Kitabı oku: «Geschichte der Sonderpädagogik», sayfa 9
8. Alle im Schwachsinnigenunterrichte gesammelten Erfahrungen sind sorgfältig zu prüfen und zum Ausbau der Methode zu verwerten.“ (Kirmsse 1915b, 117; s. a. Lindmeier/Lindmeier 2002, 82ff u. 311f; Rohrmann 2013)
Maria Montessori
Aus heutiger Sicht interessant ist Kirmsses kritisch-ironischer Seitenhieb auf Maria Montessori, die durch den Psychiater Bourneville auf die Schriften Séguins in Paris gestoßen war, die sie zur Grundlage ihrer „neuen“ Pädagogik machte:
„Ihr vor kurzem erschienenes Werk [gemeint ist ‚Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. Nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Pädagogik dargestellt‘. Stuttgart 1913, E.-R.] hierüber beweist zur Genüge, daß ihren Ideen die Priorität abgeht. Denn das, was die Verfasserin fordert […] das Recht der Freiheit, d. h. der spontanen Entwicklung seiner geistigen und sittlichen Kräfte an der Hand einer zweckmäßigen Leitung ‚ist ein alter pädagogischer Grundsatz, den insbesondere Séguin für die Behandlung geistesschwacher Kinder originell erfaßt und festgelegt hat‘ […] Hoffentlich gelingt es der Dame, ihre Ergebnisse auch in wissenschaftlich einwandfreier Weise festzulegen, damit sie einen Beleg mehr bilden können für den Wert der Ideen Séguins. Denn es wäre dringend zu wünschen, daß dieser durch seine Nachahmer nicht mißkreditiert wird.“ (Kirmsse 1915b, 118f)

Edouard Séguin
Edouard Séguin (1812–1880), Sohn eines Mediziners, Lehrer an der Pariser Taubstummenanstalt, erhielt, wie bereits erwähnt, entscheidende Impulse durch den Mediziner Itard. Die Forschungen Pelliciers und Thuilliers (1996) belegen, dass Séguin sich in den 1830er Jahren zunehmend der Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung zuwandte und zusammen mit dem Mediziner Esquirol über die gemeinsamen Erziehungsversuche 1839 publizierte. Nach dem Tode seines Förderers Esquirol im Jahre 1840 eröffnete Séguin eine kleine Privatanstalt für Geistesschwache in der Rue Pigalle und erhielt seitens des Innenministeriums die Erlaubnis, seine Methode am „Hospice des Incurab-les“ zu erproben.
Aufgrund seiner erzielten Erfolge wird Séguin eingeladen, die Erziehungsarbeit mit geistig behinderten Menschen auch an der Anstalt Bicêtre aufzunehmen, die unter der Leitung des Mediziners Félix Voisin steht. Schon bald entstehen Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen den beiden Männern; Séguin weigert sich, Medizin zu studieren, und verlässt 1843 Bicêtre. Er eröffnet erneut eine kleine Privatanstalt, aber wenig ist bekannt über sein Leben zwischen den Jahren 1843 und 1850. Isoliert und verbittert über die fortwährenden Auseinandersetzungen mit Medizinern, veröffentlicht er sein Hauptwerk 1846, in dem er besondere Anstalten für Menschen mit geistiger Behinderung und zugleich eine enge Verbindung zwischen allgemeiner und spezieller Pädagogik fordert. Ohne Aussicht auf einen beruflichen Erfolg und im Widerspruch zur herrschenden politischen Restauration verlässt Séguin Frankreich 1850 und geht in die USA, wo sein Werk bereits bekannt ist und er mit offenen Armen empfangen wird.
Gründungen in den USA
Beeinflusst von den Entwicklungen auf dem alten Kontinent waren in den USA ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Bildungseinrichtungen für behinderte Menschen gegründet worden.
