Kitabı oku: «Boat People», sayfa 7

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DIE NATUR DER DINGE

Priya hatte den Schlüssel zu ihrem Elternhaus. Sie ging hinein, streifte die Sandalen ab und riss sofort ein Fenster auf. Das Haus roch nach verbranntem Knoblauch und gebratenen Zwiebeln. Ihr Vater und Rat waren im Wohnzimmer und spielten Schach. Appa hatte gerade den schwarzen Läufer aufgenommen und musterte, seinen nächsten Zug erwägend, mit angestrengten Augen durch die Brillengläser das alte, ramponierte Schachbrett. Eine Büroklammer ersetzte die weiße Dame. Rat hatte sie in der Mitte des Bretts so hingelegt, dass sie den schwarzen Springer herausfordernd anstarrte.

Priyas Vater war klein von Statur, keine ein Meter siebzig groß, hatte schlanke Glieder und einen Bauch so rund wie ein Basketball. Als Ma noch lebte, neckte sie ihn gern damit, dass er im fünften Monat schwanger sei. Zwei graue Haarbüschel standen ihm drahtig vom kahlen Kopf ab. Priya küsste ihn flüchtig auf die Wange und sagte: Hallo, Appa. Sie wusste nicht warum, aber seit Mas Tod nannte sie ihn so. Vorher war er immer Dad gewesen.

Ihr älterer Bruder war ein gutes Stück größer, seine Haut war dunkler, das Haar kurzgeschoren, die Gestalt schlaksig und locker. Er war von der Arbeit direkt hierher gekommen und saß breitbeinig hingelümmelt in einem Lehnstuhl, den Schlips hatte er über die Armlehne geworfen.

Priyanke, sagte er.

Sie antwortete mit militärischem Salut. Lingaratnam.

Als er elf Jahre alt war, hatte Rat verkündet, er wolle Michael genannt werden. Ich hasse meinen Namen! Ihr habt ja keine Ahnung, was die mich in der Schule alles schimpfen.

Ma war in Tränen ausgebrochen, Appa wurde ungnädig. Aber zu seinem achtzehnten Geburtstag hatten sie die Formulare nach Hause gebracht und es offiziell gemacht. Aber Priya nannte ihn nach wie vor immer nur Rat.

Im Fernseher hinter ihnen lief ein Dokumentarfilm: Zwei Affen, jeder in seinem eigenen Käfig, reagierten auf eine Person, deren blau behandschuhte Finger wiederholt im Bild erschienen.

Die Natur der Dinge?, fragte Priya.

Rat legte einen Finger auf den Mund und überschaute das Schachbrett.

David Suzukis wohlbekannte Stimme erklärte: Die Kapuzineraffen tauschen einen Stein gegen eine Gurkenscheibe. Solange beide dieselbe Belohnung bekommen, gehen sie diesen Tauschhandel immer wieder gern ein.

Ich habe gesehen, dass deine Firma was mit diesem illegalen Schiff zu tun hat, sagte Rat.

Appa knurrte unwirsch, und als Priya hinschaute, sah sie, wie Rats Turm Appas Läufer schlug. Nicht illegal, korrigierte ihn Priya. Es ist völlig legal, an der Landesgrenze anzukommen und einen Asylantrag zu stellen. Die Regierung lässt viele falsche Anschuldigungen vom Stapel, um die Sache zu vernebeln. Sie hörte, wie Gigovaz’ Wort vernebeln aus ihrem Mund kam und sagte nichts weiter.

Rat hob abwehrend die Hände: Ich sage ja nur, was ich aus den Nachrichten habe.

Ja, Reporter plappern jede erlogene Behauptung der Regierung einfach nach, sagte Priya.

Na, und was ist die wahre Geschichte dieser Schiffsflüchtlinge?, fragte Rat. Und was hat deine Firma damit zu tun?

Priya, sagte ihr Vater, ohne den Kopf zu heben. Geh mal und hilf deinem Onkel.

