Kitabı oku: «Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer», sayfa 10

Yazı tipi:

Val Calanca und Misox: ökonomische Eigeninteressen als Existenzgrundlage

Dass ökonomische Existenzprobleme zumindest in einigen Gemeinden dieser beiden Täler – die notabene bereits das Niederlassungsgesetz verworfen hatten – eine unmittelbare Rolle gespielt haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Belegt wird dies zum einen durch die Inventare, wie sie in der Val Calanca für Arvigo, Buseno, Cauco, Rossa, im Misox für Mesocco und Verdabbio aufgestellt wurden. Anders als in Chur, wo der überwiegende Teil der Gemeindebürger zur städtischen Mittel- und Oberschicht gehörte, kann hier ein gewisser wirtschaftlicher Problemdruck, dem diese Gemeinden zweifelsohne ausgesetzt waren, vorausgesetzt werden. Die Vermögensabgrenzungen erscheinen hier als Mittel, die ökonomische Existenzgrundlage zu sichern.

Die Wirtschaft beider Täler basierte überwiegend auf Vieh- und Alpwirtschaft. In der ganzen Region wurde zudem der Wald bis in die 1860er-Jahre überintensiv genutzt.208 In der Val Calanca wurden Alpen, Weiden und Wälder bis 1866 periodisch auf die elf Gemeinden des Tales verlost. Nach der Aufteilung dieser Güter auf die Gemeinden kam es zu Streitigkeiten, was die Sensibilität der Gemeindebürger für diese Güter zusätzlich verstärkt haben dürfte.209 Ökonomische Ängste haben demnach in beiden Tälern wohl dazu geführt, dass man den Wald und die Alpen als korporativen Besitz ausgeschieden hat. Mit ihren Inventaren, dem Bürgerrat und der Bürgerversammlung machten die erwähnten Gemeinden aus dieser Region deutlich, dass nicht nur die Bürgerlöser und der Armenfonds, sondern auch das Nutzungsvermögen im Besitz einer eigenen Institution blieb, die sich selbst verwaltete.

Gegebenenfalls mögen recht hohe Anteile Niedergelassener diese ökonomischen Überlegungen gefördert haben. Mesocco hatte eine Bürgerquote von 73 Prozent, in Verdabbio waren 61 Prozent der Einwohner Gemeindebürger.210 Auch die abgelegene, an das Misox anschliessende Val Calanca hatte nur zum Teil sehr hohe Bürgerquoten. In Buseno waren es 91 Prozent, in Rossa 77 Prozent, in Cauco 74 Prozent und in Arvigo 57 Prozent.211

Die katholische Surselva und das katholische Mittelbünden: Werte «von der Kanzel herunter»

Daneben gab es Regionen wie die katholisch-rätoromanischsprachige Surselva (vor allem die Kreise Disentis, Rueun und Lumnezia, teilweise der Kreis Ilanz), ferner das katholisch-rätoromanischsprachige Mittelbünden (Kreis Surses und Teile der Kreise Alvaschein und Belfort), in denen bis zum Ersten Weltkrieg keine Bürgergemeinden gegründet wurden. Einerseits könnte das darauf zurückzuführen sein, dass Regionen, die wie der Kreis Disentis im Jahre 1880 noch 92 Prozent Gemeindebürger aufwiesen,212 in keinster Weise einen Problemdruck zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen gespürt haben. Andererseits waren diese Regionen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark agrarisch geprägt213 – das Bedürfnis, das Eigentum am Nutzungsvermögen von den Niedergelassenen zu trennen, wäre analog zur Val Calanca oder zum Misox auch im katholischen Nordwest- und Mittelbünden denkbar gewesen.

