Kitabı oku: «SoulPassion», sayfa 2
Der Richter
Die nächste Marionette, die sich mir vorstellt, trägt eine tiefschwarze Robe mit einer übergroßen Kapuze. Ihre gesamte Gestalt wirkt groß und übermächtig. Bevor sie mir ihre Karte zum Lesen überreicht, gibt sie mir zu verstehen, dass ich mich vor ihr niederknien und meinen Blick senken soll. Ihre imposante, dunkle Erscheinung wirkt so furchteinflößend, dass ich ihrer Anweisung, ohne zu fragen, folge. Sie greift in ihre Robe, zieht ihre Karte hervor und wirft sie vor mir auf den Boden. Zögerlich lese ich, was dort geschrieben steht:
Künstlername: Richter
Ursprünglicher Name: Schuld
Genre: schwarzes Drama
Kleidungsstil: tiefschwarze Robe mit übergroßer Kapuze
Besonderes Merkmal: riesige Gestalt, ausgestreckter Zeigefinger, neunschwänzige Peitsche
Angst überfällt mich. Reicht es nicht, dass sich mir beim bloßen Anblick bereits die Nackenhaare sträuben? Braucht sie jetzt wirklich noch eine neunschwänzige Peitsche, um ihrer Macht Ausdruck zu verleihen? In mir verkrampft sich alles. Mit gesenktem Blick hebe ich die Karte vom Boden auf und reiche sie ihr mit zittrigen Händen. Aufzuschauen getraue ich mich nicht, so machtvoll und beängstigend ist ihre Erscheinung.
Meine unterwürfige Haltung scheint sie gnädiger zu stimmen. Sie lässt sich herab und reicht mir die Hand, um aufzustehen. Mit einer harschen Kopfbewegung fordert sie mich auf, ihr zu folgen. Ich versuche, mein Zittern unter Kontrolle zu halten, und folge ihr in gebührendem Abstand. Auf einer Lichtung inmitten eines dunklen Waldes bleibt sie stehen. Am Ende der Lichtung kann ich die verwitterten Reste einer uralten Kirche erkennen, in deren Mitte ein steinerner Altar aus grauer Vorzeit thront. Der Waldboden ist mit feuchten Blättern bedeckt. Es ist Herbst und erste Nebelschwaden ziehen auf. Ein eisiger Wind weht über die Lichtung, verfängt sich in meinen Haaren und beginnt, mit ihnen zu spielen. Mit einem düsteren Blick gibt mir die Marionette zu verstehen, dass ich hier stehen bleiben soll, während sie weitergeht und hinter dem Altar ihren Platz einnimmt. Die große, schwarze Kapuze ihrer Robe wirft Schatten auf ihr Gesicht, was sie noch furchteinflößender erscheinen lässt. Mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger zwingt sie mich, vor sie zu treten. Wie durch ein unsichtbares Band verbunden zieht sie mich näher und näher zu sich heran, bis ich direkt vor dem Altar zu stehen komme. Ihr durchdringender, stechender Blick findet seinen Weg in mein Innerstes und lässt mich erstarren. Ich sinke wieder auf die Knie und erst jetzt entdecke ich, dass sie in der anderen Hand eine neunschwänzige Peitsche hält. Vor Angst fange ich an zu beben. Mit erhobenem Zeigefinger, in der anderen Hand die neunschwänzige Peitsche haltend, donnert ihre mächtige Stimme auf mich herab: „Du bist schuld! Schuldig! Schuldig! Schuldig! Im Namen aller Völker, im Namen aller Götter – du bist schuldig!!“
Jedes „Schuldig!“ ein Peitschenhieb, bis ich zerfetzt und blutig am Boden liege. Klein und wertlos. Abfall, der des Wegtragens nicht wert ist.
Die Marionette tritt hinter dem Altar hervor, beugt sich zu mir nieder und fragt mich mit vor Sarkasmus tropfender Stimme, ob ich ihre Karte nochmals sehen möchte. Kopfschüttelnd lehne ich ihr Angebot ab. Ihre Vorstellung war einprägsam genug.
