kafka? Franz Kafka? Hast du schon einmal etwas von ihm gelesen?«
Rivera stutze einen Augenblick, doch dann fand er die Idee ganz reizvoll, mit seiner Beute noch ein wenig zu plaudern. Er blieb vor dem jungen Mann stehen.
»Es ist absolut grässlich, Kafka zu lesen«, fuhr die müde Stimme seines Opfers fort »Es ist als ob man sich in einem Albtraum befindet oder in einem Fiebertraum. Man schläft dabei jedoch nicht wirklich, sondern befindet sich in einem seltsamen Zustand des Halbwachseins. Es ist ein Zustand, der durchsetzt ist von Momenten der Klarheit, die immer wieder auftauchen und einem Hoffnung geben, diesen Zustand des Halluzinierens, diesen Zustand der Fiebrigkeit zu entkommen. Aber diese Hoffnung ist eine Täuschung, denn aus diesem Traum gibt es kein Entrinnen. Nein, die gibt es nicht. Man glaubt zwar, dass man kurz davor steht, jetzt endlich aus dem Gefängnis auszubrechen, endlich den Gordischen Knoten zu zerschlagen, man denkt, man ist ganz kurz davor, doch dann zieht es einen wieder rein und man ist von Neuem im Albtraum gefangen. Und so geht es ständig weiter. Das ist Kafka, da gibt es keine Gnade.
Mit Drogen, da ist es genauso. Nie entkommt man vollkommen einer Realität, stets bleibt man in einer Wirklichkeit gefangen, die so grundlegend ist, dass man sie nicht überwinden kann. Realität, das ist wie Kafka«, meinte er ermattet und fügte nach einer kurzen Pause hinzu »Willst du mich töten?«
Konsterniert starrte Rivera seine Beute an.
»Bitte töte mich, dafür bist du doch gekommen, oder? Du siehst nämlich so aus, als ob du mich töten wolltest«, dann lachte der junge Mann. »Das wäre nämlich ganz gut so, denn Catherine und Jaques haben mich rausgeschmissen. Nun habe ich keinen Platz mehr in dieser Welt. Außer diesen Betonplatten hier vielleicht. Man hat mich auch aus meiner alten Wohnung vertrieben und ich bin selbst schuld daran. Alles habe ich mir kaputtgemacht, hahaha … Nein, ganz so schlimm ist es nicht, wahrscheinlich verschwindet mein Weltschmerz wieder. Aber wenn du mich nicht tötest, dann werden es die Drogen tun. Ich bin übrigens Rien.«
Rivera blickte auf eine zum Gruß ausgestreckte Hand. Er konnte sich weder dazu entschließen, diese Hand zu ergreifen, noch dazu, die jämmerliche Gestalt zu seinen Füßen zu zertreten. Jegliches Verlangen, jede Vorfreude war aus ihm gewichen. Er fühlte sich schrecklich impotent. Heute war einfach nicht sein Tag. Wortlos drehte er sich um und ließ den Junkie hinter sich. Er ging gerade die Treppe hinunter, da hörte er Rien noch einmal rufen:
»He, du! Wenn du mich schon nicht tötest, kann ich dann wenigstens bei dir pennen? Es ist echt kalt hier draußen.«
Um darauf zu antworten, fühlte sich Rivera schon zu besiegt. So besiegt, dass er nichts dagegen unternahm, als ihm der junge Mann nach Hause folgte. Und während zur selben Zeit Kommissar Steiner erschöpft neben Madame Ming eingeschlafen war, die an einem Martini nippte und ihm dabei zart über den Kopf streichelte, hatte Rivera das erste Mal Sex mit einem Mann. Vier einsame Seelen, die ihren Weg in der Metropole des Architekten Ernst Stern suchten, in New Hope, dem Versuch einer Antwort auf die verlorenen Hoffnungen der Menschheit. Sie ahnten nichts von den dunklen Geheimnissen, die im finsteren Herzen dieser Stadt auf sie alle warten sollten.