Im Gegensatz zu den katholisch-italienischen Tälern Misox und Calanca ist die politische Kultur des katholisch-rätoromanischen Teils Graubündens gut erforscht. Es scheint deshalb lohnenswert, für diese Regionen einige Unterschiede zur bürgerlichen politischen Kultur aufzuzeigen, wie sie in Umrissen für die Stadt Chur bereits beschrieben wurde. Damit kann zum einen ein erster Erklärungsansatz als Antwort auf die Frage geliefert werden, warum sich in den katholisch-rätoromanischen Gemeinden der Surselva und Mittelbündens zumindest bis zur Jahrhundertwende kein Gemeindedualismus herausgebildet hat. Zum anderen geht es im Folgenden aber auch darum, die der Annahme des Niederlassungsgesetzes zugrundeliegende Deutungskultur aufzuzeigen.

Anders als in den reformierten Regionen Graubündens war die Verzahnung von Staat und Kirche vor allem in den ehemaligen Gerichtsgemeinden der oberen und mittleren Surselva, namentlich in den heutigen Kreisen Disentis und Rueun, nie ganz gelöst worden (siehe Kapitel 2.1). Auffällig ist auch, dass sich in der Frühen Neuzeit in der katholischen Surselva ein nachbarschaftlicher Kommunalismus, der sich etwa durch die vermehrte Übernahme gerichtlicher Kompetenzen auf lokaler Ebene auszeichnete, nicht herausgebildet hat. Damit einher geht der Befund, dass normative Quellen zu den Rechten und Pflichten der Hintersassen in dieser rätoromanischsprachig-katholischen Region gänzlich fehlen. Der eigenständige, selbstorganisierte Lokalismus war also bereits in vormoderner Zeit weniger ausgeprägt.

Meines Erachtens liegt in den Formen politischen Engagements ein erster zentraler Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer katholischen politischen Kultur surselvischer Prägung: Während in Chur lokale oder überregionale, parastaatliche Organisationen wie die Bürgervereine von 1842 und 1868 oder die Reformvereine von 1842 und 1868 versucht haben, auf die staatsrechtliche Struktur von Kanton und Stadt einzuwirken, fehlten in der Surselva im ganzen 19. Jahrhundert politische Organisationen, die der Initiative einer Gruppe politisch aktiver Männer entsprungen waren und sich mit Fragen der politischen Partizipation oder Organisation beschäftigten.214 Diese Besonderheiten in den politischen Strukturen und Prozessen fielen im 19. Jahrhundert den reformierten Zeitgenossen auf. Die liberale Presse warf der katholischen Surselva beispielsweise 1866 vor, «‹dass das Volk dort von der Kanzel herunter fanatisiert worden sei›».215

Die politische Entwicklung wurde vor allem von einigen wenigen «Chefideologen» organisiert, allen voran vom Disentiser Verleger Placi Condrau sowie den Historikern Caspar Decurtins und Giacun Hasper Muoth. Der von diesen Akteuren ungefähr ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstruierte Antimodernismus war nicht nur stark mit katholischer Weltanschauung unterfüttert, sondern auch auf die Identifikation mit dem katholisch-rätoromanischen Graubünden ausgerichtet.216 Zu diesem katholischen Milieu gehörte mit gewissen Einschränkungen auch das katholisch-rätoromanische Mittelbünden. Im Einzugsgebiet des Surmiran nahmen die im Verlagshaus Condrau gedruckten Periodika Gasetta Romontscha und Calender Romontsch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die gleiche Monopolstellung wie in der Surselva ein,217 wobei der Einfluss der Surselva in politischen und konfessionellen Fragen als sehr hoch bewertet wurde.218 Dass in dieser von einer «Einbindung der breiten Bevölkerung in die Kirche» geprägten und von einer Elite angeführten Sondergesellschaft219 keines oder nur ein geringes politisches Engagement lokaler Akteure für die Anliegen einer lokalen «Bürgergesellschaft» in Form von freiwillig konstituierten Bürgergemeinden entstand, scheint fürs Erste plausibel. Ausserdem waren diese Akteure – allen voran Nationalrat Decurtins – Teil der in der Schweiz ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstehenden «neuen Rechten», einer «reaktionären Avantgarde», die immer mehr in Frontstellung zum liberalen Bundesstaat und seinen modern-demokratischen Prinzipien geriet. Davon aber später mehr.