Ruhig bleibe ich liegen und warte, bis das Schauspiel an Kraft verliert. Das ist ja eindrucksvoller als ein Psychothriller. Die peitschenden Worte „Du bist schuldig!“, hallen in mir nach. „Ich bin schuldig! Ich bin schuldig!“ Immer wieder sage ich diese Worte zu mir, bis sie sich in Tränen auflösen. „Oh Gott, ich fühle mich so verdammt wertlos. Ich habe es nicht verdient zu leben – und schon gar nicht zu lachen oder gar zu lieben. Nimm mich einfach fort von hier!“ Als ich diese Worte laut zu mir selber spreche, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Deswegen kann ich also niemals wirklich frei lachen, tanzen und singen! Wer schuldig ist, darf das nicht! Erneut fließt ein Tränenstrom aus mir heraus. Mit tropfender und schniefender Nase frage ich mich, ob das Wirken der Schuld vielleicht auch der Grund sein kann, wieso ich immer Partner wähle, die mich mit Nichtachtung strafen, mich schlagen oder betrügen? Das wäre verrückt. Doch, wieso heißt es denn „Schulden machen“ und nicht einfach „Leihgabe“? Es wäre doch möglich, dass dieses Schuldgefühl in mir dafür sorgt, dass ich in meinem Alltag nicht vergesse, wie unwürdig ich bin. Wenn ich mich tief in mir drin so schuldig fühle, habe ich es doch nicht anders verdient. Wenn ich mich selbst als wertlos, als Abfall empfinde, wie kann ich dann etwas Gutes, Wahres und Schönes überhaupt annehmen? Vielleicht habe ich deswegen die Männer, die mich wirklich auf Händen getragen hätten, abgelehnt und immer wieder Schulden gemacht, wenn ich kurzzeitig „frei von Schulden“ war. War die Schuld eventuell auch für meinen Perfektionsanspruch, den ich an meine Kinder und mich stellte, verantwortlich?
Oh, Himmel hilf! Wie soll ich mich denn unschuldig fühlen, wenn ich doch so viel Schuld auf mich geladen habe? Ich bin schuld daran, dass die Ehe meiner Eltern auseinanderging, dass meine Schwester in ihrer Kindheit so lange Zeit auf ihre Mutter verzichten musste und hin- und hergeschoben wurde, vielleicht war das Miterleben des Unfalles und die Zeit danach auch der Grund für ihren frühen Tod. Ich trage Schuld daran, dass meine Mutter begann, ihr Heil im Alkohol zu suchen. Schuldig fühle ich mich auch, weil ich meine Tochter und später auch meinen Sohn so früh in die Tagesbetreuung abgab, um wieder arbeiten zu gehen – und noch so viele andere Dinge.
Während ich mich an all die Situationen und Erlebnisse erinnere, erkenne ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Marionetten „der Richter“ und „Madame Eva“. Sie scheinen miteinander zusammenzuhängen, nur, dass das Wirken der Schuld sich auf einzelne Personen bezieht und die Scham dafür sorgt, dass ich aus der Allgemeinheit ausgestoßen werde, wenn all meine Verfehlungen ans Tageslicht kommen. Wie verworren das ist – und doch habe ich den Eindruck, dass sich in mir etwas zu klären beginnt. Mir fällt ein Satz ein, den Jesus gesagt haben soll: „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ Es tut gut, sich zu erinnern, dass Schuld bereits vor Tausenden von Jahren ein Thema war und ich nicht die Erste bin, die sich damit rumschlägt, auch wenn mir dieses Wissen jetzt nicht hilft, mich unschuldig zu fühlen.
Langsam werde ich ruhig. Ich stehe auf und hole mir etwas zu trinken. Während ich in die Küche gehe, werfe ich im Vorübergehen einen Blick in den Flurspiegel. Vom Weinen gerötete Augen, die Haare zerzaust – nur gut, dass ich heute keinen Besuch mehr erwarte. Mit einer Tasse Tee bewaffnet begebe ich mich wieder ins Wohnzimmer. Soll ich mir die nächste Marionette anschauen oder reicht es für heute? Ich mache weiter, wer weiß, was morgen ist, und ausschlafen kann ich auch. Langsam trinke ich meinen Tee. Die Wärme fühlt sich gut an. Eingekuschelt in meiner Decke bin ich bereit, der nächsten Marionette meines eindrucksvollen Marionettentheaters gegenüberzutreten.
