Kitabı oku: «Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer», sayfa 11

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Korporativer «Bürgersinn» oder «ächt liberaler Sinn»? Der Churer Schulfondsstreit 1882-1885

Ein abschliessendes Beispiel führt zurück nach Chur. Es soll illustrieren, wie der «bürgerliche Wertehimmel» im neuen Kräfteverhältnis zwischen Bürgergemeinde und politischer Gemeinde ein wichtiges Argumentationsprinzip blieb. Wieder war die Bündner Haupstadt der Ort, an dem die Gemeindebürger nicht nur ökonomische Interessen, sondern explizit bürgerliche Normen zum Einsatz brachten, um ihre altrepublikanischen Exklusivrechte gegen den Zugriff des Kantons zu verteidigen.

Zankapfel wurde der Schulfonds, der gemäss Ansicht des Stadtrats untrennbar zu den Schulen gehörte, die 1875 unbestritten in das Eigentum der neuen Gesamtgemeinde übergegangen waren.258 Der Bürgerrat weigerte sich aber zu Beginn des Jahres 1882, einen 1841 noch zur Zeit der Churer Zunftordnung eingerichteten Teil des Schulfonds der Politischen Gemeinde zu überschreiben. Im Januar 1883 rekurrierte der Stadtrat in dieser Sache bei der Kantonsregierung. Im November desselben Jahres entschied der Kleine Rat, die Bürgergemeinde habe den Schulfonds an die politische Gemeinde abzutreten.259 In seiner Argumentation formulierte der Kleine Rat einzig die juristische Seite des Problems. Die Frage der Gemeindeeinheit berührte er nur implizit, als er in Erwägung zog, «dass der Mitgenuss an gemeindlichen Schulanstalten [worunter auch finanzielle Mittel fielen, S. B] durch schweizerische Niedergelassene, nach Massgabe der in unserem kantonalen Niederlassungsgesetz enthaltenen staatsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen hat».260

Daraufhin druckte der Bürgerrat den Rekursentscheid und die bis dahin erfolgten Repliken und Dupliken, nachdem «die öffentliche Meinung durch einige tendenziöse Artikel in einem hiesigen Blatte irrgeleitet und die Bürgerschaft durch dieselben auf eine unwürdige Weise verhöhnt»261 worden war. Es war der erste Rechtsstreit zwischen einer Politischen Gemeinde und einer Bürgergemeinde in Graubünden, bei dem das Aktenmaterial publiziert wurde. Offenbar war die Frage von einiger öffentlicher Relevanz, und der Bürgerrat sah sich gezwungen, «dem Publikum die Streitfrage klar und deutlich, der Wahrheit getreu, vor Augen zu führen».262 Der Bürgerrat verstand den Schulfonds «seiner Natur und seinem historischen Herkommen gemäss» als ortsbürgerliche Stiftung, weil 1841 eine Gruppe von 134 ehemaligen Zünftern ihr Zunftvermögen für die Kinder der Gemeindebürger gestiftet habe.263

Neben juristischen Argumenten zielte die Argumentation des Bürgerrates auf Elemente des «bürgerlichen Wertehimmels». Vertreten durch ihren ersten Bürgermeister Jakob Risch und Bürgerratsschreiber Hieronymus Salis,264 versuchte er «die wirkliche Absicht der Stifter» zu beweisen und gab zu bedenken, dass «wohl wenige Leute in der Zukunft zu solchen Opfern» bereit seien, falls «von einer Administrativbehörde seine Institution missachtet, seine Urkunde beseitigt oder falsch ausgelegt, seine Stiftungsverwaltung aufgehoben und das gestiftete Vermögen der Gemeinde inkorporirt wird, der er es nicht geben wollte».265

