Kitabı oku: «Geschichte der Sonderpädagogik», sayfa 2

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Der Fokus auf die Differenz offenbart erneut das ambivalente Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Pädagogik. Die in der Disziplin der modernen Pädagogik selbst zu verortenden Tendenzen von Universalität und Partikularität, von Inklusion und Exklusion, von Gleichheit und Differenz haben in verschiedenen Epochen zu unterschiedlichen Resultaten geführt; ihre exemplarische Darstellung soll uns im Folgenden beschäftigen, eingedenk der Erkenntnis von Kontingenz, nämlich, „es hätte auch anders kommen können“ (Bleidick 2001, 11).

Bedeutsamkeit für Gegenwart

Gemäß dem geschilderten Verständnis von Geschichte kann die vorliegende Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik nicht den Versuch unternehmen, ein möglichst vollständiges Bild einer mehr als 250-jährigen Entwicklung nachzeichnen zu wollen. Das Ziel ist ein sehr viel bescheideneres, nämlich anhand spezifischer Fragestellungen und in exemplarischer Weise unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart die Historie im Hinblick auf Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher zu befragen.

Die Entscheidung für das Exemplarische ist notgedrungen subjektiv, aber nicht beliebig. Die Auswahl orientiert sich an der Frage, welchem Wandel die Idee der Bildsamkeit im Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten unterlag und welche Wirkungen und Folgen sich hinsichtlich der erwähnten Fragestellungen ergaben. Die Verpflichtung zur informierenden Orientierung verlangt, dass der gesamte Zeitraum präsent ist – unter dem Gesichtspunkt der erkenntnisleitenden Fragestellung muss es jedoch zu Schwerpunktsetzungen kommen. So wird der Darstellung der Entwicklung des ersten Jahrhunderts (bis ca. 1860) relativ viel Raum gewährt, da in ihr die entscheidenden Grundlagen für die Entfaltung und Wirksamkeit des Bildungsbegriffs für Menschen mit Behinderung gelegt sind, während hingegen das Dritte Reich, das eher eine Pervertierung dieses Gedankens verkörpert, in der Logik dieser Einführung keine dominante Stellung erhält.

Periodisierung

Da diese Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik auch ein Verständnis für das historische Gewachsensein gegenwärtiger Phänomene anbahnen möchte, muss die Darstellung nach meinem Verständnis der zeitlichen Chronologie folgen, womit sich die Frage nach der Periodisierung geschichtlicher Abläufe stellt. Ein Blick in historische Standardwerke, wie etwa das „Handbuch der deutschen Geschichte“ von B. Gebhardt in vier Bänden (1954ff) oder aber die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von H.-U. Wehler, ebenfalls in vier Bänden (1989ff), zeigt keine Übereinstimmung in der Festlegung der Perioden, was schließlich auch für das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ in sechs Bänden von Berg und Mitautoren (1987ff) sowie die „Geschichte der Erziehung“ von H.-E. Tenorth (20084) zutrifft. Diese unterschiedliche Akzentuierung bei der Festlegung von Perioden offenbart nur einmal mehr, dass es die Geschichte nicht gibt, dass jede Darstellung historischer Phänomene durch Standortgebundenheit mitbestimmt wird.

Die sich anschließenden sieben Kapitel folgen der Entwicklung von den Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zu einer Analyse gegenwärtiger Tendenzen wobei nicht nur die „Einheit“ der Pädagogik den Blick lenkt, sondern, in aller Begrenztheit, auch die Rückbindung an Politik- und Gesellschaftsgeschichte sowie das Interesse für Entwicklungen des Auslandes.