Die Eisprinzessin
Eine kühle Schönheit in einem eisblauen Prinzessinnenkleid erwartet mich bereits. Ihre tiefschwarzen, langen Haare hat sie streng nach hinten geflochten. Huldvoll und distanziert zieht sie ihre Karte aus ihrem Kleid und reicht sie mir. Mit gebührender Hochachtung lese ich, was auf der Karte steht:
Künstlername: Eisprinzessin
Ursprünglicher Name: Stolz
Genre: Tragikomödie
Kleidungsstil: eisblaues Prinzessinnenkleid
Besonderes Merkmal: hoch zu Ross, distanziert, arrogant
Als ich einen Schritt auf sie zugehe, um ihr die Karte zurückzugeben, weicht sie erschrocken zurück. Vielleicht hat sie Bedenken, dass ich ihr prachtvolles Prinzessinnenkleid beschmutze. Sie weiß sicher, was ich mit Madame Eva und dem Richter erlebt habe. Geziert streckt sie mir ihre Hand entgegen und ich lege ihre Karte hinein. Ohne ein Wort oder eine Geste, die mich erkennen lässt, was sie vorhat, verlässt sie die Bühne. Ich schaue mich ein wenig um und entdecke eine Bank. Wenn ich schon warten muss, kann ich dies auch auf bequeme Weise tun. Auf der Bank sitzend schaue ich mir das Bühnenbild der Eisprinzessin genauer an. Sie hat sich eine bezaubernde Winterlandschaft ausgesucht. Ich sehe glitzernden Schnee, Eiszapfen, die von Bäumen hängen, Kinder, mit ihren Schlitten fahrend, Hunde, die im Schnee tollen, spazierende Menschen, welche die kühle, frische Luft genießen, warm eingemummelt und mit dampfendem Atem. Etwas verloren schaue ich dem bunten Treiben zu. Nur zu gerne würde ich mitmachen, anstatt einsam und alleine hier auf der Bank zu sitzen. Von hinten dringt leises Hufgeklapper an mein Ohr. Ich drehe mich um. Ein edles, weiß schimmerndes Ross, auf dessen Rücken die schöne Eisprinzessin in ihrem eisblauen Kleid sitzt, reitet auf mich zu. Einen eleganten Bogen um die Bank schlagend kommt sie mit ihrem Pferd vor mir zum Stehen. Kühl und herablassend schaut sie mich an, während sie mir ihre Hand reicht. Ich ergreife sie und ihre Berührung lässt mich erzittern: Sie ist eisig kalt und hart wie Stahl. Ich spüre, wie sich ihre Kälte über meine Finger in meinem gesamten Körper ausbreitet. Sie zieht mich hinter sich auf den Rücken ihres Rosses und reitet mit mir in die weite Winterlandschaft. Über ihre Schulter schauend erkenne ich in der Ferne ein Schloss aus glitzernden, funkelnden Eiskristallen. Wunderschön anzuschauen und doch so kalt. Als wir am Schloss ankommen, fordert sie mich auf abzusteigen. Sie steigt nach mir ab und stolziert Richtung Tor. Ich folge ihr. Mein Blick geht nach oben zum Torbogen. Messerscharfe Eiszapfen hängen herab und ich spüre die kühle Bedrohung, die von ihnen ausgeht, als wir hindurchschreiten. Angekommen im Schlosshof fordert mich die Eisprinzessin auf, ihr ins Innere zu folgen. Ich trete ein und ein kühler Hauch von Einsamkeit streift mein Herz. Die Eisprinzessin öffnet die Tür zu einem Raum, der nur aus einem einzigen, glänzenden Spiegel besteht. Sie nimmt mich mit in die Mitte des Raumes und stellt mich auf ein Podest aus Eis. Das Podest beginnt sich zu drehen und ich spüre, wie jede Zelle meines Körpers zu Eis erstarrt. Mein Herz pocht und ich sehe im Spiegel, wie sein leuchtendes Rot sich in kristallklares Blau verwandelt und es zu Eis erstarrt. Als das Eispodest sein Werk vollendet hat, kommt die Eisprinzessin auf mich zu und dreht eine Pirouette. Dann zeigt sie auf mich. Mich um mich selbst drehend bewundert sie ihr Meisterwerk. Immer schneller und schneller drehe ich mich um meine eigene Achse, bis ein klirrendes Lachen erklingt. Ich blicke in den Spiegel: Eine Rüstung aus stahlhartem, glitzerndem Eis und ein kristallharter Blick treffen sich im eisig kalten Niemandsland.