Was nun die Argumentation für die Annahme des Niederlassungsgesetzes angeht, waren es in erster Linie religiöse Werte, mit denen die katholisch-konservative Gasetta Romonscha im Januar 1874 die Notwendigkeit eines solchen Niederlassungsgesetzes begründete. In ihrem Leitartikel vor der Abstimmung beschrieb Placi Condraus in Disentis verlegte Zeitung, wie die Gemeindebürger einer Gemeinde einem Niedergelassenen verboten hatten, Wasser zu benutzen, sodass dieser sein Wasser ausserhalb der Gemeinde holen musste. Daraufhin fuhr der Redakteur fort: «Nus domondein eis ei human e cristianeivel de far pagar ils domiciliai a parti per guder la baselgia e scola, de gnanc encunter dueivla indemnisaziun schar guder els il necessari vid ils beins comunals?»220

Im Anschluss an diese rhetorische Frage machte die Gasetta Romonscha ihr Argumentarium für ihre christlich legitimierte Politik deutlich.221 Meines Erachtens markiert das den zweiten zentralen Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer katholischen politischen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

La doctrina cristiana di: tegn car il proxim sco tetez e quei che ti has bugen, ch’in fetschi a ti, fai era als auters. Mo da quella divina doctrina vulan bia burgeis leider [sic!] saver nuot. Co vul in domicilau exister andantamein en nossas relaziuns senza saver guder lena, alps e pistiras? […] Quellas novas con cessiuns ein fetg dueivlas; ils domiciliai, che vivan sper nus e portan tuttas gravezias deien era stgar dir lur meini sin vischneunca.222

Angesichts der ökonomischen Zwänge wurde christliche Nächstenliebe als einzig mögliche Handlungsmaxime postuliert. Indem man ein Gesetz annahm, «che ha per siu basis la curezia cristiana»,223 konnte man gleich ein weiteres beweisen. Als sich die Annahme des Niederlassungsgesetzes abzeichnete, frohlockte die Gasetta Romonscha: «Tenor tuttas tunas pon ins haver speronza, che nos domiciliai vegnien ussa en ina pli favoreivla situaziun e zvar entras la generusadat dil suveran grischun e bucca entras la revisiun centralistica.»224

Das für diese Region typische «Widerstandsverhalten unter vormodernen Vorzeichen»225 verteidigte nicht nur die in Bedrängnis geratene christlich-katholische Weltanschauung, sondern auch die kantonale Selbstbestimmung der Bündner. Für die Kommentatoren war Graubünden dadurch gar liberaler und aufgeklärter als manch anderer Kanton. Die neuen Partizipationsrechte der Niedergelassenen sollten in Anschlag gebracht werden, «[per] mussar als Confederai, che la patria dil referendum segi pli liberala e sclarida che bia cantuns, che sefan schi gronds cun lur sclariment».226

Christliche Weltanschauung und politische Haltung gingen dabei in eins und konstituierten eine äusserst homogene katholische politische Kultur. Dieser Nexus prägte zudem ein Geschichtsbild mit dem Kloster Disentis als politischem Handlungsträger. Die Gasetta Romonscha setzte dies als weiteres Argument ein: «la veglia Cadi, che ha sut la bitgetta de sia venerebla abbazzia da veglenneu promoviu il secollocar libramein, vegn restar fideivla a siu principi e votar unitamein per quella lescha.»227

Wie unterschiedlich man dagegen im reformierten bürgerlichen Milieu Churs dachte, zeigt die Botschaft des Churer Stadtrates vom 30. April 1875 mit dem ersten Vorschlag für ein Vermögensinventar. Am Ende ihrer Darlegung appellierten die Behörden an den «Bürgersinn» der Churer, zugunsten der Niedergelassenen auf vormoderne Rechtsprivilegien zu verzichten:

Wohl ziemt es dem Bürger, auch da wo er angestammten Hoheitsrechten entsagt, dies ohne alle Bitterkeit und mit voller Hingabe zu thun und durch die That zu beweisen, dass es ihm heilige Pflicht erscheint, dass alle ohne Unterschied den dauernden Fortschritt und das Gedeihen der Stadt nach besten Kräften fördern helfen.228

Auffallend ist die Rede von der «heiligen Pflicht». Drei Jahre nachdem der Ludwigsburger David Friedrich Strauss seinen Bestseller Der alte und der neue Glaube veröffentlicht hatte, fand man im politischen Diskurs Graubündens ein explizites Bekenntnis zu einem Religionssubstitut. Die Überhöhung des «Bürgersinns» als «heilige Pflicht» sollte das neue gesellschaftliche Moralsystem legitimieren. Damit entstanden im bürgerlichen Milieu Churs sakralisierte «letzte Werte» wie das Ideal einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft, in der die kommunalen Rechte mit allen niedergelassenen männlichen Schweizern geteilt werden sollten.229 Die religiöse Rechtfertigung bürgerlicher Werte begann nicht erst mit Strauss’ Der alte und der neue Glaube und war auch in Chur durchaus nichts Neues. Der Bürgerverein hatte schon 1868 in der Debatte der Bündnerischen Volks-Zeitung «die Bande der Pietät» betont, mit denen die Gemeindebürger die Gemeinde führten. Das Ende der ständischen Welt des Ancien Régime mit ihren religiös legitimierten Werteordnungen und Verhaltensanforderungen hatte für die bürgerliche Gesellschaft Churs die Möglichkeit geschaffen, neue Lebensordnungen zu produzieren. Da diese miteinander in Konkurrenz standen, suchte man die neu entstandene Heterogenität metaphorisch zu bändigen. Im Gegensatz dazu war der politische Diskurs in der katholischen Surselva durch ganz wörtlich gemeinte christliche Werthaltungen wie der Nächstenliebe überformt.

In den ersten 15 Jahren seines Bestehens rief das Niederlassungsgesetz in zahlreichen Gemeinden Unmut und Unklarheiten hervor. Einerseits zeigt eine von 31 Gemeinden eingereichte Petition, wie die Gemeindebürger aus ökonomischen Interessen das Niederlassungsgesetz bekämpft haben. Andererseits sind die ersten Rekurse, die aus Thusis, dem Puschlav, aus Samedan und St. Moritz eingereicht wurden, ein erster konkreter Effekt der dualistischen Abgrenzung innerhalb dieser Gemeinden: Sie machte es möglich, dass zwei politische Körperschaften derselben Gemeinde vor den kantonalen Behörden juristisch gegeneinander vorgingen. Obwohl diese kommunale Zersplitterung den Vorstellungen der Bündner Behörden zuwiderlief, tolerierte man die herrschenden Zustände. Bestenfalls versuchte man zaghaft, die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes zu präzisieren. Als Abschluss dieser 1890 endenden ersten Phase der Geschichte des Streits um Eigensrechte und Kompetenzen kehre ich mit dem Churer Schulfondsstreit der 1880er-Jahre noch einmal zu einem Aspekt bürgerlicher Werte zurück. Im Aushandlungsprozess mit der Stadt argumentierte die Bürgergemeinde vergeblich mit dem Wert bürgerlichen Mäzenatentums, um über den Schulfonds als korporatives Eigentum weiterhin selbst verfügen zu können.

3.5 Eine instabile Rechtsnorm: die ersten Eingaben und Rekurse

Ein Dreivierteljahr nach Annahme des Niederlassungsgesetzes schrieb die Standeskommission, «[h]ie und da» seien «in neuester Zeit und mit Rücksicht auf fragliche Gesetzesbestimmung Austeilung von Gemeindsboden wirklich bewerkstelligt, oder wenigstens beschlossen und eingeleitet» worden.230 Unter diesen Gemeinden befanden sich Chur und Gemeinden aus dem Kreis Maienfeld.231 Die Absicht war klar: Man wollte in aller Eile neue Bürgerlöser ausscheiden, weil bereits ausgeteilte Bürgerlöser gemäss Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes vor dem Zugriff der Politischen Gemeinde geschützt waren.