Quellenstudium

Eine Einführung in historisches Denken ist schließlich nicht möglich ohne die Begegnung mit dem Original, also der Quelle. Auch dies kann hier nur ansatzweise erfolgen, denn wir müssen auf einen umfänglichen Abdruck von Originaltexten sowie eine eingehende Erörterung von Quelleninterpretation und Quellenkritik verzichten. Aber die Verwendung von Auszügen ursprünglicher Texte soll die Erkenntnis vermitteln, dass die Darstellung vergangener Phänomene, und das sei hier wiederholt, immer bereits Interpretation ist, dass also der Unterschied von „Quelle“ und „Darstellung“, so Hans-Jürgen Pandel, auf einer „fundamentalen erkenntnistheoretischen Differenz“ beruht:

„Geschichte […] ist narratives Wissen, das sich jede Generation immer wieder neu erarbeiten muß, da die Gegenwart sich ständig verändert […] Jede Gegenwart läßt neue Fragen an die Vergangenheit entstehen. Insofern gibt es auch neue Antworten, und selbst die bekannten Quellen geben auf neue Fragen neue Antworten […] Im Gegensatz zu den Quellen ist historisches Wissen immer gegenwärtiges Wissen.“ (2003, 8f)

Dem Reiz, auch unveröffentlichte Quellen abzudrucken, konnte ich nicht widerstehen; im Interesse von leichterer Zugänglichkeit und Nachprüfbarkeit schien es mir allerdings geboten, den Schwerpunkt auf veröffentlichte Quellen zu legen.

Forschungs- desiderata

Mir ist sehr wohl bewusst, dass eine Geschichte der Sonderpädagogik ein kühnes Unternehmen ist, das viele Fallstricke bereithält, denn der Stand der historischen Forschung ist nicht so, dass man mit Gelassenheit auf breite gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen könnte. Groß sind nach wie vor die Lücken des historischen Wissens, und vieles liegt eher schemenhaft an der Oberfläche, ohne gründlich erforscht zu sein. Mangel herrscht an regionalgeschichtlichen Studien sowie an Darstellungen, die sich auf bestimmte Zeitepochen konzentrieren, aber auch die Ansätze einer ideen-, institutions-, historisch-vergleichenden und alltagsgeschichtlichen Herangehensweise verlangen eine stärkere Beachtung in der sonderpädagogischen Historiografie. Die Not der Auswahl erfordert schließlich einen Mut zur Lücke, den jeder aufbringen muss, der das Wagnis einer Einführung auf sich nimmt. Der kluge und historisch bewanderte Leser wird vieles vermissen; diesem Mangel versuche ich durch ausführliche Literaturhinweise ein Stück weit zu begegnen.

Ein letzter Hinweis gilt der Terminologie. In der Regel benutze ich die historischen Begriffe, die uns heute häufig fremd und befremdlich erscheinen, aber als zeitgebunden, meist nicht wertende pejorative Termini zu verstehen sind. Heil-, Sonder-, Behinderten- und Rehabilitationspädagogik werden schließlich als synonyme Begriffe verwendet. Bei der Benutzung gegenwärtiger Begriffe habe ich mich auch von sprachästhetischen Überlegungen leiten lassen, so dass etwa der Terminus „Behinderung“ sowohl in adjektivischer als auch substantivischer Form Verwendung findet.

Geschichte ist immer auch Erzählung und lebt von der Erzählung, sie ist ohne Narration nicht vorstellbar. Ich möchte somit im Folgenden von der mehr als 250-jährigen Geschichte der pädagogischen Anstrengungen um Bildung und Erziehung behinderter und beeinträchtigter junger Menschen erzählen, von dem Entstehen einer Heil- und Sonderpädagogik, ihren Glanzlichtern und Triumphen, aber auch ihren Schatten und Niederlagen.

2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert

„Menschlichkeit (Moral)

Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte die ganze Welt durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen […] Es macht ihr Freude, die Wohltätigkeit auf alle Wesen auszudehnen, die die Natur neben uns gestellt hat. Ich habe diese Tugend […] zwar in vielen Köpfen bemerkt, aber nur in wenigen Herzen.“

(Diderot/d’Alembert 1765)

2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen

Johann Amos Comenius

„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften […] Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte […]“ (Comenius 1985, 55f u. 194)

Aufklärung

Allen, die als Menschen geboren werden, also auch jene mit einer Behinderung, das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) von Comenius allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen, Pläne und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren.