Zufrieden mit ihrem Werk gibt sie mir ein Zeichen, vom Podest zu steigen. Sie kommt auf mich zu, stellt sich vor mich hin, zieht erneut ihre Karte hervor und streckt sie mir huldvoll und mit stolzem Blick entgegen. Sie ist sich sicher, dass ich sie nicht vergessen werde.
Das Aufwachen aus dem Bühnenschauspiel der Eisprinzessin fällt mir schwer. Mir ist wirklich kalt geworden und ich drehe die Heizung hoch. Brrrrr, was für ein kaltes und einsames Leben! Was wollte sie mir damit zeigen? Stolz auf etwas zu sein, was ich erreicht habe, oder der Stolz auf meine Kinder, ist daran etwas nicht in Ordnung? So ganz verstehe ich ihren Auftritt nicht. Noch am nachdenklichen Erkunden der Botschaft klingelt das Telefon. Mein Vater ist am anderen Ende und versucht mich auf seine sanfte Art zu überzeugen, einen Schritt auf meine Mutter zuzugehen, mit der ich bereits seit Wochen keinen Kontakt habe. Wir hatten uns wieder einmal gestritten und ich sehe überhaupt nicht ein, wieso ICH jetzt wieder den ersten Schritt machen soll. Sie war jetzt mal dran! Ende der Diskussion. Mein Vater hört schweigend zu und sagt dann mit seiner ruhigen Stimme: „Silke, leg doch mal deinen Stolz beiseite und betrachte die Situation noch einmal neu.“ „Nein, das werde ich nicht. Ich habe keine Lust ihr jedes Mal hinterherzurennen und immer den ersten Schritt zu machen!“, antworte ich. Wir beenden unser Gespräch und in dem Moment, als ich den Hörer auf die Station zurücklege, stutze ich: Was hatte er gesagt? Leg deinen Stolz beiseite? Wie kommt er denn auf so was? Ist das etwa Stolz, wenn alle Fakten für mich sprechen und ich mich deswegen weigere, einen Schritt auf sie zuzugehen? Gelinde ausgedrückt bin ich gerade etwas verwirrt. Mir schwirrt der Satz durch den Kopf: „Dabei wird dir schon kein Zacken aus der Krone brechen“ und ich sehe die Eisprinzessin vor meinem inneren Auge auftauchen, die einsam in ihrem kühlen, schönen Schloss lebt. In mir tauchen Bilder auf, die mich daran erinnern, dass ich mich auch schwertat, nach einem Konflikt auf meine Tochter zuzugehen, wenn ich der Ansicht war, dass es an ihr war, den ersten Schritt zu machen. Dann kann es Tage dauern, bis wir wieder miteinander sprechen. „Falscher Stolz“, schießt es durch meinen Kopf. Ja, anscheinend gibt es wirklich so etwas wie „richtigen“ und „falschen“ Stolz. Falscher Stolz scheint eher etwas zu sein, was mit Angst zu tun hat. Angst, etwas zu verlieren vielleicht. Nur was? Was würde ich verlieren, wenn ich auf meine Mutter zuginge? Meinen Stolz. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Was geschieht, wenn ich meinen Stolz aufgebe? Ich werde verletzt. Der Eispanzer ist mein Schutz vor Verletzungen. Dann muss ich ihn behalten. Nicht nur, weil meine Mutter die Macht hat, mich mit ihren Worten zu verletzen, sondern auch, weil das Leben immer wieder die Gefahr birgt, verletzt zu werden. So betrachtet ist der „falsche“ Stolz doch gut, oder nicht? Ich bin verwirrt. Wenn ich diesen Schutz loslasse, ist das so, als wenn ich mich sehenden Auges auf ein Nagelbrett fallen lassen. Da ich kein Fakir bin, werden sich die Nägel in meinen Körper bohren und mich schwer verletzen. Nein, nein, das mache ich auf keinen Fall. Wenn ich zwischen Eispalast und Verletzungen wählen muss, dann entscheide ich mich für den Eispalast. Der tut wenigsten nicht so weh.