Gallaudet bei Braidwood und Sicard

Samuel G. Howe
So trat der Pfarrer Thomas Hopkins Gallaudet (1787–1851) aus Connecticut 1815 eine Reise nach Europa an, um sich zunächst in Schottland bei dem Enkel des erfolgreichen Gehörlosenlehrers Thomas Braidwood (1715–1806), der nahezu zeitgleich mit de l’Epée die erste Gehörlosenschule in Edinburgh gegründet hatte, in die Geheimnisse der Gehörlosenerziehung einweisen zu lassen. Da die politischen Beziehungen zwischen der abtrünnigen ehemaligen Kolonie und dem Mutterland England nicht zum Besten standen und Braidwood außerdem, wie Heinicke, seine Methode als Familiengeheimnis hütete, reiste Gallaudet weiter nach Frankreich. Dort wurde er bereitwillig von de l’Epées Nachfolger, dem Priester Sicard, in die „französische“ Methode des Taubstummenunterrichts eingeführt. 1816 kehrte Gallaudet mit einem Gehörlosenlehrer der Pariser Schule in die USA zurück, wo beide 1817 in Hartford/Connecticut mit dem Unterricht gehörloser Kinder begannen. In kurzem Abstand folgte die Gründung weiterer Schulen für gehörlose Kinder, so 1818 in New York, 1829 in Philadelphia und 1823 in Danville/Virginia.
Von hervorragender Bedeutung für die Heilpädagogik der USA war der Mediziner Samuel Gridley Howe (1801–1876) aus Boston, der nicht nur als Begründer des Blindenwesens in den USA gilt, sondern auch den Grundstein für das Erziehungswesen „Geistesschwacher“ legte. Howe hatte durch einen Freund von der Blindenanstalt Haüys erfahren und unternahm mehrjährige Reisen nach Europa (Frankreich, Deutschland und England). Howe, ein glühender Demokrat und Freiheitskämpfer, der am Unabhängigkeitskrieg der Griechen 1821 als Freiwilliger teilnahm, interessierte sich nach seiner Rückkehr in die USA für die Lage behinderter Menschen. In Boston gab es auf Betreiben des Mediziners John Fisher bereits eine Initiative, die die Schaffung einer Blindenanstalt nach dem Vorbild der von Haüy in Paris anstrebte. Howe wurde auf eine Informationsreise nach Europa geschickt, wo er verschiedene Blindenanstalten besuchte, nicht zuletzt die in Paris, wo er in Emile Tranchery, einem ehemaligen Schüler, einen zukünftigen Lehrer für die Blindenanstalt in Boston gewinnen konnte (Weygand 2003, 327).
erste Einrichtung für „Geistesschwache“
Howe, der auch ein Kämpfer für die Rechte der Schwarzen in den USA war, unternahm als Erster einen Erziehungsversuch mit einem taubblinden Mädchen (Jerusalem 1890, 70f), und angeregt durch seine Reisen zu Guggenbühl in die Schweiz und Séguin in Paris kam es 1848 in Verbindung mit dem Perkins Institut für Blinde zur Etablierung einer ersten Einrichtung für Geistesschwache, die bald die staatliche Anerkennung als „Massachusetts School for Idiotic and Feebleminded Youth“ erhielt.
Séguin in den USA
Séguin ist in den folgenden Jahren maßgeblich am weiteren Aufbau eines Erziehungswesens für Menschen mit geistiger Behinderung in den USA beteiligt. 1873 kehrt er noch einmal auf den alten Kontinent zurück, nun als amerikanischer Delegierter auf der Weltausstellung von Wien (Pellicier/Thuillier 1996).
Séguins Theorie
Séguin, in der philosophischen Tradition der französischen „Ideologen“ verankert, betont die Bedeutung der Willenserziehung und der Eigenaktivität für die Entwicklung eines jeden Menschen:
„Der generelle Plan der physiologischen Erziehung sah die Entwicklung der motorischen und sensorischen Fähigkeiten ebenso wie die der intellektuellen vor und suchte all diese Fähigkeiten dann abschließend, unter der Kontrolle des Willens, zu intellektuellen Kapazitäten zu machen. Dabei stand die Aktivität des Schülers im Zentrum aller pädagogischen Absichten, so auch in der intellektuellen Erziehung. Dadurch konnte letztlich die willentliche Aktivierung und somit das wichtigste Ziel aller Menschenbildung angestrebt werden.“ (Hofer-Sieber 2000, 268)