Dieser Impetus, Bildungsanstrengungen für die im ökonomischen Sinne armen und behinderten Menschen zu unternehmen, ist besonders hervorzuheben, denn in den höheren Gesellschaftsschichten hatte es zu allen Zeiten pädagogische Anstrengungen für Personen mit Sinnes- und Körperbehinderung gegeben. Nach Jürgen Oelkers war „die Verschulung der ‚unteren Stände‘ der ‚Testfall‘ der pädagogischen Aufklärung“ (Benner/Oelkers 2004, 102). Die von ihm herausgestellten drei wesentlichen Innovationen der Aufklärung, nämlich das experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften, das Konzept der öffentlichen Bildung sowie die sensualistische Lerntheorie, waren notwendige Bedingungen für die ersten planvollen Erziehungsversuche für junge Menschen mit einer Behinderung.

Menschen mit Behinderung im Altertum

Doch zunächst sei daran erinnert, dass es bereits im Altertum gebildete Menschen mit einer Behinderung gab. Das blinde Mädchen von Brauron etwa gehörte zum Kreis gehobener Töchter Athens, deren Mädchenbildung im Rahmen des Artemiskultes erfolgte und das „nicht nur in den Kreis der sehenden Mädchen integriert, sondern […] wahrscheinlich sogar eine herausgehobene Position“ innehatte (Hoof 1990, 270). Auch in anderen Kulturkreisen gab es frühe Bildungsbemühungen um Menschen mit Blindheit, die meist handwerklicher Natur waren. So berichtet Wanecek (1969, 28f) von Zusammenschlüssen blinder Musiker und Masseure in Japan und China, die ihren Nachwuchs selbst heranbildeten, und Grosse (1993) erwähnt die Aufmerksamkeit, die in der Kultur der Sumerer einzelnen behinderten Menschen entgegengebracht wurde. Für das frühe Christentum wird von dem gelehrten Blinden Didymus (313–398 n. Chr.), ägyptischer Herkunft, erzählt, der ein aus Holz angefertigtes Alphabet benutzte, mit Hilfe des Tastsinns das griechische Alphabet erlernte und es bis zum Leiter der theologischen Hochschule von Alexandria brachte (Azer 1990). Und auch für das häufig als finster bezeichnete Mittelalter kann nicht pauschal von Ablehnung und Ausschluss von Menschen mit Behinderung die Rede sein:

„Von den verschiedenen Arten der Darstellung Gehörloser im Mittelalter her […] scheint es, daß die Gehörlosen trotz ihrer Andersartigkeit im Mittelalter weniger benachteiligt waren als andere Behinderte.“ (de Saint-Loup 1993, 447)

„Wolfskinder“

Selbst verwahrlosten, wilden, geistig zurückgebliebenen „Wolfskindern“, die, einmal aufgegriffen, die Menschen des Mittelalters vor große Rätsel hinsichtlich ihrer Wesenshaftigkeit stellten, wurde keinesfalls pauschal die Fähigkeit zur Entwicklung abgesprochen. Am Beispiel des bislang ältesten Berichtes über ein Wolfskind aus dem 14. Jahrhundert, dem hessischen Wolfsjungen, lesen wir als Fazit einer gründlichen Quellenanalyse folgendes Urteil:

„Es wird deutlich, daß der Junge – so befremdlich er auch gewirkt haben mag – für seine Zeitgenossen nur eine relative Gefahr dargestellt haben kann, denn sonst hätte man sich nicht um ihn gekümmert, ihn ernährt, ihm den aufrechten Gang beizubringen versucht und ihm eine Sprachfähigkeit zugeschrieben. Der Wolfsjunge konnte ohne ‚Verdammung‘ das bleiben, was er war: ein Kind, das Hilfe brauchte. Wahrscheinlich geschah dies nicht zuletzt deshalb, weil man in dem Kind eher ein Kuriosum und ein menschliches Wesen, aber kein Teufelswerk sah, weil man weniger eine schaurige Geschichte erzählen wollte, sondern vielmehr einen Hinweis geben auf die […] Lernfähigkeit der Kinder.“ (Saathoff 2001, 104f)