Onkel Romesh lebte, seit er vor Jahren nach Kanada gekommen war, bei ihnen als dritter, nachsichtiger Elternteil, der eher gütig als streng war. Schon als Kind hatte Priya die Distanz zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel gespürt, eine Kälte, die sie nicht begreifen konnte. Nachdem sie einmal eine scharfe Auseinandersetzung zwischen den beiden miterlebt hatte, fragte sie: Kannst du Onkel Romesh denn nicht leiden? Appa hatte nur gesagt: Doch, doch. Er ist mein Bruder.

Aber als Ma krank wurde, hatte sie Priya aufgetragen: Romesh darf auf keinen Fall weggehen.

Weggehen?, hatte Priya daraufhin gefragt und bei sich gedacht, dass die Chemotherapie dem Kopf ihrer Mutter zugesetzt haben musste. Wohin könnte Onkel denn gehen wollen?

Du darfst nicht zulassen, dass dein Vater ihn wegschickt, hatte Ma gesagt und Priya dabei das Handgelenk gedrückt. Romesh ist hier genauso zu Hause wie wir.

Doch was immer Ma befürchtet hatte, es trat nicht ein. Als sie krank war, führte der Onkel den Haushalt. Danach hatte er eine Trauerzeit von sechs Monaten eingeräumt, doch dann brachte er Ordnung in ihren Tagesablauf. Am Montag spielten er und Appa Euchre im Vietnamesischen Gemeinschaftszentrum. Am Mittwoch gab es Cricket mit ein paar Freunden aus Bangladesch. Und jeden Abend stärkten sie sich vor dem Schlafengehen mit einer Episode aus der Fernsehreihe Schatten der Leidenschaft, die sie auf dem Videorecorder aufzeichneten. Der Verlust hatte die beiden Brüder so eng verbunden, wie Ma, als sie noch lebte, es nie vermocht hätte, und die Distanz, die Priya gespürt hatte, schien zu verschwinden.

Onkel Romesh war in der Küche. Er trug einen Sarong und ein kariertes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Die Arbeitsfläche war mit Mehl bestäubt. Neben einer offenen Flasche Kokosöl stand ein Messbecher mit Wasser. Der Onkel kämpfte mit einem hart geratenen Teigklumpen, den er auszurollen versuchte. Nebenbei verfolgte er eine Call-in-Radiosendung.

Mas Kochbuch lag aufgeschlagen da. Priya blätterte eine Seite weiter, das Papier war abgenutzt und fast durchsichtig, wie eine Zwiebelschale. Die akkurate Handschrift ihrer Mutter verzierte die Ränder. Ihre Notizen hatte sie auf Englisch geschrieben, aber die Buchstaben hatten noch die kunstvollen Rundungen der tamilischen Schrift. Priya strich behutsam über die verblassten Schriftzeichen.

Godamba Roti?, sagte sie. Gar nicht so einfach.

Der Onkel klatschte den Teig auf den Metzgerblock. Unmöglich!

Der Radiomoderator gab seine Meinung über das G8-Gipfeltreffen kund. Priya versuchte, die irritierende Stimme zu ignorieren, und ging zum Onkel hinüber. Kauf es das nächste Mal doch einfach schon fertig.

Er legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie leicht. Wie geht es dir, mein Schatz? Wie läuft die Arbeit?

Mein Chef ist ein Säufer, sagte Priya.

Wenn Ma noch am Leben gewesen wäre, hätte sie gesagt: Tschi, tschi … so was darfst du nicht sagen. Aber Ma war nicht mehr da, und es gab niemanden mehr, der sie zurechtwies.

Ich dachte, du hättest ein gutes Verhältnis zu deinem Chef. Der Onkel machte eine Schranktür unter dem Spülbecken auf und warf den Teig in den Komposteimer.

Priya nahm einen Reiskocher aus dem Schrank und erklärte ihm, wie es sich mit Gigovaz und ihrer neuen Arbeit verhielt. Sie maß den Basmati ab und schüttete Wasser aus dem Messbecher darüber. Der Onkel gab mit einem Löffel noch etwas Kurkuma hinzu und rollte eine Handvoll Kardamom, Nelken und Curryblätter in ein Seihtuch. Priya hatte ihm diesen Trick beigebracht. Ma hatte einfach alle Gewürze in den Reis geworfen, und beim Essen mussten sie dann die Gewürzreste herauspicken. Priya und Rat maulten dann immer darüber, besonders wenn sie versehentlich auf eine Kardamomschote bissen und den bitteren Geschmack auf der Zunge hatten. Und Ma wies sie zurecht, wenn sie aufmucksten. Wussten sie denn nicht, dass es Kinder in Äthiopien gab, die hungern mussten?