Ein kleiner Auszug aus der Originalschrift Séguins soll einen Eindruck von der ganzheitlichen und individuellen Vorgehensweise seiner Methode vermitteln:
„Nach dieser Methode ist Erziehung die Gesamtheit der Mittel zur harmonischen und wirksamen Entwicklung der moralischen, intellektuellen und physischen Fähigkeiten als Funktionen im Menschen und der Menschheit […]
Bevor wir jedoch weiter auf die Erziehung im allgemeinen eingehen, muß die Individualität der Kinder sichergestellt werden, denn die Rücksicht auf die Individualität ist das erste Zeugnis für die Eignung des Lehrers. Auf den ersten Blick sehen alle Kinder ganz gleich aus, beim zweiten erscheinen ihre zahllosen Verschiedenheiten wie unübersteigbare Hindernisse; bei besserem Hinsehen lösen sich diese Verschiedenheiten in leicht begreifliche und nicht unlenkbare Gruppen auf […]
Die allgemeine Erziehung umfaßt die Muskel-, Nachahmungs-, Nerven- und Reflexfunktionen, die jeden Augenblick in Bewegung gesetzt werden können. Das alles gehört zur Bewegung, wie Lokomotion und spezielle Bewegungen: Greifen, Handgriffe und Befühlen mit Kraft oder ausgesuchter Zartheit; Nachahmung und Mitteilung von Geist zu Geist durch Sprache, Zeichen und Symbole; all das muß gründlich behandelt werden. Dann wird von der Nachahmung das Zeichnen abgeleitet, vom Zeichnen das Schreiben, vom Schreiben das Lesen, das den ausgedehntesten Gebrauch der Stimme beim Sprechen, der Musik etc. in sich schließt. Die Sinne werden geschult, nicht nur ein jeder, um als solcher vollkommen zu sein, sondern ebenso, wie in gewissem Maße andere Organe an Stelle des Magens die Nahrung aufnehmen und ein Absonderungsorgan an Stelle eines anderen treten kann, so müssen die Sinne erzogen werden, daß, wenn der Gebrauch eines Sinnes verloren wird, ein anderer für ihn fühlen und wahrnehmen kann. Dieselbe Vorsorge ist für den Gebrauch beider Körperhälften zu treffen; die Linke muß tauglich gemacht werden, alles für die Rechte zu machen […]
Wenn unsere Sinne so weit als möglich entwickelt sind, so sind wir noch nicht in der Nähe der Grenzen ihrer Kapazität. Dann sind die künstlichen Sinne in Anspruch zu nehmen; die Behandlung des Kompasses, des Prismas, des naturwissenschaftlichsten unter ihnen, des Mikroskopes, und anderer muß den Kindern vertraut gemacht werden, die lernen sollen, die Natur durch sich selbst anstatt durch sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabetes zu sehen, und aufhören sollen, mechanisch auf Treu und Glauben anstatt durch Erfahrung zu lernen. Wirkliches Wissen kommt nur auf diese Weise zustande.“ (Séguin 1912, 45ff, zur Kontinuitätslinie zwischen der physiologischen Methode Séguins und dem Ansatz der „Basalen Stimulation“ s. Ackermann 2007)
Viszániks Bericht
Im Jahre 1843 bereiste der Arzt und Leiter der „Irrenheilanstalt zu Wien“, Michael Viszánik, verschiedene Irren- und Pflegeanstalten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, darunter auch Bicêtre und La Salpêtrière. Sein 1845 veröffentlichter Bericht ist eines der wenigen Zeugnisse über die Unterrichtsabteilungen in den beiden Anstalten. Einleitend erwähnt Viszánik alle drei französischen Anstalten, die sich klar nach sozialen Klassen unterschieden:
„Wenn ich von den mir bekannten Irrenanstalten Frankreichs spreche, so wollte ich dadurch jene von Charenton, Bicêtre und La Salpêtrière verstanden wissen, als die öffentlichen unter dem Gouvernement stehenden Irrenanstalten, wovon die erste für vermögende zahlende, und die beiden letzteren für arme Patienten bestimmt sind.“ (Viszánik 1845, 208)