Der Bürgerrat sprach damit das mäzenatische Handeln der 134 ehemaligen Zünfter an.266 Ein zentrales Moment bürgerlichen Mäzenatentums war, «Fehlentwicklungen in der modernen Gesellschaft»267 zu steuern, also da einzugreifen, wo sich der Staat ungenügend engagierte. Im konkreten Fall bestand die Absicht von 1841 in der «Bildung und Veredlung unserer Jugend», wobei umstritten war, ob nur den Churer Gemeindebürgern das Schulgeld für ihre Kinder erlassen werden sollte. Eine solche exklusive Verwendung des Fonds hatte jedoch nie stattgefunden.268 So oder so bestand der «Bürgersinn» dieser Mäzene in der zukünftigen Sicherung des Gemeinwohls. Dieses Engagement der Gemeindebürger lohnte sich vor allem deswegen, weil es den Verlust ihrer zünftischen Rechtsprivilegien teilweise kompensierte: Sie erkauften sich mit Geld Kulturprestige, das sie mit ihren zünftischen Rechtsprivilegien wenige Jahre davor verloren hatten. Die Stiftung war ähnlich wie der fast gleichzeitig (1842) gegründete Bürgerverein ein bewusster Zusammenschluss eines grossen Teils der Gemeindebürger zur Sicherung ihrer sozialen und kulturellen Hegemonie nach Ende der Zunftverfassung.

Der Stadtrat, vertreten durch den Stadtpräsidenten und Churer Gemeindebürger Albert Wassali, argumentierte in seiner Vernehmlassung vom 3. Januar 1884 ebenfalls mit dem «Bürgersinn» der Stifter. Er liess aber das Argument des Bürgerrates, eine «Sorge auch für die nichtbürgerlichen Einwohner» habe «keineswegs in dem Geiste und den Anschauungen der damaligen Zeit» gelegen, nicht gelten.269 Den Stiftern habe vielmehr eine liberal-universalistische Entwicklung der modernen Gesellschaft vorgeschwebt: Der damalige Amtsbürgermeister Simeon Bavier biete «Gewähr» dafür, dass das Zunftvermögen nach Ende der Zunftverfassung nicht nur den Gemeindebürgern gestiftet worden sei, vielmehr hätte Bavier so etwas «in seinem ächt liberalen Sinne» abgelehnt, sodass «es geradezu als unverdiente Beleidigung seiner Manen erscheint, jenem Beschlusse so engherzige Motive unterzuschieben».270

Der Rekurs der Bürgergemeinde an den Grossen Rat blieb schliesslich erfolglos. Endgültig wurde der Streitfall jedoch erst 1885 vor Bundesgericht entschieden. Die Bürgergemeinde musste den Schulfonds mitsamt den Erträgen der letzten zehn Jahre der Stadt übergeben – summa summarum über 312 000 Franken.271

Der Churer Schulfondsstreit blieb im 19. Jahrhundert der einzige über mehrere Instanzen geführte Rekurs zwischen einer Bürgergemeinde und einer Politischen Gemeinde. Er macht aber noch einmal deutlich, dass die beiden Institutionen, hervorgegangen aus einem Niederlassungsgesetz, das für die modernen Ansprüche der Gemeindeorganisation nicht ausgelegt war, über die Interpretation dieses Niederlassungsgesetzes zu streiten begannen. Allein schon die Institutionalisierung von Bürgergemeinden, die es gemäss mehreren offiziellen Verlautbarungen in den kantonalen Behörden nicht geben sollte, machte ein ortsbürgerliches Bewusstsein deutlich, mit dem der Kanton weiterhin rechnen musste. Zu welch heftigen Streitigkeiten der Bündner Gemeindedualismus ab den 1920er-Jahren noch führten sollte, ahnten die Regierungsräte und Grossräte des Fin de Siècle vermutlich noch nicht.