Der Onkel hatte von dem Schiff gehört. Fünfhundert Menschen!, sagte er. Nicht vorzustellen! Und jetzt stecken sie die Männer ins Gefängnis, nicht? Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: Gut, dass sie dich haben.

Warum flüstern wir eigentlich?, fragte Priya belustigt. Onkel konnte manchmal abergläubisch sein wie ein altes Weib. Als Ma krank war, hatte er das Wort Krebs kein einziges Mal über die Lippen gebracht.

Na ja, sagte er und nickte in Richtung Wohnzimmer. Lass sie ihre Sendung hören.

Meine Klienten hätten es viel leichter mit Leuten, die wissen, was sie tun, sagte sie.

Gigovaz hatte ihr ein Buch über Flüchtlingsrecht geliehen, und sie kam nur langsam damit voran. Es war unfair gewesen, ihr diesen Auftrag zu geben, und das machte ihr schwer zu schaffen. Ihre ganze berufliche Laufbahn war über den Haufen geworfen worden – nur wegen ihrer Hautfarbe.

Bisher habe ich immer nur Formulare ausgefüllt, sagte sie. Sklavenarbeit.

Zunehmend regte sich in Priya der Verdacht, dass sie nur zu Gigovaz’ Vorteil da war. Er gerierte sich als Professor und hörte sich gern reden. Es entging Priya nicht, mit welchem Stolz er sie als meine Jurastudentin vorstellte. Die Art und Weise, wie er mit seiner ungeduldigen, fleischigen Hand gestikulierte, machte sie wahnsinnig. Er hatte immer noch nicht gelernt, ihren Namen richtig auszusprechen.

Im Radio erging sich ein Anrufer in philosophischen Erörterungen. Er sprach mit leicht südasiatischem Akzent und machte das runde W jedes Mal zu einem schlanken V. Der Onkel drehte den Wasserhahn auf, und in einer ihrer Gesprächspausen hörten sie, was der Anrufer sagte: Es gibt zwei Wege für den Einwanderer. Den schweren Weg, den ich gegangen bin: Englisch lernen, eine Hochschulbildung erwerben und Berufserfahrung sammeln. Und dann den leichten Weg: Terrorist werden und Flüchtlingsstatus beantragen.

Ah! Der Onkel fuhr zusammen und zog seine Hand aus dem laufenden Wasser.

Abfangen und abschieben, so würde ich das machen, pflichtete der Moderator dem Anrufer bei.

Priya schaltete das Radio aus. Warum hörst du dir diese Station an?

Aus dem Wohnzimmer kam Rats schadenfrohes Gelächter.

Dankbar für diese Ablenkung, steckte Priya ihren Kopf durch die Tür. Sie wollte jetzt nicht mehr über ihre Arbeit sprechen. Auf dem Bildschirm warf ein Affe eine Gurkenscheibe auf den Wissenschaftler, schlug auf die Stangen ein und rüttelte wild am ganzen Käfig.

David Suzuki erklärte: Kapuzineraffen werden böse, wenn sie einen ungerechten Vorteil wittern. Sie sind zufrieden mit der Gurke, bis sie sehen, dass ein anderer Affe Trauben bekommt.

Rat, der immer noch kicherte, schaltete die Sendung auf Pause und stand auf. Was gibt’s zu essen?, fragte er, rieb sich den Bauch und ging in die Küche.

Priya gab ihm einen Puff in die Magengrube. Bei dir wächst da drin wohl auch was Kleines?

GODFATHER

Die Decke in der Dachkammer war undicht geworden. Grace hielt die Leiter fest und Steve kam wieder herunter. Er trug Tennisweiß und eine Baseballkappe.

Wieder mal die Abdichtung, sagte er und sprang von der letzten Sprosse. Ich wusste doch, dass die Leute aus Burnaby geschludert haben.

Unmöglich, diese Dachdecker, sagte Grace.

Sie trugen die Leiter in die Garage und hingen sie horizontal an zwei Nägeln auf.