Über Bicêtre lesen wir:
Bicêtre
„Zu den übrigen nennenswerthen Merkwürdigkeiten der Anstalt gehört eine eigene Abtheilung für Idioten-Kinder, welche erst mit ihrem dritten Lebensjahre aufgenommen werden. Bei meiner Anwesenheit zählte diese Abtheilung acht solche Idioten, welche in einer eigenen Schule einen wahrhaft zweckmäßigen Unterricht im Lesen und Schreiben erhalten. Diese Idioten unterscheiden sich von den Blödsinnigen durch ihre größere Capacität, durch ihre lebhafteren Augen, und den Mangel an Bosheit, welche man so häufig an Blödsinnigen wahrnimmt […] Ich erlaube mir hier […] einen Fall meiner öffentlichen Irrenpraxis in dem k. k. Irrenthurme zu Wien zum Beweis anzuführen, dass ich erstens die Nothwendigkeit einer eigenen Abtheilung für Kinder in einer Irrenanstalt, allwo dieselben einen geregelten eigenthümlichen Unterricht genießen sollten, schon längst einsah, und das zweitens ich die als von Geburt, oder von der ersten Kindheit an, für blödsinnig erklärten Kinder eines Unterrichtes für fähig erkläre.“ (Viszánik 1845, 210f)
Ähnliches schreibt Viszánik über die nur für weibliche Zöglinge eingerichtete Anstalt La Salpêtrière:
La Salpêtrière
„So wie jede Anstalt ihre Eigenthümlichkeiten hat, so fand ich hier eine eigene Schule, wo die Kranken Declamiren, Singen und Musik lernen. Bei mancher fand ich ein außerordentliches Gedächtnißs; denn es gab unter ihnen Individuen, welche durch eine halbe Stunde ohne Unterbrechung declamirten. Der Blödsinn ist hier selten, sehr häufig aber sind die Sinnestäuschungen. Zu der Zeit, als ich die Anstalt besuchte, war da selbst die Tochter des berühmten englischen Psychiaters Haslam, welcher eine Privat-Irrenanstalt in London hat.“ (Viszánik 1845, 218)
Internationalität des Diskurses
Nicht anders als in der Gehörlosen- und Blindenbildung ist auch in der Geistigbehindertenpädagogik der Diskurs durch seinen internationalen Charakter bestimmt. So erwähnte Séguin in seinem Hauptwerk von 1846 zwei weitere Vertreter namentlich, nämlich Guggenbühl aus der Schweiz und Saegert aus Berlin, deren Werke ebenfalls 1846 erschienen waren.
Der Satz Guggenbühls aus seinem „Hülfsruf aus den Alpen zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus“, der da lautet,

Hans Johann Guggenbühl
„der Mensch ist geboren zur Herrschaft über die Natur und auch der Cretin der mit dem menschlichen Aussehen die lebendige Seele verloren, und von Jedermann verlassen in dumpfen Kerkern, auf Misthaufen und in Viehställen sein elendes Dasein hinschleppt, wird sich wieder erheben auf die menschliche Bahn“ (Guggenbühl 1840; zit. nach Lindmeier/Lindmeier 2002, 27),
bezeugt nicht nur den Glauben an die Größe der menschlichen Natur sowie einen auf Veränderung angelegten pädagogischen Optimismus, sondern enthält zugleich die Aufforderung, jene, die schon ausgestoßen waren, wieder in die menschliche Gesellschaft zurückzuholen, da sie menschliches Antlitz tragen.
Verhütung des Cretinismus
Indem Guggenbühl die „Lebens- und Erziehungsweise“ als die entscheidende Ursache für das Entstehen des Cretinismus verantwortlich macht, weist er auf äußere Einflüsse und Bedingungen hin, die durch entsprechende gesellschafts- und bildungspolitische Maßnahmen zu beheben wären. Die Verhütung des Cretinismus ist vor allem ein „großartiges Culturwerk, welches alle Elemente der öffentlichen Gesundheitspflege und Volkserziehung in sich schließt“ (Guggenbühl 1904, 184). Damit verbinden sich pädagogischer Optimismus und sozialpolitischer Impetus.