Im Folgejahr kam weiterer Unmut in Form einer Petition auf. In 31 Gemeinden hatten Gemeindebürger einen Antrag unterschrieben, der bereits im Dezember 1875 dem Grossen Rat vorlag. Da die Eingabe gedruckt wurde, hat man schon im Grossen Rat vermutet, dass sie allen Gemeinden des Kantons verschickt worden war.232 Unter dieser Voraussetzung ist die Petition ein guter Gradmesser für die Akzeptanz des Niederlassungsgesetzes. Potenziell waren also 186 Gemeinden des Kantons dem Begehren nicht gefolgt.233 Unter den unterzeichnenden befanden sich die Prättigauer Gemeinden Jenaz, Luzein, Schiers und Küblis, die Schanfigger Gemeinden Langwies und Maladers inklusive das angrenzende Churwalden, alle Gemeinden der Kreise Maienfeld, Fünf Dörfer (ausser Says) und Rhäzüns, einige Gemeinden entlang des Hinterrheins (Donat, Fürstenau, Thusis, Splügen, Zillis-Reischen) und drei aus dem Albulatal (Filisur, Stugl, Tiefencastel). Lediglich eine Gemeinde aus der Surselva (Andiast), eine aus dem angrenzenden Kreis Trin (Felsberg) sowie zwei aus Südbünden (Ardez, Roveredo) hatten die Petition unterzeichnet.234 Die Kreise Maienfeld und Fünf Dörfer und die vier Prättigauer Gemeinden hatten bereits das Niederlassungsgesetz abgelehnt.

Die Eingabe von 1875 bezweckte, das Niederlassungsgesetz zu revidieren, weil es «den bäuerlichen Mittelstand» durch zu weitgehende Freiheiten für die Niedergelassenen schädige, Alpen und Wälder übernutzt würden und viele Streitigkeiten und Rekurse entstünden. Wenn nun die 31 Petenten die Kontrolle über das Nutzungsvermögen zurückwünschten, bildet die Petition nichts anderes als die Fortführung der Ablehnung des Niederlassungsgesetzes aus ökonomischem Eigeninteresse, wie es bereits bei der Abstimmung für zahlreiche Gemeinden handlungsleitend gewesen war. Überlegungen zum Wert historischer Kontinuitäten fehlen in der gedruckten Schrift völlig. Zur Sprache kam einzig und allein der finanzielle Eigennutz.235

Der Grosse Rat wies die Petition als teilweise unbegründet und übertrieben zurück, beauftragte den Kleinen Rat und die Standeskommission aber, Ausführungsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz vorzubereiten.236 Der Grosse Rat setzte sich demnach zum Ziel, durch präzisere Vermittlung die nötige Stabilität des neuen Rechts in jenen Gemeinden herzustellen, wo diese neue Norm umstritten war. Das Vorhaben verlief aber im Sand und liess bis 1890 auf sich warten. Der Kleine Rat seinerseits begnügte sich in den folgenden Jahren damit, korrigierend einzugreifen – und liess dabei ein konsequentes Vorgehen vermissen.

Die Tolerierung des Gemeindedualismus und die Beschwörung der Gemeindeeinheit

Unter den Petenten, die bereits früh eine institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde vorgenommen hatten, war die Gemeinde Thusis. Im damals noch wichtigen Warentransitort mit einem Anteil Niedergelassener von 66 Prozent war im Frühjahr 1875 «[z]ur Wahrung und Verwaltung der bürgerlichen Interessen» ein Vorstand gewählt worden.237