Abb. 2.1: Altägyptisches Grabrelief

Angehörige der Oberschicht mit Behinderung

Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang schließlich die nachgewiesenen Bildungsanstrengungen für hochgradig Hörgeschädigte aus den höheren Gesellschaftsschichten, die bereits im 16. Jahrhundert in Spanien durch den Benediktinermönch Pedro Ponce de Leon (1510–1584) unternommen wurden und die Nachahmer sowohl in England und den Niederlanden als auch in Frankreich und Deutschland fanden. Nach Löwe (1992, 25ff) liegt in diesen ersten planmäßigen Unterrichtsversuchen der Beginn der Beschulung hörgeschädigter Kinder, denn im Unterschied zu früheren Zeiten, wo es sich in der Regel nur um den Unterricht einzelner, meist erwachsener Personen handelte, wandten sich diese Lehrer nun bewusst Kindern und Jugendlichen zu, die sie zunehmend in kleinen Gruppen zusammenfassten.

europäische Aufklärung

Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten immer wieder Bildungsbemühungen um Menschen mit Behinderung gegeben hat, so kann von einem planvollen Beginn jedoch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rede sein. Die „Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter“ (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998) war möglich geworden, weil mit den Ideen der europäischen Aufklärung das allgemeine Bildungsrecht für jeden und damit auch für den behinderten Menschen proklamiert wurde. Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat Aufklärung wie folgt definiert:


„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Herrmann 2005, 99)

pädagogisches Jahrhundert

Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen wollen, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; 2005; Tenorth 2008).

John Locke

Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke (1632–1704), der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung.

Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (Hofer-Sieber 2000).

„Brief über die Blinden“

Diderots „Brief über die Blinden“ von 1749 gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber behinderten Menschen (Möckel 2006). Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für Kompensationsleistungen durch andere Sinne, wie etwa den Tastsinn als „Vikariatssinn“ interessierte, bescheinigte er auch den in ihren Sinnen eingeschränkten Personen prinzipielle Bildungsfähigkeit. Folglich existierte nach Auffassung der Sensualisten kein grundlegender anthropologischer Unterschied mehr zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Damit bestand die Aufforderung an findige Pädagogen, Methoden und Hilfsmittel zu erdenken, durch deren Einsatz bei der Beanspruchung der „Stellvertretersinne“ das Bildungspotenzial behinderter Menschen zur Entfaltung zu bringen war.

Diderot thematisierte in seinem Brief bereits konkrete Fragen der Unterrichtung blinder Menschen wie die Gestaltung unterschiedlicher Unterrichtsfächer oder den Einsatz von Hilfsmitteln und gab damit unschätzbare Anregungen für die sich entwickelnde pädagogische Praxis der Bildung von Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Auch die Gruppe der „Taubstummen“ erfuhr durch Diderot eine ungeahnte Aufwertung, da Sprache und Verstand von ihm nicht mehr als unaufhebbare Einheit betrachtet wurden und damit Taubstumme nicht mehr, wie so häufig, als geistlose Wesen und nicht zur Kategorie des Menschen gehörend, betrachtet wurden. Diderot sah vielmehr in der Gebärdensprache eine natürliche und aussagekräftige menschliche Sprache. Deren besondere Wertschätzung schlug sich auch in seinem literarischen Werk „Rameaus Neffe“ nieder.


Abb. 2.2: Diderots Brief über die Blinden“

Diese neue Sicht auf eine Behinderung findet sich in Diderots „Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden“, in dem uns ein Blinder aus dem Provinzstädtchen Puiseaux vorgestellt wird, der nicht nur über erstaunliche Fähigkeiten verfügt, sondern recht selbstbewusst sein tägliches Leben meistert:

„Das ist ein Mann, dem es nicht an gesundem Verstand fehlt, den viele Leute kennen, der etwas von Chemie versteht und der mit einigem Erfolg die Vorträge über Botanik im Jardin du Roi gehört hat. Er stammt von einem Vater, der an der Pariser Universität unter Beifall Philosophie gelehrt hat. Er besaß ein ansehnliches Vermögen, mit dem er die Sinne, die er noch hatte, leicht hätte befriedigen können; doch überwältigte ihn in der Jugend die Vergnügungssucht. Man mißbrauchte seine Neigungen, seine häuslichen Angelegenheiten gerieten in Unordnung, und so zog er sich in eine kleine Provinzstadt zurück, von der er nun jedes Jahr eine Reise nach Paris macht. Er vertreibt dort Liköre, die er selber destilliert und mit denen man sehr zufrieden ist […]