Das muss unbedingt repariert werden, sagte Steve. Ein paar Balken haben schon Moder angesetzt.

Sie gingen durch die Hintertür zurück ins Haus. Der große Familienkalender lag offen auf dem Küchentresen. Grace blätterte ein paar Seiten nach vorn und sagte: Okay, die kommende Woche kann ich nicht, aber die danach wäre schon möglich. Da kann ich mich bestimmt mal eine Stunde aus dem Büro verdrücken.

Super. Steve nahm sich ein Glas aus dem Schrank.

Und diese Woche? Wenn ich einen Dachdecker finde, könntest du da?

Nein, diese Woche kann ich nicht. Er machte das Gefrierfach auf und holte sich mit der bloßen Hand ein paar Eiswürfel heraus.

Grace sah plötzlich einen Termin, den sie vergessen hatte. Die Mädchen haben am Donnerstagnachmittag ihre Geigenprüfung, sagte sie. Und noch ehe Steve etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: Du bist dran.

Ich habe eine Sitzung nach der anderen, sagte er. Du weißt ja, wie das bei den Musikern läuft. Du musst vorher da sein, obwohl die nie pünktlich anfangen, und dann musst du immer mit dem Verkehr rechnen. Dann ist der halbe Tag weg.

Ich habe diesen Job erst vor einem Monat angefangen. Wie sieht das aus, wenn ich mir jetzt schon freinehme?

Und ich habe meine freien Tage alle schon weg, sagte Steve und goss sich Limonade ins Glas.

Grace fühlte sich schuldig. Er hatte recht. Die letzten Monate war sie mit Kumis Umzug beschäftigt gewesen und hatte sich nicht um die Familie kümmern können. Steve hatte immer wieder einspringen müssen. Aber als er jetzt aus der Küche ging, so als sei die Sache abgemacht, wurde sie böse. Und alles andere, ist das nichts?, wollte sie sagen. Die auswärtigen Spiele, wenn er einfach weg war und sie alles allein stemmen musste, die vielen Male, die sie früher von der Arbeit nach Hause fahren musste, oder nicht länger bleiben konnte, obwohl Kumi als Elternersatz da war, weil die Mädchen ihre Mutter brauchten.

Es klingelte an der Haustür, und Grace schlug den Kalender zu. Die Mädchen konnten mit dem Bus zu ihrer Musikprüfung fahren, und der Dachdecker musste eben warten. Beim nächsten Regen sollte Steve einen Eimer hinstellen.

Fred hatte eine Hand am Ohr, als Grace die Tür aufmachte. Die können Sie mir per Kurier nach Hause schicken, sagte er. Ich bin dann da.

Grace bat ihn herein und führte ihn zum hinteren Teil des Hauses. Er folgte ihr, immer noch telefonierend.

Die Abhörgeräte und die Vollmacht, sagte er. Ja, beides.

Sie gingen durch die Flügeltür nach draußen. Grace war barfuß und spürte die Hitze der Steinplatten auf der Terrasse. Die Nachmittagssonne stand noch hoch und warf ein angenehmes Licht über die grüne Rasenfläche mit den vom Aufsitzmäher ordentlich gezeichneten Spuren. Grace machte den Sonnenschirm über dem Terrassentisch auf. Über die Ligusterhecke hinweg konnte sie die schrägen Dächer der Nachbarhäuser sehen, ihre Schornsteine und die Kegel der immergrünen Ziersträucher. Im eigenen Garten standen die Pfingstrosen in voller, schwer herabhängender Blütenpracht.

Auf dem Tisch stand ein beschlagener Krug mit Limonade. Während Fred sein Telefonat abschloss, füllte Grace zwei Gläser. Sie bedauerte, dass ihre Mutter nicht zu Hause war, dass sie mit den Zwillingen ins Schwimmbad gegangen war.

Kumi war enttäuscht gewesen, als Grace den Job bei Fred angenommen hatte. Administrative Assistentin, hatte sie mit abfällig verzogener Miene gesagt, als Grace strahlend mit dem Arbeitsangebot nach Hause kam. Du wirst diesem Herrn den Kaffee servieren und das Telefon hüten. Bist du dafür zur Uni gegangen?