Teil I: Totentanz
Interludium 1: Das Fenster zu einer anderen Welt
Als Audrey nach oben schaute, erblickte sie weit über sich das gläserne Dach eines riesigen Gewächshauses. Eine Dachluke war geöffnet und das Licht der Sonne fiel auf ihr Gesicht. Die Strahlen strichen verspielt über ihre ungläubigen Züge.
Was für ein irres Gefühl, Audrey hatte noch nie die Sonne auf ihrer Haut gespürt. Wie auch, ihr gesamtes Leben spielte sich im Bottom ab. Wenn Harald sie nur sehen könnte! Die junge Frau war sich sicher – hätte sie jetzt jemand gesehen, so würde sich dieser Jemand ganz gewiss fragen, wie man nur so bescheuert über das ganze Gesicht grinsen konnte. Es fühlte sich alles so verdammt echt an. Und dieses geschwungene Dach weit über ihr, das von einem Gerüst stählerner Arabesken getragen wurde, als sei es zu Zeiten der legendären Queen Victoria erbaut worden, das war ja voll der Hammer! In das 19. Jahrhundert hatte Audrey sich schon gewünscht, als sie in ihrer Jugend die Welt des Steampunks für sich entdeckt hatte. Eine fiktive Welt, in der die Dynamik von Dampfmaschinen und Erfindergeist auf den vormodernen Kosmos von Adel und Tradition prallte.
Sie befand sich wahrscheinlich in einem botanischen Garten oder einem Tropenhaus, vermutete Audrey. Das würde den Dschungel voll exotischer Pflanzen erklären, in dessen Mitte sie noch immer regungslos stand.
Den Wald umspielte eine Aura des Geheimnisvollen. Das ging weit über die Pflanzen hinaus, deren Aussehen so fremdartig war, dass Audrey nicht einmal im Netz etwas Vergleichbares entdeckt hätte, hätte sie danach gesucht. Der Dschungel wirkte auf sie, als wäre er den Bildern des französischen Malers Henry Rousseau entsprungen.
In den Ästen über ihr zeigten Paradiesvögel und Papageien ihre farbenfrohe Gefiederpracht. Die junge Frau erhaschte durch das Geäst den einen oder anderen Blick auf die Vögel, aber die gefiederten Tiere gaben keinen Laut von sich. Die Stille war seltsam, geradezu unheimlich. Bis auf das unheilvolle Insektenzirpen, dieses Sirren, das die Luft zum Vibrieren brachte, war es absolut ruhig. Kein Vogelgesang erreichte ihre Ohren, nicht einmal die Blätter der Bäume oder Farne raschelten.
Harald hatte ihr ja gesagt, dass es am Anfang etwas beängstigend wirken könnte. Das beruhigte ihre aufkommende Furcht. Es fühlte sich einfach alles so unglaublich real an. Sogar die drückende Luftfeuchtigkeit spürte sie. Probehalber fasste Audrey ein Blatt an, das zu einer Pflanze gehörte, deren gezackte rote Blüte bis zu ihrer Hüfte reichte. Es war erschreckend, wie wirklich sich die raue Oberfläche des Gewächses anfühlte. Sie zerrieb es zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Ein ätherischer Duft stieg ihr in die Nase. Hätte man die junge Frau gefragt, sie hätte nicht sagen können, dass dies hier nicht die Wirklichkeit war. Sie spürte zu gleichen Teilen Faszination und Unbehagen in sich aufsteigen, doch die Faszination überwog eindeutig.
Okay, sie befand sich in einem Dschungel inmitten eines endlosen, kunstvollen Tropenhaues des viktorianischen Zeitalters. Was nun? Noch ehe Audrey einen Entschluss gefasst hatte, tauchte vor ihr ein Pfad auf, der sich durch den Urwald schlängelte. Sein Boden bestand aus einem Mosaik glänzender bunter Steine, die sanft das Licht der Sonne reflektierten.
›Das ist doch mal’n Zeichen!‹, dachte sich Audrey. Beim Betreten des Weges spürte sie die erfrischende Kühle der bunten Steine an ihren Füßen. Da erst fiel ihr auf, dass sie keine Schuhe trug. Mit dem Enthusiasmus eines kolonialen Tropenforschers machte sich Audrey auf Entdecktertour. Schnell verlor sie jegliches Zeitgefühl. Der Pfad führte sie an scheinbar unzähligen Orten vorbei, jeder schöner und majestätischer als der davor. Es waren Traumlandschaften, die in ihre Wirklichkeit einbrachen.