Wir trafen gegen fünf Uhr abends bei unserem Blinden ein und fanden ihn damit beschäftigt, mit Hilfe erhabener Buchstaben seinen Sohn das Lesen zu lehren. Er war erst vor einer Stunde aufgestanden; denn Sie müssen wissen, daß der Tag für ihn anfängt, wenn er für uns aufhört. Er pflegt seine häuslichen Angelegenheiten zu erledigen und zu arbeiten, während die anderen ruhen. Um Mitternacht stört ihn nichts und fällt er niemandem zur Last. Seine erste Sorge ist, alles aufzuräumen, was man im Lauf des Tages von seinem Platz entfernt hat; und wenn seine Frau erwacht, findet sie gewöhnlich das Haus in Ordnung […]

Wir sahen ihn sehr feine Nadeln einfädeln. Darf man Sie bitten, Madame, hier Ihre Lektüre zu unterbrechen und zu erproben, wie Sie an seiner Stelle damit zurechtkommen würden? Falls Sie keinen Ausweg finden, will ich Ihnen den unseres Blinden verraten. Er hält das Öhr der Nadel quer zwischen seinen Lippen, und zwar in der Richtung, die sein Mund hat; dann saugt er mit Hilfe seiner Zunge den Faden an, der seinem Atem folgt, vorausgesetzt, daß der Faden nicht zu dick für das Öhr ist. Aber in diesem Fall kommt der Sehende kaum weniger in Verlegenheit als derjenige, der des Gesichtssinns beraubt ist.

Er hat ein überaus gutes Gedächtnis für Töne, und uns zeigen die Gesichter keine größere Verschiedenheit, als er in den Stimmen bemerkt. Sie haben für ihn unendlich viele feine Nuancen, die uns entgehen, weil wir nicht das gleiche Interesse an ihrer Beobachtung haben wie der Blinde …

Irgendeiner von uns kam auf den Gedanken, den Blinden zu fragen, ob er sich nicht freuen würde, wenn er Augen hätte. ‚Wenn mich nicht die Neugierde beherrschte!‘, sagte er, ‚so hätte ich ebensogern lange Arme. Mir scheint, daß meine Hände mich dann über das, was auf dem Mond geschieht, besser unterrichten würden als eure Augen oder eure Fernrohre. Außerdem hören die Augen eher auf zu sehen als die Hände zu fühlen. Es wäre also für mich wertvoller, wenn man bei mir das Organ vervollkommnete, das ich besitze, als wenn man mir jenes Organ gäbe, das mir fehlt.‘ […]

Der Blinde aus Puiseaux schätzt die Nähe des Feuers nach den Hitzegraden, das Maß, bis zu dem Gefäße gefüllt sind, nach dem Geräusch, das die Flüssigkeiten beim Eingießen verursachen, und die Nähe der Körper nach der Wirkung der Luft auf sein Gesicht. Für die geringsten Veränderungen, die in der Atmosphäre eintreten, ist er so empfindlich, daß er eine Straße von einer Sackgasse unterscheiden kann. Er schätzt vortrefflich das Gewicht der Körper sowie die Hohlmaße der Gefäße und hat sich aus seinen Armen eine so genaue Waage und aus seinen Fingern einen so bewährten Zirkel gemacht, daß ich in den Fällen, in denen es um Fragen des Gleichgewichts geht, immer auf unseren Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werde. Die glatte Oberfläche der Körper hat für ihn kaum weniger feine Unterschiede als der Klang der Stimme, und daß er seine Frau mit einer anderen verwechselte, wäre nur zu befürchten, wenn er bei dem Tausch gewänne […]