4 Die kurze Reaktion der 1890er-Jahre

In den 1890er-Jahren kam neuer Unmut über das kantonale Niederlassungsgesetz auf. Gleich zwei Mal wurde versucht, mit sogenannten «Bürgerinitiativen» die umstrittene Regelung zu revidieren. Treibende Kraft war ein prominenter Nachkomme der vormodernen Führungsschicht Graubündens: Theophil Sprecher von Bernegg, der spätere Generalstabschef im Ersten Weltkrieg.1 Das Kapitel zeigt, wie der Maienfelder als Teil der in der Schweiz im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufkommenden «neuen Rechten» versucht hat, den immer noch «unbewältigten Rechtszustand»2 der internen Organisation der Bündner Gemeinden zugunsten der Gemeindebürger zu normieren. Mit dem staats- und modernisierungskritischen Gestus dieser «reaktionären Avantgarde» veränderte sich der Diskurs um das Rechtsverhältnis von Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Graubünden. Anstelle des Austarierens von Werten wie «Bürgersinn» oder spiessbürgerlichem «Eigensinn» rückten nun die bereits punktuell angesprochenen «alten Rechte der Bürger» in den Vordergrund, gepaart mit dem seit 1896 von katholisch-konservativer Seite rechtswissenschaftlich fundierten Fahnenwort der Gemeindeautonomie. Zwei weitere Merkmale tauchten mit Sprechers «Bürgerinitiativen» auf und trugen ebenfalls dazu bei, den politischen Diskurs um die Bürgergemeinde auf eine neue Ebene zu führen: Die Gegner des Niederlassungsgesetzes stellten nun nicht mehr nur dessen Nachteile für die Gemeindebürger infrage. Sie konstruierten vielmehr eine prinzipielle Frontstellung zwischen Altrepublikanismus und Etatismus, das heisst in diesem Fall zwischen autonomen Bürgergemeinden und einem als liberal-zentralistisch empfundenen Kanton – ein Spannungsverhältnis, das natürlich spätestens seit Mitte der 1870er-Jahre vorhanden, bisher aber nicht kontrovers debattiert worden war. Die Auseinandersetzung um den Wert und die Bedeutung der Bündner Bürgergemeinden wurde zudem zur scharfen Gegenreaktion, ja zu einem «Krieg der Bürger»,3 wie ihn die bisherige Auseinandersetzung um das Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Graubünden noch nicht erlebt hatte. Die Diskussion im Vorfeld der Abstimmung um die zweite Bürgerinitiative Ende 1899 war mit ihren Metaphern des Kampfes der vorläufig letzte Höhepunkt in diesem Diskurs. Abschliessend kehre ich mit dem Abstimmungsergebnis von 1899 noch einmal zur Bedeutung der Gemeindeautonomie zurück. Dank der Konjunktur dieses seit dem ausgehenden Jahrhundert zwischen populärer und wissenschaftlicher Wissensformation zirkulierenden Begriffs fand die zweite «Bürgerinitiative» auch in katholisch-rätoromanischen Gemeinden Aufnahme, obwohl diese meist einen geringen Grad an Niedergelassenen aufwiesen und noch 1874 für das liberale Niederlassungsgesetz gestimmt hatten.