Trotz allem lauerte das Gefühl im Hintergrund, dass etwas falsch war, dass hier irgendetwas ganz furchtbar nicht stimmte. Wie ein ständiger, unsichtbarer Begleiter verfolgte es Audrey.
›Warum kann ich das jetzt nicht genießen?‹, ärgerte sie sich ›Wann erlebe ich sowas denn jemals wieder? Es ist so verdammt schwierig, an das Zeug heranzukommen …
Durchatmen, Audrey, durchatmen. Dir kann absolut nix passieren. Harald passt ja auf. Die Paranoia kannste dir sparen.‹
Aber die Ahnung, dass etwas sie verfolgte und sie heimlich beobachtete, verschwand nicht. Im Gegenteil, sie wurde stärker, je länger sie dem Mosaikpfad folgte. Wurden die Pflanzen tatsächlich immer bedrohlicher, oder bildete sie sich das ein? Verstohlen warf Audrey einen Blick über ihre Schulter, aber da war nichts. Erleichtert wandte sie sich ihrem eingeschlagenen Weg wieder zu. Ihr Atem stockte: Der Pfad hatte sich verändert! Gerade hatte er noch geradeaus geführt, nun bog er aber nach links ab.
›Das ist alles nicht echt‹, versuchte ihre rationale Hälfte sie zu überzeugen. Aber ihre emotionale Seite wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Zwangsjacke, in die sie ihre verantwortungsvolle Schwester wohlmeinend stecken wollte. Statt sich zu beruhigen, fühlte Audrey plötzlich einen Schmerz in ihrem Nacken, als ob sich etwas Glitschiges gewaltsam in sie hineinbohrte und sich von dort unter ihrer Haut durch den Körper schlängelte. Entsetzt griff sie sich mit ihren Händen an den Hals. Aber da war nichts.
Verunsichert rannte sie los.
›Wenn ich dem Weg folge, dann bringt er mich aus diesem Gewächshaus! Irgendwohin muss er führen. Dann bin ich endlich draußen!‹ Zumindest hoffte sie das inständig.
Audrey fing an, Harald zu hassen. ›Manchmal ist es ein bisschen gruselig!‹, äffte sie ihn panisch in Gedanken nach. Aber das hier war nicht ein bisschen gruselig, sondern beschissen furchteinflößend. Warum hatte der Arsch sie nicht vor dieser Scheiße gewarnt?
Äste schlugen ihr ins Gesicht, als sie sich entsetzt ihren Weg durch den zunehmend zugewachsenen Pfad bahnte. Die Pflanzen wurden immer größer und bedrohlicher, ihre Formen verwandelten sich in geradezu grotesk aussehende Monstrositäten, die von einem anderen Planeten aus einer fremden Dimension zu stammen schienen. Wo war sie hier nur gelandet? Die finstere Hand des Dschungels griff nach ihr. Audrey schrie laut auf.
Stille.
Die Angst war verschwunden. Erleichtert blickte sich die junge Frau um. Was auch immer sie noch vor einem Moment verfolgt hatte, es war verschwunden. Sogar die Flora leuchtete wieder hell und freundlich. Verschwunden waren die bizarren Formen der Organismen, die sie soeben noch gierig betrachtet hatten.
Ein gelöstes Lachen drang aus Audreys Kehle. Entschieden schob sie ein menschengroßes Farn beiseite, das ihren Weg versperrte.
Zu Audreys Verwunderung betrat sie einen Raum. Zumindest kam ihr der Ort wie ein Raum vor, denn bei genauer Betrachtung war dies kein Zimmer im herkömmlichen Sinn. Weder gab es Wände, noch war eine Decke vorhanden. Denn anstelle von Stein und Mörtel wurde der bunte Boden vor ihr von Büschen und Bäumen eingerahmt, und wo das Dach sein sollte, begrenzte der viktorianische Glashimmel diesen Ort nach oben. Dennoch wirkte der Platz auf Audrey wie ein Zimmer.