All die Erfolge, Beförderungen und Gehaltserhöhungen ihrer Tochter konnten Kumi nicht beeindrucken. In ihren Augen war Grace immer noch nichts weiter als eine Sekretärin. Aber wenn sie Fred jetzt sehen würde – einen Kabinettsminister in ihrem Haus –, vielleicht würde Kuni dann begreifen, welches Ansehen mit Graces Arbeit verbunden war.

Das letzte Mal war Fred kurz nach Weihnachten hier gewesen, unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Ottawa zur nächsten Legislaturperiode des Parlaments. Wochenlang hatte Grace ihn nur kurz sehen können: imposant hinter einem Rednerpult oder im Unterhaus beim Angriff auf die Opposition. Als Privatperson, ohne seine Nadelstreifenpanzerung und Krawatte, wirkte er ­geschrumpft, unbeholfen in seinen Khakis und den kurzen Ärmeln.

Fred schaltete sein BlackBerry aus und legte es auf den Tisch. Sorry. Er beugte sich zu ihr und küsste sie flüchtig auf beide Wangen. Sie hatte diese altmodische Gepflogenheit schon immer charmant gefunden.

Immer noch der Krieg gegen Godfather?

Acht Tote im Prince Regent Hotel, und der beruft sich auf das Grundrecht und erhebt Einspruch gegen seine Auslieferung!

Am vergangenen Wochenende hatte es vor dem ersten Hotel der Stadt eine Schießerei gegeben. Rivalisierende Drogenbanden, und drei unschuldige Touristen waren ins Kreuzfeuer geraten. Die Zwillinge waren zu der Zeit am Strand gewesen und Grace hatte zwei angsterfüllte Stunden am Telefon ausharren müssen. Steve fand ihre Reaktion total übertrieben.

Die sind doch an der English Bay, weit weg von der Schießerei.

Vielleicht haben sie sich anders entschieden, sagte Grace. Wir wissen doch nicht, wo die Kinder sind.

Sie hatte auf dem Rand des Kaffeetischs dicht vor dem Fernseher gesessen und im Wirrwarr des Geschehens nach ihren Kindern gesucht.

Die haben doch keinen Grund, in der Stadt zu sein, hatte Steve gesagt und den Fernseher ausgemacht. Du musst nicht immer gleich das Schlimmste befürchten.

Fred fand nicht, dass Graces Reaktion übertrieben gewesen war. Schmuggler, organisierte Verbrecherbanden, Biker und die Sikh-Gangs … Wenn Sie bloß die Hälfte von dem wüssten, was mir bei meiner Arbeit alles begegnet.

Als Kinder haben wir draußen gespielt, bis die Straßenlampen angingen, sagte sie.

Das hat damit angefangen, dass wir dachten, wir müssten die Leute wohl oder übel aufnehmen, fuhr Fred fort. Facharbeiter und Einwanderer, das ist das eine. Aber sehen Sie doch dieses Monster, den Godfather, diesen Schweinehund. Hat sechs Morde in Auftrag gegeben und zwei Unschuldige gleich mit umgebracht, sagte Fred. Und jetzt spielt er sich als Opfer auf. Irgend so ein wohlmeinender Einfaltspinsel in der Einwanderungsbehörde hat ihm vor zwanzig Jahren sein Märchen abgenommen, und jetzt haben wir den Schlamassel.

Fred blinzelte in die Sonne, nahm die Brille ab und holte seine Sonnenbrille aus der Brusttasche. Apropos, wie laufen die Dinge in Ihrem neuen Job? Haben Sie die Leute alle auf Vordermann gebracht?

Es läuft gut.

Er schüttelte den Kopf. Die machen die öffentliche Sicherheit zur Farce. Das muss sich ändern. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie einen neuen Ton einführen.

Grace sah ihr Spiegelbild auf seinen Brillengläsern. Na ja, ich muss noch einiges lernen …

Sie waren schon immer ein kluger Kopf.