4.1 Mit den «alten Rechten» gegen den «Allerweltskulturstaat»

Gemessen an ihrer restriktiven Verwaltungspraxis bestand in der Stadt Maienfeld bereits vor dem Niederlassungsgesetz von 1874 ein ausgeprägtes ortsbürgerliches Bewusstsein. So war in Maienfeld um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel die Abgabe von Brennholz an die Niedergelassenen verboten, während zahlreiche andere Gemeinden dies liberaler als die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes von 1853 handhabten.4 Welche Bedeutung die altrepublikanische Korporation in Maienfeld hatte, zeigt nicht nur die spätestens in den 1890er-Jahren mit der Statuierung eines Maienfelder Bürgerrates vorgenommene institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde. 1893 stellte der Maienfelder Bürgerrat im Vorfeld der ersten Volkswahl der Bündner Regierung gar ein Ausschreiben an die Herren Vorsteher der ehrs. Bürgergemeinde auf. In diesem für die Geschichte der Bündner Bürgergemeinden singulären Dokument wurde allen Gemeinden, die «auf Erhaltung ihrer alten und guten Rechte Werth legen», der Fläscher Regierungsstatthalter Thomas Marugg als Anhänger «des allgemeinen bündnerischen Bürgerprinzips und als Verfechter der Gemeinde-Autonomie»5 erfolgreich gegen den späteren Bundesrat Felix Calonder zur Wahl empfohlen. Immerhin war für den Maienfelder Bürgerrat «die angestammte Freiheit und Souveränität der bündnerischen Gemeinden eine der ehrwürdigsten und wertvollsten Grundlagen unseres kleinen Staatswesens»,6 wie das Ausschreiben gleich einleitend klarmachte. In aller Deutlichkeit wurde jene Verbindung hergestellt, auf die bis dato in den Quellen nur am Rand oder indirekt hingewiesen wurde: Die Verteidigung der altrepublikanischen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger wurde explizit zur Frage der Behauptung der Gemeindeautonomie gegen den Zugriff des etatistisch-liberalen Kantons gemacht.

Zehn Monate später trat ein Maienfelder Initiativkomitee mit Theophil Sprecher von Bernegg an der Spitze auf den Plan. Es schnürte gleich ein ganzes Paket von Vorschlägen.7 Auf dem Weg einer Verfassungsänderung sollte den Bürgergemeinden neben dem ihnen bereits durch das Niederlassungsgesetz von 1874 garantierten Armenvermögen und den Bürgerlösern das im Niederlassungsgesetz nicht explizit definierte Eigentum am umstrittenen Nutzungsvermögen (Alpen, Weiden, Wälder) wieder zugesprochen werden. Gänzlich konträr zum Niederlassungsgesetz stand der Vorschlag, die Verwaltung dieser Alpen, Weiden und Wälder auch wieder der Bürgergemeinde zuzusprechen. Dem schlossen die Initianten einen detaillierten Gesetzesentwurf für die Bürgergemeinden an.8 Dies bedeutete nicht weniger als die «Schaffung von Bürgergemeinden mit voller territorialer Hoheit und uneingeschränkten Nutzungs- und Verwaltungsbefugnissen, soweit sie diese ihre Rechte nicht auf eine Politische Gemeinde übertragen wollten».9 Man wollte den Gemeinden die Möglichkeit geben, die Rechtsprivilegien der Gemeindebürger wieder stärker auszubauen. Wie stark das partikularistische Denken bei der Eingabe leitend war, zeigt die zweite Bestimmung der Eingabe: Die Politische Gemeinde sollte befugt werden, einzelne Zweige der Verwaltung ihren untergeordneten Ortschaften (Fraktionen) zu übertragen. Damit sollten «wohlerworbene», «gesonderte Fraktionsbürgerrechte» wiederhergestellt werden, da in verschiedenen Gemeinden einzelne Gemeindesiedlungen in der Vergangenheit Eigentum erworben hatten, dessen Verwaltungs- und Verfügungsrecht diesen Fraktionen von den kantonalen Behörden abgesprochen worden war.10

Die auf Deutsch, Sursilvan und Italienisch gedruckte Broschüre Motive zum Initiativ-Begehren betr. die bündnerischen Gemeinde-Verhältnisse insbesondere die Bürgergemeinde von 1894 argumentierte ausführlich für die Vorschläge. Die Argumentation streifte dabei die Rechtsentwicklung der letzten drei Jahrzehnte nur, das Schwergewicht des Textes lag eindeutig abseits der juristischen Interpretation. Die Broschüre reproduzierte die bekannten Positionen der Verfechter der Bürgerrechte der 1850er- und 1860er-Jahre. Statt bürgerlicher Werte traten nun aber als Argumente vermehrt die «Geschichte» und ahistorische «Wesenseigenheiten» in den Vordergrund. Daran schloss sich ein modernisierungskritischer Gestus gegenüber dem Kanton an, der in dieser Schärfe im Diskurs um die Bürgergemeinde neu war.