Vorher hatte er die Absicht, sich mit einem Tauben zusammenzutun, der ihm Augen leihen sollte und dem er als Gegenleistung Ohren bieten wollte. Nichts hat mein Erstaunen dermaßen erregt wie seine eigentümliche Begabung für sehr viele Dinge; doch als wir ihm unsere Überraschung bezeugten, sagte er: ‚Ich bemerke wohl, meine Herren, daß Sie nicht blind sind. Sie sind erstaunt über das, was ich tue. Und warum staunen Sie nicht darüber, daß ich sprechen kann?‘ In dieser Antwort, so glaube ich, liegt mehr Philosophie, als er selbst hineinlegen wollte. Erstaunlich ist in der Tat die Leichtigkeit, mit der man sprechen lernt. Mit einer Menge von Wörtern, die nicht durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände vorgestellt werden können und sozusagen körperlos sind, können wir Ideen doch nur durch eine Reihe von feinen und tiefen Kombinationen zwischen den Ähnlichkeiten verbinden, die wir zwischen diesen nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und den durch sie erweckten Ideen bemerken.“ (Diderot 1961, 51ff)

französische Aufklärung

Es war die französische Aufklärung, so möchte ich resümierend mit U. Hofer-Sieber feststellen, der die Anerkennung gebührt,

„wesentliche Akzente gesetzt zu haben, um den Rahmen angenommener menschlicher Bildbarkeit zu erweitern durch den Einbezug von Menschen, denen diese bisher noch weitgehend abgesprochen worden war. Damit konnte einerseits der Bereich pädagogischen Wirkens durch methodische Differenzierung erweitert werden. Andererseits wurde damit gleichzeitig die Vorstellung des Allgemeinmenschlichen breiter und vielfältiger gedacht. Bisher geltende Normierungen mussten bezüglich ihrer Gültigkeit für Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten hinterfragt und relativiert werden“ (2000, 211).

Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung

Schließlich liegen auch die Anfänge der Bildung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung im Zeitalter der Aufklärung, auch wenn die institutionalisierten Erziehungsversuche zeitlich deutlich später als die der Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung erfolgten.


Johann Heinrich Pestalozzi

Im deutschsprachigen Raum war es Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), auch ein Kind der Aufklärung und anfänglicher Bewunderer seines Landsmannes Rousseau, der bis in die Gegenwart als Urvater einer Pädagogik gilt, die in Theorie und Praxis auch jene mit einschließt, die nicht zu den Musterbildern an Stärke, Schönheit und Klugheit gehören. Damit zählt Pestalozzi mit seiner Theorie der allgemeinen Menschenbildung zugleich zu den Mitbegründern der Heilpädagogik. Pestalozzis Erziehungsversuch auf dem Neuhof von 1777, wo er sich verwaister, verwahrloster und auch behinderter Kinder annahm, gibt davon Zeugnis. Ausgelöst durch die Enttäuschungen über die Schattenseiten der menschlichen Natur, wie sie im Laufe der französischen Revolution und der Revolutionskriege zutage traten, hat sich Pestalozzi später von dem optimistischen anthropologischen Grundmuster des Naturzustandes des Menschen eines Rousseau abgewandt. Hans Scheuerl schreibt:

„Lienhart undGertrud“

„In seinem Volksbuch ‚Lienhart und Gertrud‘ […] zeichnet Pestalozzi […] ein umfassenderes Bild des Menschen als Rousseau, ein Bild von den Menschen in ihren wirklichen Wechselbeziehungen, in denen zwischen Gut und Böse, Gelingen und Scheitern auch die Mitteltöne nicht fehlen; ein realistisches Gemälde sozialer und ökonomischer, moralischer und geistiger Zustände, wie er sie im Züricher Gebiet und von seinem Gut in Neuhof aus hatte studieren können.“ (1982, 116)

Pestalozzi schreibt in seinem Aufruf an die Gönner und Förderer seiner Armenerziehungsanstalt von 1777:

„Edle Menschenfreunde.

Sie haben vor einem Jahr den schwachen Anfang meiner Erziehungsanstalt für arme Kinder unterstützen wollen, und ich wende mich auch dis Jahr wieder an Sie, edle Gönner dieser Endzwecke. Noch ist der Erfolg und die ganze Sache klein – aber dennoch ist es Ihnen Freude, daß ich mit Wahrheit versichere, daß einige Jünglinge und Mädchen davon, die einen unfehlbar dem Bettel und allem ihn begleitenden Elend aufgeopfert, die ändern in der äussersten Vernachlässigung einer drückenden Hausarmuth geblieben wären – zu Arbeitern gezogen sind, die mir wirklich jetzo schon Hilfe und Freude sind.