Ich beschließe, dass es für heute genug mit meinen Besuchen im Marionettentheater ist, und gehe ins Bett. Einfach nur schlafen, das ist alles, was ich im Moment noch möchte.
Eine tiefe, traumlose Nacht hat dafür gesorgt, dass ich am nächsten Tag entspannt aufwache. Heute habe ich den ganzen Tag Zeit, mich meinen Marionetten zu widmen. Auch wenn die Erlebnisse mit den ersten drei Marionetten aufwühlend waren, so freue ich mich doch auf weitere Begegnungen. Ihre Aufführungen sind spannend und passen zu meinen Erlebnissen, sogar dann, wenn ich ihre Botschaften noch nicht vollkommen begreife.
Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, mache ich es mir wieder auf meiner Couch gemütlich. Ich muss schmunzeln. Wenn jemand wüsste, wie ich mein Wochenende verbringe, würde ich wahrscheinlich für verrückt erklärt werden. Mit einem Grinsen auf den Wangen und gespannt, wen ich als Nächstes kennenlerne, schließe ich meine Augen und stelle mir mein Marionettentheater vor.
Der Narr
Als ich die Bühne betrete, wechselt die Bühnenleinwand ihr Bild. Vor meinen Augen erscheint ein türkisches Bad in blauen und türkisfarbenen Fliesen. Treppen aus Mosaiksteinen, von goldenen Handläufen gesäumt führen ins Wasser. Die Kuppel des Bades ist aus Glas. Sie fängt das Sonnenlicht ein und zaubert Lichtspiele an die Wände und den Boden. Das Klingen von näher kommenden Schellen dringt zu mir hindurch. Ihre Karte schwungvoll vor sich herschwenkend kommt eine kunterbunt gekleidete Marionette mit einer Narrenkappe auf dem Kopf auf mich zu. Neugierig versuche ich, nach der Karte zu greifen, doch geschwind springt sie mit einem breiten Grinsen davon. Noch im Sprung wirft sie mir die Karte zwinkernd zu. Etwas unsicher, ob ich sie mir jetzt anschauen darf, beginne ich zu lesen:
Künstlername: Narr
Ursprünglicher Name: Neid
Genre: Satire
Kleidungsstil: kunterbunt, Narrenkappe
Besonderes Merkmal: klingende Schellen
Die Marionette kommt wieder auf mich zu, nimmt ihre Karte an sich und steckt sie unter ihre Kappe. Sie dreht sich um und bittet mich mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Ihren betörenden, klingenden Schellen folgend finde ich mich alsbald im Wasser treibend wieder. Umgeben von marmorner und goldener Schönheit bade ich genussvoll in warmem flüssigem Gold. Die klingenden Schellen entführen mich in eine Welt, in der ich all das habe, um das ich andere Menschen beneide: unermesslichen Reichtum, Anerkennung, Erfolg, Schmuck und Edelsteine, eine Jacht, unzählige Autos, Kleidung von Prada und Gucci, eine Villa am Strand … Eingesponnen in meinem Traum schießt plötzlich eine pechschwarze, nach Teer stinkende Hand aus dem flüssigen Gold, greift nach mir und zieht mich unter die Wasseroberfläche. Das wohlig warme Gold verwandelt sich in eine gelbe, übel riechende, eklige, blubbernde Masse. Ich sinke tiefer und tiefer. Gelbes Gift strömt in meinen Körper und ich sinke auf den Beckenboden. Wie aus weiter Ferne dringen das Lachen und klingende Schellen zu mir herunter. Langsam verebben die Geräusche und das Gelächter verstummt. Gift und Galle spuckend tauche ich wieder auf. Das wundervolle türkische Bad hat sich in einen leeren, öden Raum verwandelt. In der Ferne sehe ich die entschwindende Silhouette der tanzenden Marionette. Als Souvenir hat sie mir eine Kopie ihrer Karte dagelassen. Ich nehme sie in die Hand und schaue sie mir nochmals genauer an. Auf der Vorderseite sehe ich das türkische Bad abgebildet, ich drehe die Karte um und erblicke das Bild eines lachenden Narren in einem öden und leeren Raum.