Dem liberalen Axiom der Freizügigkeit wurden historische Werte der langen Dauer wie «wohlerworbene Rechte» gegenübergestellt,11 ein Begriffspaar, das einige Malanser Gemeindebürger schon 1880 in einem Rekurs gegen die dortige Politische Gemeinde benutzt hatten12 und das seitdem immer wieder aufgetaucht war.13 Die Vorstellung einer Kontinuität vormoderner Errungenschaften aus dem Prozess der Entfeudalisierung paarte sich mit ahistorischen Vorstellungen eines natürlichen Zustands, wie sie seit dem 18. Jahrhundert von der gegenaufklärerischen Romantik vorgebracht wurden. So stellte das Initiativkomitee die Ausstellung von Heimatscheinen als etwas dar, das zur «ureigensten Kompetenz» der Bürgergemeinde gehöre,14 und bestimmte Grossratsbeschlüsse als ein «unserem Volksgeist widersprechender» Zwang.15 Die Gemeindebürger waren der «Kern» der Gemeinde, die als Garanten für dessen Erhalt standen. Im Fokus stand der Angriff des Kantons auf die kommunalen Angelegenheiten:


Abb. 2: Theophil Sprecher von Bernegg (1850-1927), der spätere Generalstabschef der Schweizer Armee, war als Teil der «neuen Rechten» in den 1890er-Jahren Initiant der zwei reaktionären «Bürgerinitiativen» (Aufnahme während des Ersten Weltkriegs).

Wer nicht einen mit dem Weltwesen in Widerspruch stehenden Idealismus zur Schau trägt, wird erfahrungsgemäss zugeben, dass der Bürger nur dann mit Luft und Liebe an der Erhaltung seines Gemeinwesens arbeitet, wenn er der Ueberzeugung ist, dass die Früchte seiner Arbeit auch ihm und seinen voraussichtlichen Rechtsnachfolgern verbleiben und dass nicht jeder, der des Weges kommt und vorüber zieht, durch einen gesetzlichen Federstrich in die Rechte eingesetzt werden kann, für deren Schaffung und Erhaltung der Bürger einen guten Theil seiner Zeit und Kraft geopfert hat.16

Dieser «gesetzliche Federstrich» war in Gestalt des Niederlassungsgesetzes von 1874 «Ausgeburt einer ungesunden Parteipolitik»,17 Resultat der «radikalen Neuerungssucht».18 Dabei wäre es, so die Broschüre, viel wichtiger, «dass unser Allerweltskulturstaat sich wieder einmal seines Ursprungs erinnere und seiner ersten Aufgabe, ein Beschützer und Schirmer des Rechts zu sein».19 Stattdessen habe sich, so die sarkastische Spitze der Broschüre, das «trübe Auge der Bureaukratie» zum Ziel gesetzt, alle Rechte «in der alleinseligmachenden politischen Gemeinde» zu konzentrieren.20