Es zeichnen sich aus

Barbara Brunner von Esch Zürichbieth, voll Empfindung, Verstand und angreifender Thätigkeit. Nur fühlt es sich zu sehr in der niedern Claß des Dienstenlebens – und ist zu wenig sanft für ein Mädchen.

Franziska Hediger catholischer Religion ein achtsames bescheidens weitgefölgigers Mädchen – eine vortreffliche Magd im ganzen Sinn des Worts.

Leonze Hediger sein Bruder wird ein vorzüglich guter Weber werden – ein Knab voll Muth, Stärke und Wachsthum, kühn bis zur Frechheit aber doch gutherzig […]

Anna Vogt und Elisabeth Vogt von Mandach.

Diese 2 Geschwisterte sind im erbärmlichsten Landstreifferleben eines gänzlichen Müssiggangs gewohnt gewesen – und fast ohne Hofnung war es die Arbeit dreyer Jahre sie von dieser Unthätigkeit und der damit verknüpften Untreu und Dieberey zurück zubringen. Mit inniger Freude sehe ich die Dumheit des ältern, von der man sich keine Vorstellung machen kann, nach und nach entwickeln – und seine gänzliche Unempfindlichkeit – fangt an zu weichen; Empfindungen von sittlicher Freude und Dankbarkeit und Pflicht kommen in sein Herz, und die Folgen der tieffesten, ödesten, verworrensten Wildheit und des hartesten Elends fangen an sich zu schwächen […]

Noch muß ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Worts – so stark, daß ich keinen grössern Grad von Blödsinnigkeit bey eingesperrten Narren gesehen – Dabey hat es ein bewundernswürdiges musicalisches Gehör. Das zweyte voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armuth entkräftet krumzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen – Beyde diese Kinder verdienen ihr Brod, und gehen einem Leben entgegen in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind – Und es ist grosse tröstende Wahrheit, auch der aller Elendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freyheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, daß ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe – und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns – und cörperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben.“ (Pestalozzi 1927, 176ff)

der „Wilde von Aveyron“

Auch im Frankreich der Aufklärung gab es ein frühes Erziehungsexperiment, das von großer Bedeutung für die Entwicklung der „Geistigbehindertenpädagogik“ werden sollte: der Erziehungsversuch mit Victor, dem „Wilden von Aveyron“.


Jean Itard

Dieser fand im August 1800 Aufnahme in der Taubstummenanstalt von Paris, die nun unter der Leitung des Priesters Sicard stand und in der Jean Itard als leitender Arzt tätig war. Die Kunde über das Aufgreifen des „Wilden von Aveyron“ im Jahre 1799 drang auch nach Deutschland. 1800 erschien ein entsprechender Bericht in der Zeitschrift „Frankreich“, die im liberalen Altona von 1799 bis 1804 erschien – ein Beleg dafür, wie stark alles, was in Frankreich zur Zeit der Revolution geschah, in intellektuellen Kreisen in Deutschland Beachtung fand und wie dicht der internationale Diskurs zum Thema „Behinderung“ war. Die Pariser Korrespondenten übermittelten folgenden französischen Bericht:


„Wir haben diesen Knaben neulich in dem Garten von St. Magloire gesehn. Er scheint 12 bis 13 Jahre alt zu seyn. Er aß halbgekochte Bohnen, mit denen er eben so behend, wie ein Affe mit Nüssen umzugehn wußte. Er heftet seine Augen auf keinen Gegenstand; er mag nicht mit vielen Menschen seyn; sobald man ihm zu nahe kommt sucht er zu entfliehn. Man gab ihm ein Stück Zwieback; er warf es weg […] Er hat starke Narben am linken Arm; man sollte glauben die Stellen wären verbrannt. Wie es scheint hat man ihm den Hals abschneiden wollen, denn der Einschnitt des Messers ist noch sichtbar […]

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9783846387658
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