Ich öffne meine Augen. Das wohlig warme, goldene Wasser war so schön und all die Reichtümer erst, doch der öde, leere Raum gefiel mir gar nicht. Aus welchem Grund hat die Marionette sich für den Namen „der Narr“ mit dem Ursprung Neid entschieden? Viel schöner wäre doch der Name „Wunsch“ oder „Traum“ und als Ursprungsname „fliegende Fantasie“! Ja, das hätte mir viel besser gefallen. Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich über die Botschaft nicht weiter nachdenken. Ihre Wirkung im Alltag ist mir nur zu bekannt. Das sind die Situationen, in denen ich entweder den Erfolg eines anderen Menschen infrage stelle, mich freundlich herablassend über diesen Menschen äußere oder vor Wut die Decke hochgehen könnte, weil dieser Mensch etwas vor mir erreicht hat. Ein wirklich unangenehmes Gefühl. Neid bewirkt, dass ich Menschen nicht mehr in die Augen schauen kann. Und wenn ich es ganz genau betrachte, dann sehe ich doch hinter dem lachenden Narren Madame Eva mit ihrer filigranen Maske hervorblitzen. Was für eine Überraschung! Da scheint ja ein Zusammenhang zwischen einigen Marionetten zu bestehen, der mir genauso wenig bewusst ist wie das Wirken jeder einzelnen Marionette in meinem Alltag. Es scheint Sinn zu machen, mir die nächsten Künstler anzuschauen, bevor ich beginne darüber nachzudenken, was ich mit ihren Botschaften anfange. Vielleicht gibt es mehr Zusammenhänge, als ich mir im Moment vorstellen kann.
Erneut schließe ich meine Augen und tauche in meine innere Welt ein. Mit jedem Mal gelingt es mir ein wenig schneller, fast so, als müsste ich aufholen, was ich all die Jahre zuvor versäumt habe. Sanft lande ich auf der Bühne …
Der Harlekin
Über mir höre ich ein Geräusch. Ich schaue nach oben und sehe, wie eine Marionette auf mich zuschwebt. Sie trägt ein mit Flicken übersätes buntes Kostüm. Eine lustige Kappe ziert ihren Kopf und ein brauner Gürtel ihren Bauch. Einladend streckt sie mir ihre Karte entgegen, als sie sanft neben mir landet:
Künstlername: Harlekin
Ursprünglicher Name: Zweifel
Genre: Science-Fiction
Kleidungsstil: mit Flicken übersätes Kostüm, Augenmaske, Kappe, Gürtel
Besonderes Merkmal: wechselnde Szenerien und Rollen, kann in jeder Welt erscheinen
Während des Lesens fällt mir ein, dass der Harlekin die Fähigkeit besitzt, sich zwischen den Welten zu bewegen. Er nimmt nichts ernst und übertreibt in seinen Darstellungen oft maßlos. Aufgrund seiner fröhlichen Natur wird er oft als Spaßmacher bezeichnet. Gespannt auf die Aufführung der Marionette reiche ich ihr ihre Karte zurück. Pfeifend steckt sie diese wieder ein und bittet mich, ihr zu folgen. Sie führt mich auf eine Art Spielfeld, welches sie auf einer altehrwürdigen Gedenkstätte für mich erschaffen hat. Diese Gedenkstätte wurde zu Ehren des Philosophen René Descartes errichtet. Über dem Eingang der Gedenkstätte kann jeder Besucher den ersten Grundsatz „Ich denke, also bin ich“ dieses großen Philosophen lesen. In Stein gemeißelt wurde er für die Ewigkeit festgehalten. Berührt, da mir einfällt, dass seine Schriften nach seinem Tod im 16. Jahrhundert vom Heiligen Stuhl verboten worden waren, folge ich der Harlekin-Marionette auf ihr geschichtsträchtiges Spielfeld. Beeindruckt schaue ich mich um, doch ist mir nicht ersichtlich, was ich hier erleben soll. Die Marionette schaut mich belustigt an und blickt dann nach oben. Ich folge ihrem Blick und sehe, dass sich das Feld trichterförmig gen Himmel öffnet. Weit oben hängen unzählige Körbe, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den