4.2 Die «reaktionäre Avantgarde» und die Gemeindeautonomie

Mit dieser heftigen Kritik am modernen Kanton öffnet sich das weite Feld dessen, was Hans-Ulrich Jost als «reaktionäre Avantgarde» bezeichnet hat.21 Diese ab den 1890er-Jahren entstehende Bewegung war weder eine politische Partei noch eine homogene Gruppe, sondern ein loses Konglomerat von konservativen Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern. Bisweilen waren diese «neuen Rechten» in neu gegründeten Vereinen organisiert. In der Westschweiz bildete sich der intellektuelle Kreis der «Helvétistes» um den Historiker und Literaturwissenschaftler Gonzague de Reynold, während in der deutschsprachigen Schweiz der 1904 gegründete Deutschschweizerische Sprachenverein, das Schweizer Bauernsekretariat unter Ernst Laur, die 1914 von de Reynold gegründete Neue Helvetische Gesellschaft und der nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Schweizerische Vaterländische Verband zu den massgebenden Organisationen dieser Bewegung gezählt werden, ferner auch Teile des 1905 gegründeten Schweizer Heimatschutzes und die in dessen Gefolge entstandenen Trachten- und Volksliedervereinigungen.22 Hinzu kam die sich in der Schweiz am Ende des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierende Parteienstruktur, worin dieser Konservativismus, «trotz seiner numerischen Schwäche, ein erweitertes und fruchtbares Wirkungsfeld fand».23

Jost erklärt diese ab den 1890er-Jahren entstehende «neue Rechte» mit der Krise des Freisinns, dem es nicht gelang, die Widersprüche der wirtschaftlichen Entwicklung und die Dissonanzen einer von «Bundesbaronen» dominierten Politik zu bewältigen.24 Die konservativen Erneuerer sabotierten die liberale Gesetzesmaschinerie des Bundes, bereits in den 1880er-Jahren beginnend, bis in die späten 1890er-Jahre mit Schlagworten wie «Freiheit» oder «Föderalismus», die dem zentralstaatlichen «Vogt» gegenübergestellt wurden.25 Die Bezugspunkte der «reaktionären Avantgarde» waren die traditionelle Schweiz, die dem «dummen Materialismus» (de Reynold) gegenübergestellt wurde, dann die vaterländischen Mythen, der Heroismus der Vorfahren und ein religiöser und aristokratischer Autoritarismus.26 Es waren heile Gegenwelten, mit denen man die «Entzauberung der Welt» (Max Weber), die Verlusterfahrungen einer sich rasant rationalisierenden Gesellschaft kompensieren wollte.27

Gewiss waren bei Theophil Sprecher von Bernegg um 1894 nicht alle diese Bezugspunkte ausgeprägt. Einen aristokratischen Paternalismus, wie er sich später beim Freiburger Gonzague de Reynold im Zuge einer in der Zwischenkriegszeit verschärften Rechtsentwicklung ausgebildet hat, sucht man bei Sprecher von Bernegg vergebens.28 Dennoch findet man das Grundmuster der «beständigen Evokation der alten, sogenannt vorrevolutionären Werte», die im Verbund mit ahistorischen Mythen Prinzipien des Ancien Régime wiederbeleben wollten29 – auf Kosten einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft. Insofern konstruieren Begriffe wie «Volksgeist» oder «Weltwesen» Mythen, wie sie von Roland Barthes beschrieben worden sind: «Der Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte.»30 Drei Jahrzehnte bevor Gonzague de Reynold in seinem Werk La démocratie et la Suisse eine «politische Romantik» vertrat, ist diese Haltung bereits bei Sprecher von Bernegg feststellbar.31

In dieser Denkart wurden die Bürgergemeinden zu den «besten Elementen unseres kleinen Staatswesens»32 gemacht. Es versteht sich von selbst, dass Sprecher, der die Rechte der Gemeindebürger durch den Kanton massiv bedrängt sah, den Antizentralismus auch im Grossen Rat vertrat: «Die Gemeinden bestanden vor dem Staat», und darum sei es «eine krankhafte, allerdings weit verbreitete Ansicht, alles Recht komme vom Staat», erklärte er.33 Das Fahnenwort der Gemeindeautonomie blieb in diesen Aussagen noch einigermassen diffus. Es plädierte sowohl für die altrepublikanische Selbstverwaltung der Gemeindebürger (die der Kanton zum überwiegenden Teil bereits 1874 zerschlagen hatte) als auch gegen den zentralisierenden Zugriff eines etatistisch-liberalen Kantons auf die Gemeindeautonomie der seit 1875 bestehenden Politischen Gemeinden.

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