Hans Johann Guggenbühl (1816–1863) hatte sich zweifellos zu viel vorgenommen, und er hatte zu viel versprochen, denn auch er konnte „wirklich Geistesschwache“ nicht wieder „normal“ machen, was ihm bekanntlich den Vorwurf der Scharlatanerie einbrachte und das Schimpfwort von der „Guggenbühlerei“ entstehen ließ. Séguin hatte in seiner Abhandlung zwar Guggenbühl und die Anstalt auf dem Abendberg erwähnt, aber die medizinischen Fachleute in Paris hegten ihm gegenüber deutliche Reserven. Als Guggenbühl 1857 seine Mitgliedschaft in der Société medico-psychologique von Paris beantragte, wurde eine Kommission aus drei Experten, unter ihnen Pinel, eingesetzt. Aufgrund der erstellten Gutachten, die den Verdacht der Unseriosität wiederholten und bekräftigten, wurde Guggenbühls Antrag nicht stattgegeben (Pellicier/Thuillier 1996, 460ff). Wohlwollend-kritisch urteilt Kirmsse:

„Für alle Zeit steht es jedenfalls fest, daß G. seine Versuche ehrlich meinte, daß er aber andererseits die Erfolge derselben überschätzte. Daß er absichtlich zu täuschen suchte, ist keineswegs bewiesen. Wohl aber ließ er es vielfach an der nötigen Sorgfalt fehlen.“ (1911b, 692f)

Carl-Wilhelm Saegert
Auch der Direktor der königlichen Taubstummenanstalt zu Berlin, Carl-Wilhelm Saegert (1809–1879), der sich seit 1842 mit der pädagogischen Förderung sogenannter blödsinniger Kinder theoretisch und praktisch beschäftigte, hatte Kenntnis von den Erziehungsversuchen Séguins und Guggenbühls. Er erwähnt beide in seinem zweiten Band von 1846 in einem Atemzug (Saegert 1845/46, 134), wobei er allerdings an anderer Stelle anmerkt, dass er die Anstalt Guggenbühls noch nicht besucht habe (Saegert 1845/46, 153). Da Kirmsse Saegerts „eminente Begabung für Sprachen“ hervorhebt (Enzyklopäd. Hdb. 1911a, Sp. 1347), kann es als sicher gelten, dass dieser die Schriften Séguins im Originaltext gelesen hat. Im Unterschied zu dem Mediziner Guggenbühl waren sowohl Séguin als auch Saegert Pädagogen, und zwar Taubstummenpädagogen – ein weiterer Hinweis darauf, dass die Geistigbehindertenpädagogik wichtige Impulse von der Taubstummenpädagogik empfing.
Der Titel des Buches von Saegert „Die Heilung des Blödsinns auf intellectuellem Wege“ und sein Inhalt atmen den aufklärerischen Geist eines geradezu überschäumenden Optimismus – ein Optimismus, der letztlich alle drei Pioniere der Geistigbehindertenpädagogik, Guggenbühl, Saegert und Séguin, einte und dessen Kritik nicht lange auf sich warten lassen sollte.
Gemeinsamkeiten: Séguin und Saegert
Unübersehbar weist die pädagogische Arbeit Saegerts viele Parallelen zu der von Séguin auf, denn sie war ebenfalls ganzheitlich angelegt, ging von der Schulung der Sinne und der körperlichen Funktionen aus, suchte auf vielfältige Weise die intellektuellen Fähigkeiten anzuregen und zu entwickeln, pflegte die Anschauung und die manuelle Arbeit und sah in der Überwindung der „sozialen Isolierung“ ihr oberstes Ziel. Saegert hat minutiös beschriebene, systematisch angelegte Erziehungsversuche niedergelegt, von denen einer hier auszugsweise vorgestellt werden soll:

„Christian
Geboren am 25. November 1836, auf Grund einer Zeitungsnachricht hierher gebracht und an den Geheimen Medicinalrath u. Dr. Barez adressirt, wurde
mir auf dessen Rath am 24. Juni 1844 in Behandlung gegeben.
Derselbe ist das jüngste von neun Geschwistern, kam durch glückliche Entbindung zur Welt und zeigte sich als ein gesundes kräftiges Kind. Fünf Wochen alt bekam er heftige Kopfkrämpfe, als deren Ursache der Arzt die Amme betrachtete und sie zu wechseln rieth. Die Krämpfe blieben jedoch und wurden stärker, als er ein Jahr alt war, insbesondere fiel er sehr leicht nach vorn über […]
Die geistige Entwickelung war während der Periode der Krämpfe zurückgeblieben, während er nach dem ersten Jahre laufen lernte aber leicht fiel. Sinn für Musik zeigte sich bei ihm sehr früh.
Seine häusliche Erziehung war bis jetzt sehr schwer; er war ohne alle Aufmerksamkeit, zerschlug Alles und nahm Alles zum Essen, was er irgend in die Hand bekam […]
Verlauf der Behandlung.
Da sich in körperlicher Beziehung durchaus keine Veranlassung zu ärztlicher Behandlung zeigte, so ist seine Entwickelung eine rein intellectuelle und pädagogische geworden. Der Stufengang derselben ist ganz naturgemäß nach dem Vorbilde der Natur an gesunden Kindern im Alter von etwa zwölf bis funfzehn Monaten angelegt worden und dem Verlaufe nach sind die Pensa nur zusammengedrängt, da die körperliche Entwickelung des Knaben jede vernünftige Anstrengung gestattete.