heutigen Basketballkörben aufweisen. Seltsam, doch noch mehr irritiert mich, dass die Körbe sich wie von selbst zu vervielfältigen scheinen und in immer schnellerem Rhythmus ihre Plätze tauschen. Es sind so viele Körbe, dass ich den Himmel kaum noch sehen kann. Bevor ich mich in diesem verwirrenden Bild verliere, werde ich von hinten gepackt und in die Höhe geworfen. Erstaunt blicke ich nach unten. „Die Körbe werden dir die Antworten auf deine Fragen geben. Jeder Korb enthält eine Antwort für dich“, ruft mir die Marionette begeistert zu und kugelt sich dabei vor Lachen auf dem Boden, während ich weiter hinauf zu den Körben fliege und im ersten Korb lande. Kaum im Korb angekommen, falle ich aus der unteren Öffnung des Korbes wieder heraus und werde in den nächsten Korb katapultiert. Immer weiter und weiter. Von einem Korb in den anderen. Antworten über Antworten prasseln auf mich ein. Keine hält sich länger als ein paar Sekunden, bevor die nächste auftaucht. Meine Gedanken rennen im Kreis, meine Emotionen überschlagen sich, eine Nebelwand breitet sich aus. Kein Durchdringen. Ich sehe weder die Körbe noch höre ich die Antworten. Mir wird schwindelig. Ich beginne zu fallen. Immer tiefer, immer schneller. Mein Körper schlägt unsanft auf dem Spielfeld auf – und neben mir die als Harlekin verkleidete Marionette, der jetzt vor Lachen dicke Tränen übers Gesicht strömen. Vor lauter Lachen kein Wort über ihre Lippen bringend zieht sie ihre Karte aus der Innentasche ihres Kostüms und klebt sie mir auf die Stirn, was sie veranlasst, noch stärker zu lachen. Ich nehme die Karte von meiner Stirn, reiche sie ihr und verlasse trotzig das Spielfeld. Die Harlekin-Marionette lasse ich lachend dort liegen. Als Weltenwandler wird sie ihren Weg zurück sicher auch ohne mich finden.
Aufgebracht öffne ich meine Augen. Wie kann diese Marionette so ein Spiel mit mir spielen?! Als ob ich mir all die Antworten in der kurzen Zeit hätte merken können! Und dann der unsanfte Aufprall auf der Erde! Der hat sie ja wohl nicht mehr alle! Ich nehme jetzt ein Bad zur Beruhigung. Im warmen, schaumigen Wasser komme ich langsam zur Ruhe und die Botschaft seines Spiels dringt zu mir durch. Eine gute Freundin sagte einmal zu mir, dass es sie immer wieder erstaunt, in welcher Geschwindigkeit ich es schaffe, aufgrund einer einzigen fehlenden Antwort mein gesamtes Leben infrage zu stellen, und verzweifelt nach neuen Antworten suche. War Zweifel die treibende Kraft dahinter? Es kann ja fast nicht anders sein. Die Analogie zum Satz meiner Freundin war unübersehbar. Ich suche nach weiteren Situationen in meinem Alltag, an denen ich die Wirkung erkennen kann. Im Grunde sind es stets die Situationen, in denen ich nicht erkenne, ob etwas wahr oder richtig für mich ist, Momente, in denen mein Gefühl etwas anderes sagt als mein Verstand. Dann beginne ich nach Antworten zu suchen, indem ich mit anderen Menschen darüber spreche und mir ihre Meinung einhole oder etwas dazu lese. Ich sammle so viele Antworten, dass ich wirklich den Eindruck habe, in einer dichten Nebelbank gefangen zu sein, aus der ich keinen Ausweg mehr finde. Wenn sich die Nebelbank wieder lichtet, fühle ich mich jedes Mal, als erwachte ich unsanft aus einem Albtraum. So gesehen war das Spiel des Harlekins doch nicht weit hergeholt. Mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen steige ich aus der Badewanne, trockne mich ab und kleide mich an. Ich bin bereit, der nächsten Marionette zu begegnen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.