Bereits am 9. Juli desselben Jahres beschloss die Bürgerversammlung von Thusis, an den Kleinen Rat zu rekurrieren, weil die Politische Gemeinde verlangt hatte, ihr die Bürgerlöser seit Herbst 1874 zu versteuern. Noch bevor der Sommer zu Ende war, ersuchte die Bürgergemeinde aus einem weiteren Grund den Rekurs an die Regierung: Die Politische Gemeinde hatte beschlossen, ihr falle das Eigentum am Gemeindewald zu und der Holzschlag sei zunächst für Lehrer, Pfarrer und Schule bestimmt.238 Im Herbst entschied der Kleine Rat in der ersten Frage zugunsten der Bürgergemeinde, dass die Bürgerlöser lediglich ab sofort der Politischen Gemeinde zu versteuern seien.239 In der zweiten Frage entschied der Kleine Rat 1877, dass zwar das Eigentum am Nutzungsvermögen den Gemeindebürgern belassen werde, dass dasselbe aber in erster Linie zur Bestreitung der öffentlichen Gemeindebedürfnisse hinzugezogen werden müsse.240 Im selben Jahr hiess die Regierung eine Beschwerde der Bürgergemeinde Thusis gegen die Festsetzung der Losholztaxen durch die Politische Gemeinde gut.241

Die gleiche Haltung nahm die Regierung einige Jahre später in einem Rekursfall in Samedan ein. 1885 kam es dort zu einem Rekurs der Bürgergemeinde gegen die Politische Gemeinde. Letztere erkannte zwar Eigentum und Veräusserungsrecht der Bürgergemeinde an den Gemeindealpen an, reklamierte für sich aber das Recht der Verwaltung und Nutzung, worin ihr der Kleine Rat entsprach. Gleichzeitig sicherte die Regierung das Eigentumsrecht an besagten Alpen explizit der Bürgergemeinde zu.242

Vorläufig kann festgestellt werden, dass der Kleine Rat neben der Politischen Gemeinde auch die Bürgergemeinde als Rekurrentin implizit anerkannte und Nutzungs- und Veräusserungsfragen nach den eindeutigen Bestimmungen von Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes entschied.243 Die Frage, wem das Eigentum am Nutzungsvermögen zukam, war noch nicht Gegenstand dieser Rekurse. Offensichtlich störte sich noch niemand daran, dass es der Kleine Rat der Bürgergemeinde zuschlug. Die Regierung nahm offenbar den vielerorts entstandenen Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde in Kauf, trotz den Streitigkeiten, die sich in diesen Jahren aus dem Vorhandensein zweier Körperschaften ergaben. Man verliess sich auf das Niederlassungsgesetz, das, wie sich ein Regierungsrat 1884 ausdrückte, «die Befugnisse der einen und andern Korporation [sic!] in § 16 bestimme».244

Es war denn auch lediglich die prinzipielle Mehrung dieser «Streitfälle und Konflikte», die dem Aroser Grossrat Hans Hold Anlass gab, 1884 eine Motion für die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs über die Bürgergemeinden einzureichen, die als erheblich erklärt wurde.245 Zur Begründung führte Hold an, dass die Kantonsverfassung zwar den Grundsatz der Gemeindeeinheit aufstelle, gleichzeitig aber die Bürgergemeinden anerkenne. Dieser Dualismus sei «ein Übelstand». So wie der Kleine Rat beide Körperschaften implizit als Rekurrenten anerkannte, fordert auch Hold nicht die Auflösung der Bürgergemeinden, sondern lediglich eine genauere Regelung beider Körperschaften. Die Stellung der einen zur anderen Gemeinde sei trotz Niederlassungsgesetz «eine ganz unklare; die Rechte der Bürgergemeinden und Korporationen sind nicht festgestellt und gehörig ausgeschieden». Ein anwesender Regierungsrat entgegnete dem, die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes seien völlig ausreichend, im Übrigen entscheide der Kleine Rat bei Rekursen von Fall zu Fall.246 Auch dieses Vorhaben blieb liegen.247

Ein Jahr später sah sich Regierungsstatthalter Schenardi zusammen mit anderen Abgeordneten veranlasst, dem Grossen Rat eine Motion für die Revision des Niederlassungsgesetzes vorzulegen. Der Antrag hinterfragte die institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde ebenfalls nicht, führte aber an, das «Gesetz sei in manchen Bestimmungen unklar, zu wenig prägnant, gebe daher fortwährend zu vielen Rekursen Anlass und gewähre dem Kleinen Rathe bei deren [sic!] Entscheidung zu grossen Spielraum».248