Derselbe zeigte in Betreff der Sinnesentwickelung eine auffallende Feinheit des Gehörs bei einem sehr lebendigen Interesse für Musik. Die Verbindung zwischen Gehörs- und Stimmorgan war bereits so gut entwickelt, daß er mit Leichtigkeit ganze Melodien nachsingen konnte; die Einwirkung der Musik war so lebhaft, daß er sich auf dem Stuhle am Klaviere hin und her bewegte, bei Tanzmusik in der Stube umhersprang […] Behufs seiner intellectuellen Entwickelung ließ sich daher am passendsten an das Gehör anknüpfen und er war mit Leichtigkeit stets in guter Laune zu erhalten.
Das Auge, obwol klar und rein, zeigte sich weniger entwickelt; die Farben unterschied er in keiner Weise […] Die Entwickelung des Farbensinnes wurde daher methodisch angebahnt und zu diesem Zwecke die weiter unten beschriebenen Apparate angefertigt. Das Gefühl für Schmerz, Kitzel, Hartes und Weiches, Festes, für Wärme und Kälte wurde sehr bald individualisirt; der Geruch schien besonders hervorzutreten, indem er jeden Gegenstand ohne Ausnahme beroch […] Ebenso verhielt sich der Geschmack. Dieser letztere Sinn, von welchem aus es in der Regel am ersten gelingt, den Begriff des Adäquaten und Unadäquaten anzubahnen, entwickelte sich bei ihm nach allen anderen und es hat sehr lange gedauert, ehe er das Maaß in Essen und Trinken fand; bei ihm legte sich dieser Begriff zunächst bei dem Gefühle des Unangenehmen und Angenehmen an. – Große Leichtigkeit im Nachahmen […] machte, daß er in der Articulation sehr rasch vortschritt […]
Der Hang, Alles in seinem Bereiche zu zerbrechen, zu zerschlagen etc. verlor sich sehr bald, während der gleichmäßig wiederkehrenden täglichen Beschäftigung mit gymnastischen und Articulationsübungen, musikalischer Anregung, Spazierengehen etc. und die unwillkürlichen Bewegungen mit Händen und Füßen traten nur dann ein, wenn ein plötzlicher Sinneseindruck seine Nerven aufregte, die in centrifugaler Richtung sich dann nicht grade auf ein Object wendeten. – Die fortschreitende Entwickelung des Muskelsystems durch gymnastische Uebungen hat in solchen Fällen zur Beseitigung dieser Zuckungen in Händen und Füßen stets die besten Dienste geleistet […]
Während der Knabe sich zu Johannis 1844 ohne alle Umstände von Mutter und Geschwistern trennte, war er sehr zärtlich gegen sie, als sie ihn gegen Ende September ej. a. wieder besuchten […]“ (Saegert 1845/46, 183ff)
Saegerts Privatanstalt
Wie groß das Interesse war, das Saegert mit seiner kleinen Privatanstalt in Berlin hervorrief, belegt ein ausführlicher Artikel in der populären „Illustrirten Zeitung“ von 1847, verfasst von einem gewissen Ferdinand Schmidt, der mit großer Anteilnahme und Präzision die erlebten Hospitationen nebst Abbildungen unter der Überschrift „Ein Besuch in der Saegert’schen Heilanstalt für Blödsinnige in Berlin“ beschrieb. Dieser Bericht ist aus verschiedenen Gründen aufschlussreich: Er dokumentiert den tatsächlichen Erfolg, den Saegert mit der Erziehung geistig behinderter Kinder erzielte; er vermittelt einen Einblick in die praktizierte ideenreiche pädagogische Arbeit; er betont ferner die Bedeutung einer gut ausgebildeten, engagierten und liebevollen Lehrerpersönlichkeit und betrachtet die Unterrichtung schwachbefähigter Kinder nicht als etwas Isoliertes, sondern als Teil der allgemeinen Elementarbildung.