Aber ich stoße bald an meine Grenzen. Grace zog sich ihre Sonnenbrille vom Kopf und setzte sie richtig auf. Einen ganzen Monat war sie schon dabei, und immer noch fühlte sie sich wie ein Hochstapler. Bei den Sitzungen ging es immer nur um Verbreitung von Informationen, besprochen wurde nichts. Erfordernis des Nexus, reales gegen spekulatives Risiko – sie kam mit dem Juristenjargon einfach nicht zurecht. Aber ihre Kollegen traten alle so sicher und selbstbewusst auf; sie um Hilfe zu bitten, käme einem Eingeständnis ihres eigenen Versagens gleich.

Ich habe ein Buch zum Flüchtlingsgesetz, und das hat sich als sehr nützlich erwiesen.

Bei einigen ihrer Kollegen hatte sie dieses Buch gesehen und es sich dann selber gekauft. Aber die Lektüre war ein schwerer Brocken.

Fred winkte ab. Sie brauchen das alles gar nicht, sagte er. Vertrauen Sie ihrem Instinkt. Präzedenz- und Fallrecht, was hat uns das gebracht? Eingeschmuggelte Straftäter, die unseren Sicherheitsbehörden nichts als Kopfschmerzen bereiten.

Grace musste an die Schießerei vor dem Prince Regent Hotel denken und ihre Panik, bis die Mädchen unversehrt zur Haustür hereingekommen waren.

Fred sagte: Diese Leute bekommen einen Fuß in die Tür, leben sich ein und können dann nicht abgeschoben werden. Maulwürfe, Wanzen …, wenn Sie nur wüssten, wie viel dieser russische Gangster den Steuerzahler kostet. Aber die Polizei und der Grenzschutz, das sind die wahren Helden. Die sind jeden Tag draußen an der Front.

Der automatische Rasensprenger ging an und Grace nahm die Gelegenheit wahr, unter dem Schutz ihrer Sonnenbrille wegzuschauen und wegzuhören. Fred vergaß manchmal, dass er nicht hinter einem Mikrofon stand.

Von Fred hatte Grace ihren ersten Job bekommen. Vor zwanzig Jahren, lange vor Steve und den Zwillingen, hatte Fred ihr seinen Tageskalender und den Anrufbeantworter anvertraut, auch beim Abfassen von Berichten und Diskussionsvorlagen hatte er sie zu Rat gezogen. Als die Stelle eines Politikanalysten frei wurde, hatte er für ihre Beförderung alle Hebel in Bewegung gesetzt. Es hatte andere, bessere Kandidaten gegeben, fand Grace. Aber Fred hatte ihr erklärt: Für diesen Job braucht man keinen Master. Als Fred aus der Provinzpolitik in die Landespolitik aufstieg, war sie bereits Einsatzleiterin und seine rechte Hand.

Und als sie sich einmal um die Weihnachtszeit über Langeweile beklagt hatte, bot Fred ihr eine Abwechslung an: einen Arbeitsvertrag auf drei Jahre bei der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde. Betrachten Sie es positiv als Versetzung, sagte er. Als Sprungbrett nach oben. Die haben mit einem Riesenrückstau unbearbeiteter Fälle zu schaffen und suchen gerade nach einem zusätzlichen Mitarbeiter. Ich kenne niemanden, der besser dafür geeignet wäre als Sie.

Grace dachte an Mitchell und was er über ihre Qualifikation zu sagen hätte.

Kennen Sie einen Mitchell Hurst?, fragte sie.

König der Gutmenschen, sagte Fred. Hat er Ihnen Schwierigkeiten bereitet?

Nein, sagte Grace nachdenklich und wusste nicht, woher der Impuls gekommen war, Mitchell zu schützen. Er war … in Ordnung. Alle waren mir gegenüber sehr zuvorkommend.

Hurst gehört zur alten Schule. Die Liberalen haben überall Leute wie ihn eingesetzt, Linke, die sich vom Gefühl, nicht vom Verstand leiten lassen.

Fred wollte über das Schiff sprechen. Eine Feuerprobe, sagte er. Wie hat die Vancouver Sun es genannt?

Grace rollte mit den Augen. Das „Traumschiff“?

O ja, diese Terroristen haben große Träume.