Die Motion Schenardi und die noch unbehandelte Motion Hold übergab der Grosse Rat an eine Spezialkommission, die in einem zweiten Anlauf nach 1875 Ausführungsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz aufstellen sollte.249 Im Wesentlichen stipulierten die am 20. Mai 1890 vom Grossen Rat verabschiedeten vier Paragrafen, dass die Höhe der Taxen für die Niedergelassenen bis 75 Prozent des vollen Handels- beziehungsweise Nutzungswerts betragen durften, Kapitalerlös aus verkauftem Gemeindevermögen der Politischen Gemeinde zufalle und die Gemeindebürger die Taxen der Politischen Gemeinde festlegen sollten und umgekehrt.250 Mehr konnte oder wollte die Spezialkommission nicht bestimmen. Grundlegende Fragen zum Status der Bürgergemeinden oder zum Eigentum am Gemeindevermögen regelte sie nicht. Da die Ausführungsbestimmungen von 1890 im Wesentlichen nur tagespolitische Detailfragen regelten, trugen sie wenig zur Klärung der Verhältnisse in diesem Bereich bei: Zwischen 1894 und 1919 strebten Private zu Fragen des Stimmrechts in Gemeindeangelegenheiten oder Nutzungen des Gemeindevermögens rund 100 Rekurse an.251 Die später in den 1890er-Jahren erlassenen Bürgerinitiativen sollten entsprechend mit der herrschenden «Rechtsunsicherheit» begründet werden.252 Dafür verschwanden die Rekurse zwischen Politischen Gemeinden und Bürgergemeinden bis in die 1920er-Jahre auch ohne weitergehende Regelungen vorläufig fast vollständig.253

Ungeachtet der regierungsrätlichen Entscheide in den Fällen Thusis und Samedan kehrten die Behörden Ende des 19. Jahrhunderts zur 1873/74 diskutierten Vorstellung einer abgestuften Gemeindeeinheit zurück. Bereits der Bericht der Spezialkommission für die Ausführungsbestimmungen vom Frühling 1890 liess verlauten, das Niederlassungsgesetz ziele darauf ab, «‹die Zweiteilung in eine Bürger- und Einwohnergemeinde möglichst zu vermeiden›».254 Vielerorts würden sich die Gemeindebürger als «Eigentümer des Gemeindegutes» betrachten, für die Spezialkommission «ein grosser, allgemein herrschender Irrtum».255 Die Regierung stellte 1899 in ihrem Landesbericht immerhin fest, es sei nötig, «dass die Behörden bei jedem gegebenen Anlass dafür sorgen, dass die embrionalen Ansätze, welche allerdings in unserer Gesetzgebung für die zweifache Gemeinde sich vorfinden, nicht zur Entwicklung kommen».256 Dabei ignorierte der Kleine Rat nicht nur die Tatsache, dass er selbst in der Vergangenheit in mehreren Rekursfällen das Nutzungsvermögen mehrfach der Bürgergemeinde zuerkannt hatte, sondern auch, dass sich doch eine beträchtliche Anzahl der grösseren Gemeinden mit einem Bürgerrat, Bürgerversammlungen oder einer eigenen Verfassung als autonome, altrepublikanisch strukturierte Körperschaft gebarten und vielfach noch das Gemeindevermögen in Anspruch nahmen.

Diese grundsätzlich paradoxe Haltung der widersprüchlich und zurückhaltend agierenden kantonalen Behörden wurde erst in den Rekursfällen der Zwischenkriegszeit thematisiert. So sollte beispielsweise Augustin Cahannes 1930 bemerken: «Vollständig unbegreiflich ist es, dass der Kleine Rat zu gleicher Zeit, als er die Bürgergemeinde mit der politischen Gemeinde prozessieren lässt, erklären kann, dass die erstere ein Organ der letzteren sei.»257