Zeitungsbericht
„Man geleitete mich zuerst in die dritte Klasse. Es ist die Kinderstube. Die Ausbildung des Leiblichen ist hier Hauptzweck. Die Kinder lernen gehen, sitzen, laufen, selbst essen und trinken. Die Sorgfalt erstreckt sich hier auf die Verrichtungen des Körpers. Die Kinder lernen hier den Gehorsam, lernen Personen und Sachen von einander unterscheiden. Hier beginnt man die fünf Straßen – die äußern Sinne – zu üben, auf denen die Bilder und Eindrücke der Außenwelt zum Innern gelangen, um dort im engen Raume eine neue Welt zu erzeugen, die frei und unabhängig von jener ist. Diese Uebungen dauern ein Jahr. Hierauf kommt der Zögling in die zweite Klasse der Anstalt. Die fünf äußeren Sinne sind geweckt, der Zögling geht, steht, sitzt auf Befehl, er ahmt körperliche Bewegungen auf Nöthigung nach, aber – es fehlt die Sprache. Hier soll vorzüglich die Sprache entwickelt werden. Die Vorstellungen, welche die geweckten äußern Sinne in das Innere tragen, sollen erkannt, sollen unterschieden und benannt werden […]
Ist dies durchgearbeitet, so geht es ans Sprechen. Aber wie unbeschreiblich mühsam hier der Weg des Fortschritts sein muß, kann man daraus schließen, daß es ja Unglückliche gibt, aus denen keine Bemühungen der Väter, keine Liebe der Mütter […] auch nur ein Wörtchen, daß irgend ein Zeichen einer Wahrnehmung wäre, hervorgebracht hat […] Man staunt über die Größe der Aufgabe, die hier dem Lehrer gesteckt ist, aber man staunt noch mehr, wenn man sieht, mit welchen Erfolgen seine Bemühungen gekrönt sind. Ehe ich ein Weiteres über die erste Abtheilung dieser Klasse sage, sei es mir erlaubt, etwas über den Ordinarius der Klasse mitzutheilen, dessen Charakterisierung auf das ganze Heilverfahren ein helleres Licht werfen wird. Herr Päch, so heißt derselbe, hat etwa vor 10 Jahren das Seminar in Neuzelle verlassen und war bis vor einem halben Jahre Lehrer an einer Landschule im Oderbruche. In jedem Jahre sendet die Regierung eine Anzahl Lehrer der Provinz zu einem sechswöchigen Kursus in die Taubstummen-Anstalt des Dir. Saegert, um durch dieselben die Kenntniß des Taubstummenunterrichts über Stadt und Land zu verbreiten […]
Der Scharfblick des Directors erkannte bald in ihm den Mann, den er als Lehrer für die unterste Abtheilung der Blödsinnigen gebrauchen könnte. Päch besitzt ein außerordentliches mimisches Talent; große Lebendigkeit und eine fast nie betrübte Heiterkeit. Alles, was er spricht, wird unterstützt durch die lebhafte Gestikulation; Miene und Auge verdeutlichen jedes Wort und zwar in der ungezwungensten Weise. Mehr noch in seiner Persönlichkeit, als in der allerdings geistvollen Methode liegen die Ursachen der großen Erfolge, die in der ersten Abtheilung seiner Klasse nach halbjähriger Wirksamkeit sichtbar geworden sind […]
Die Schüler der dritten Abtheilung wurden uns zuerst vorgeführt, um ihre Lehr- und Schreibfertigkeit zu zeigen […] Noch immer treten mir eine Menge der erhaltenen Antworten vor die Seele. Sie waren gar zu schön und zu innig gesprochen, als daß ich sie bald vergessen könnte. So fragte der Lehrer einen etwa zehnjährigen Knaben: ‚In unserer Geschichte, lieber Fritz, heißt’s: Und der Schmetterling hatte das Veilchen so lieb, – das kann ich nicht gut verstehen, willst Du mir das wol erklären?‘ ‚O ja, das will ich Dir schon sagen‘, antwortete der liebe Kleine, ‚das ist: so recht gut sein, wie ich es dem Albert bin, und‘ – indem er sich nahe zum Ohr des Lehrers wandte – ‚ich gebe dem Albert so gern ein Stückchen ab.‘ – ‚Erde?‘ fragte der Lehrer. ‚Nein, nein, Du verstehst mich noch nicht, ein Stückchen Brot, oder Apfel, oder was ich zu essen habe, denn das hat der Albert so gerne; dann ist er mir so gut.‘“ (Schmidt 1847, 203)
Hubertusburg
In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war der Boden bereits gut vobereitet für eine erfolgreiche Erziehung auch geistig behinderter Personen, denn es gab sowohl theoretische Entwürfe als auch überzeugende praktische Beispiele. Es sollte jedoch anders kommen. Während der Staat für die Menschen mit Blind- und Taubheit die öffentliche Verantwortung im Grundsatz anerkannte und sie allmählich auch in die Tat umzusetzen suchte, nahm er im Fall der „Geistesschwachen“ eine merkwürdig unentschlossene Haltung ein. Zwar gründete der Staat Sachsen 1846 in Hubertusburg die erste staatliche „Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder“ auf deutschem Boden, aber dieses Beispiel blieb eine Ausnahme.