Auf der anderen Seite der Hecke sprang jemand laut platschend ins Schwimmbecken. Zwei Kinder kreischten ausgelassen. Am Freitag hatte Grace eine Haftüberprüfung eines Mannes durchgeführt, dessen Kind in einem Frauengefängnis untergebracht war. Sein Anwalt sprach von ungebührlicher Härte, und das hatte Grace einen kleinen Stich gegeben. Aber dann hatte sie daran gedacht, wie oft sie Überstunden im Büro eingelegt hatte, wie oft sie zu Konferenzen gefahren war, als die Mädchen noch klein waren. Derartig kurze Abwesenheiten waren nur kleine Episoden in viel längeren Familiengeschichten. Der Mann und sein Sohn hatten den Rest ihres gemeinsamen Lebens noch vor sich, und wenn ihr Fall sich als legitim erwies, würden sie den in Kanada verbringen. Wenn Grace aber die komplexe Entscheidungsfindung überdachte – wie konnte sie ehrliche Aussage von erlogener Geschichte unterscheiden, nach welchen Kriterien, abgesehen von der Intuition? – dann explodierte etwas in ihrem Kopf, und die Gedanken schossen in allen Richtungen durcheinander.

Fred klopfte nachdrücklich mit dem Zeigefinger an sein Glas. Die ganze Welt schaut auf uns, sagte er, auf jeden Schritt, den wir tun. Und das ist gerade mal die Spitze des Eisbergs.

Wie meinen Sie das?

Es ist schwierig, verlässliche Informationen aus diesen Ländern zu bekommen, aber wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass noch mehr Schiffe kommen werden. Wer weiß, wie viele Illegale noch. Das ist ein Test für uns, sagte Fred. Ein falscher Schritt, und wir werden von Schnorrern überrannt.

Vor ihrem inneren Auge sah Grace einer Flotte rostiger Frachtschiffe auf dem Indischen Ozean, die alle auf ein Signal warteten. Fünfhundertdrei Menschen auf einem zwanzig Meter langen Schiff. Nichts war unmöglich. Panik fuhr ihr heiß durch die Glieder, aber sie vertrieb sie mit dem Gedanken, dass sie nichts falsch gemacht hatte. Noch nicht.

Fred sagte, das eigentliche Problem liege in der Durchlässigkeit des Systems, und dem konnte sie nur zustimmen. Das ist eine große Grauzone, sagte sie. Die fehlenden Ausweise zum Beispiel. Diese Leute kommen ohne irgendwelche Papiere und meinen, wir müssten ihnen glauben? Da kann uns jeder was erzählen.

Und denen, die Papiere dabeihaben, kann man auch nicht trauen, sagte er. Wir müssen davon ausgehen, dass die Hälfte der Leute an Bord der LTTE angehört.

Wie meinen Sie das?

Da ist einiges auf dem Schiff gefunden worden. Ausweisdokumente. Ich bin sicher, dass die Grenzschutzagentur die bei den Anhörungen auf den Tisch legt.

Wirklich? Grace dachte an den Migranten mit dem kleinen Sohn. Er war mit einem Berg von Dokumenten gekommen. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass das alles Fälschungen sein könnten.

Diese Leute sind nicht die, als die sie sich ausgeben, sagte Fred. Die LTTE benutzt Zivilisten als Deckung, hinter der sie ihre Leute einschleust. Sie dürfen nicht vergessen, Grace, dass diese Terroristen die Selbstmordanschläge erfunden haben. Indien hatte versucht, einen Waffenstillstand zu vermitteln, und wie haben die Tigers ihnen gedankt? Rajiv Ghandi haben sie in die Luft gejagt. Die sind zu allem fähig. Wenn auch nur einer von denen bei uns reinkommt …

Grace blieb die Spucke weg. Das hatte sie nicht geahnt, als sie diesen Job annahm. Es ging nicht einfach darum, rechtmäßige von unrechtmäßigen Antragstellern zu unterscheiden; die wirkliche und zurzeit akute Gefahr lag darin, versehentlich einen gefährlichen Täter durchzulassen.

Fred sagte: Grundsätzlich gilt: Rechtmäßige Flüchtlinge müssen ihren Status schon vor ihrer Ankunft beim Hochkommissariat in ihrem eigenen Land beantragen. Unsere Familien sind über diesen langwierigen legalen Weg hierher gekommen.Warum sollte es jetzt anderen erlaubt werden, die Formalitäten zu überspringen und sich einfach vorzudrängeln?

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