In der Mitte des Raums saß ein Mann auf einem Teppich, seine Beine im Schneidersitz verschlungen. Er rauchte aus einer kunstvoll geschwungenen Wasserpfeife. Seinen Kopf bedeckte ein Turban und ein weit ausladendes Gewand verhüllte seinen Körper. Hochgezogene Wangenknochen formten seine markanten dunkelhäutigen Gesichtszüge, die von einem sauber und kurz geschnittenen Backenbart eingerahmt wurden. Es war wie in 1001 Nacht. Sein stechender Blick musterte Audrey prüfend, ehe er zu ihr sprach:
»Mein Name ist Omar.« Er machte eine Kunstpause »Ich weiß, wer du bist. Du hast Fragen, mehr aus Neugier als aus echtem Interesse. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich kann es nicht. Du bist nicht bereit für die Wahrheit. Nur wer bereit ist, die Hoffnung auf Glück und Zufriedenheit aufzugeben, kann die Wahrheit auch finden. Denn die Wahrheit nimmt keine Rücksicht auf den, der sie sucht. Sie ist auch dann wahr, wenn sie dem Suchenden nicht gefällt. Das ist etwas, das du nie begreifen wirst.«
Audrey wollte erwidern, dass er sich dieses herablassende Gelaber sparen könne, sie sei schließlich kein Kind mehr. Doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Trotz allem hattest du Glück: Du hast mich gefunden und darfst wieder gehen. Das können nicht alle von sich behaupten, die mich besucht haben.«
Omar nahm einen tiefen Zug aus der Wasserpfeife. Dann atmete er eine Rauchwolke aus, die Audrey vollständig einnebelte. Das letzte, was sie von ihm sah, war ein bösartiges Lächeln, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Sie riss ihre Augen weit auf. Audrey wollte schreien, aber ihr Mund war zu ausgetrocknet, sodass nur ein krächzendes Husten herauskam.
»Na, wie war’s?«, meinte Harald abgelenkt. Er sah sich nicht nach ihr um, das Game fesselte ihn zu sehr. Eine überlebensgroße Kettensäge schredderte sich durch eine verschrumpelte Gestalt, die wohl einst menschlich war. Davon war aber nicht mehr viel zu erkennen, denn anstelle von Armen und Beinen besaß sie furchterregende Klauen. Aus dem verwesenden Mund des Zombies triefte grüner Geifer, der normalerweise die verbliebenen Kleidungsfetzen durchtränkt hätte, nun aber zusammen mit dem soeben abgetrennten Kopf durch die Luft wirbelte. Blut und Geifer spritzen über den gesamten Holobildschirm, den Harald auf die Größe der Wand der Wohnwabe maximiert hatte.
Er musste schon eine ganze Weile Merowinger’s Revenge III – The Return of the Space Zombies zocken, denn bis zum Level in der Raumstation hatte es Audrey selbst noch nicht geschafft. Harald wechselte von der Kettensäge zum Plasmaflammenwerfer, als eine größere Zombiehorde auf ihn zurannte. Mit einer lässigen Handbewegung erzeugte er einen blau aufleuchtenden Feuerstoß, der die gesamte Gruppe verbrutzelte. Seine Gegner wälzten sich brennend auf dem Boden. Undefinierbare Zombieschmerzenslaute erfüllten die Luft, ehe die verschrumpelten Gestalten zu Asche zerfielen. Der leuchtende Schriftzug ›ZOMBASSAKER!‹ ploppte für einen Augenblick über die gesamte Bildschirmbreite hinweg auf.
Audrey schäumte. ›Wie es gewesen war?‹ Sie hatte gerade einen stellenweise verdammt fiesen Trip erlebt und er schaffte es nicht einmal, sein blödes Game zu pausieren und sich zu ihr umzudrehen? (Und eigentlich war es ihr Spiel und wenn sie so darüber nachdachte, dann hatte der Wichser sicher ihren Spielstand benutzt und einfach von dort aus weitergespielt, ansonsten würde er jetzt noch irgendwo in der vergessenen sowjetischen Geheimbasis in der Tunguska herumgurken und wehe, er hatte ihren Spielstand überspeichert; Aber ganz sicher hatte er das, denn so angepisst, wie Audrey gerade war, war Harald – das größte Aas der Welt – sicher zu allem fähig, ansonsten hätte das Scheißloch sie auch nicht das Blue nehmen lassen …).