Julius Disselhoff
Als Julius Disselhoff (1827–1896), ein Pastor aus dem Rheinland und Vertreter der Inneren Mission, 1857 seinen Aufruf „Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern“ veröffentlichte, in dem er insbesondere die Situation in Preußen scharf geißelte, reagierte der preußische Staat. Allerdings nicht, wie viele erhofft hatten, durch Anerkennung und Übernahme der Aufgabe als staatliche Verpflichtung, sondern durch Delegation an die private Wohltätigkeit, vertreten vor allem durch die beiden christlichen Kirchen in Form von Innerer Mission und Caritas. In dem betreffenden Erlass des preußischen Kultusministeriums von 1859 heißt es:
„Nach den bisherigen Erfahrungen empfiehlt es sich, die Gründung derartiger Anstalten vorzugsweise der Privattätigkeit zu überlassen und die Mitwirkung der Provinzialstände sowie wohltätiger Vereine zu diesem Zwecke als Beihilfe eventuell zur Begründung von Freistellen in Anspruch zu nehmen.“ (Lindmeier/Lindmeier 2002, 216)
private Anstaltsgründungen
Während es bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige, meist private Anstalten für „Geistesschwache“ gab (etwa Saegert in Berlin sowie Georgens, Deinhardt und von Gayette in Liesing bei Wien), so löste die öffentliche Debatte um Erziehung und Pflege „Geistesschwacher“ ab den 1850er Jahren eine Welle von Anstaltsgründungen aus, die folgerichtig in privater Trägerschaft lagen (Sengelmann 1885, 135ff).
Die christlich geführten Anstalten verstanden sich zwar auch als Bildungseinrichtungen, aber sie verfochten kein grundsätzliches Bildungsrecht der betreffenden Personengruppe:
„Die Notwendigkeit, für die Erziehung und Bildung und/oder Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung zu sorgen, war anerkannt […] Ein Recht auf Bildung war aber nie für die gesamte Gruppe anerkannt worden.“ (Lindmeier/Lindmeier 2002, 139)
Diese für die weitere Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik bedeutsame Einschränkung des Bildungsanspruchs seitens der christlichen Erziehungsprogramme war begründet in dem konservativen Charakter kirchlicher Bildungspolitik, die auf der Seite „der restaurativen Tendenzen des Vormärz und der Reaktionszeit nach 1848“ stand (Jacobi 1998, 82).
Friedrich Kern
Die staatliche Abstinenz wurde aber noch bestärkt durch die Medizin, die sowohl in der theoretischen Debatte um Blödsinn, Idiotismus und Irrsinn als auch in der Frage der tonangebenden Profession im Rahmen der Institutionen an Boden gewann, den sie am Ende des Jahrhunderts unangefochten beherrschen sollte. So bezog sich der preußische Erlass von 1859 explizit auf die „Zeitschrift für Psychiatrie“, herausgegeben von H. P. Damerow, in der der ehemalige Taubstummenlehrer und Mediziner Karl Friedrich Kern (1814–1868), Leiter einer Privatanstalt für Schwachsinnige in Leipzig, dem Bildungsoptimismus eines Séguin, Guggenbühl und Saegert eine Absage erteilte.
Begriff Krankheit
Kern verneinte die angeblich versprochene Möglichkeit einer „Heilung“ des Blödsinns und leistete zugleich einer Medizinalisierung der Debatte um Bildung und Erziehung durch Verwendung des Krankheitsbegriffs Vorschub:
„Weiterhin aber ist es nicht möglich wirklich constatirten, auf Degeneration des Gehirns und seiner Hüllen beruhenden Blödsinn zu heilen, sondern die Aufgabe kann nur dahin gehen, den Zustand zu bessern […] ebenso ist gewiss viel gewonnen, wenn die Kranken durch eine zweckmäßige Pflege gegen tieferes Versinken geschützt werden. Wenn auch nicht als geheilt, so können doch Viele von diesen Unglücklichen noch soweit herangebildet werden, dass sie als nützliche Glieder im Familienkreis auftreten können.“ (Kern 1855, 569)
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