»Du Schwanz, warum hast du mich nicht vor dem gewarnt, was mich da drinnen erwartet?«, fuhr sie ihn an. Harald zuckte vor Schreck zusammen. Ein schwerer Fehler, denn diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nutzte einer der größeren Zombiekreaturen sofort aus. Eine unförmige Pranke packte Haralds Spielfigur. Schon zoomte die Kamera aus dem Geschehen heraus, um einen besseren Blick darauf zu ermöglichen, wie der Zombie Haralds alter Ego (einen generischen, muskelbepackten Soldaten, der in einem Exoskelett steckte, das mehr an eine Ritterrüstung als an modernes militärisches Kampfgerät erinnerte, augenscheinlich der namensgebende Merowinger) in die Luft riss. Dann zoomte die Kamera wieder heran, um in Nahaufnahme zu zeigen, wie der Zombiekloss spektakulär den Kopf von Haralds Figur abbiss. Eine unrealistisch große Blutfontäne schoss aus dem Rumpf und verwandelte die Wabenwand in ein rotes Jackson-Pollock-Gemälde.
»Was ist denn dir in die Vagina gefahren?«, fauchte er sie an »Ich habe dir doch gesagt, dass es beim ersten Mal n’bisschen strange ist.«
»Aber doch nicht so!«, empörte sich Audrey heftig.
»Das AlbinoBlue wirkt bei jedem anders, sorry. Aber du warst es doch, die es unbedingt ausprobieren wollte.«
»Ja, aber nur weil du und deine Kumpels ständig davon geschwärmt habt.« Audrey fing sich wieder, nachdem sie ihre erste Wut losgeworden war. Ihr Tonfall klang fast entschuldigend.
»Ist ja auch der krasseste Shit, den du kriegen kannst«, meinte Harald, nun seinerseits wieder versöhnlich »Das erklärt auch, warum du zwischendurch wie eine bescheuerte Schlafwandlerin durchs Zimmer geirrt bist«.
»Es war absolut oberkrass. Der Trip hat sich so echt angefühlt. Alles war so klar, als ob ich gar nichts eingeworfen hätte.«
»Was hast du denn erlebt?«, wollte er grinsend wissen.
»Ich war in einem gigantisch großen Tropenhaus. Alles voller Pflanzen, die sahen total abgefahren aus. Wie so Sachen, die du im Traum siehst und dann wieder vergisst, wenn du aufwachst. Aber dann hat mich irgendetwas verfolgt …«
Harald wurde hellhörig: »Hast du gesehen, was da hinter dir her war?«
»Ne, habe ich nicht. Es war mehr ein Gefühl, als eine Sache, glaub’ ich mal. War dann auch plötzlich weg. Aber ich hatte echt kurz Schiss wegen des ›Fluch des Pharaos‹, von dem alle reden.«
»Echt jetzt?«, Harald lachte zu laut »Das mit dem Fluch ist nur so’n Scheiß, den sich die Leute erzählen, um kleinen Kindern Angst zu machen.«
»Aber in den Nachrichten reden sie doch überall von diesen Morden.«
»Ach, die haben doch nichts mit dem Blue zu tun. Das ist alles Panikmache«, meinte er achselzuckend »Die suchen nur einen Sündenbock, weil sie bis jetzt noch niemanden geschnappt haben.«
»Hm …« Audrey klang nicht sehr überzeugt. In ihrer Hand hielt sie die Verpackung, in der das AlbinoBlue gewesen war. Dein Weg zur Erleuchtung stand darauf.
»Wie war es denn bei dir?«, wollte sie von ihm wissen.
»Was meinst du?«
»Den Trip meine ich.«
»Ich war in keinem Gewächshaus, das kannst du mir definitiv glauben. Ich bin nicht so der Pflanzentyp.«
»Das meine ich nicht. Bist du auch verfolgt worden?«