Kitabı oku: «Gemeinsam einsam durch die Welt», sayfa 3

Yazı tipi:

*

Wo bist du nur?

Dezember 1998

Ruhe. Es ist so verdammt still hier. Und diese Stille kann ich nicht ertragen. Ich sitze in meinem Zimmer. In einer Ecke. Auf dem Boden. Das Licht ist aus. Der Raum wird nur von den paar wenigen Sonnenstrahlen erhellt, die durch das Fenster scheinen, doch der Dezember ist mehr grau also sonnig. Meine Knie sind bis zur Brust angezogen. Ich starre die weiße Wand gegenüber von mir an. Nach fünf Minuten starre ich sie immer noch an und auch nach zehn Minuten noch. Es ist eine scheiß weiße Wand. Und ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihr zu lösen. Warum?

Nach einiger Zeit weiß ich nicht mehr, wie lange ich hier schon sitze. Wie lange ich hier schon allein sitze. Ich kann ihn noch immer neben mir spüren. Wie er meine Hand gehalten hat. Wie er mich umarmt und nicht mehr losgelassen hat. Wo bist du nur, Kilian? Wo ist dein Geist? Wie fühlst du dich? Fühlst du überhaupt etwas? Spürt man etwas, wenn man im Koma liegt? Vielleicht ist es auch nur, als würde man schlafen. Man wacht auf und weiß absolut nichts mehr. Weder wo man ist, noch wie lange man geistig nicht anwesend war. Aber er spürt doch, wenn ich bei ihm bin, oder? Was träumst du gerade? Was siehst du? Denkst du an mich? Wenn ich nur mit ihm sprechen könnte. Kann er nicht einfach wieder aufwachen? Wieder zu sich kommen? Wieder lebendig sein? Ich brauche ihn in meinem Leben. Ich bin aufgeschmissen ohne ihn. Wie kann es sein, dass man innerhalb so kurzer Zeit so abhängig von einer Person werden kann? Ich werde ihn niemals loslassen können. Er wird für immer ein Teil von mir sein. Und einen Teil in meinem Herzen einnehmen. Ich glaube, ich werde nie wieder jemand anderen lieben können. Will ich auch gar nicht. Mein Herz gehört Kilian. Für immer! Nur ihm. Er wird wieder aufwachen. Aber was ist, wenn er das nicht tut? Natürlich habe ich noch Hoffnung. Er liegt erst vierzehn Tage im Koma. Es gibt Menschen, die wachen nach einem Jahr noch auf. Aber selbst ein Jahr ist viel zu lang. Ein Jahr ohne ihn. Im Moment unvorstellbar. Es gibt Leute, die gehen ins Ausland und sehen ihre Liebe auch für ein Jahr nicht. Aber die haben die Gewissheit, dass der andere wiederkommt. Und diese Gewissheit habe ich nicht. Normalerweise weiß ich vieles. Und wenn ich etwas nicht weiß, kann ich Leute fragen oder in Büchern nachlesen. Aber ob und wann Kilian aufwachen wird ... Das kann ich nicht wissen. Und das Schlimme ist, niemand weiß das.

In den letzten zwei Wochen hatte ich viel zu viel Zeit, über Dinge nachzudenken. Wenn man allein in seiner Wohnung sitzt und nichts machen will, hat man keine andere Wahl, als über viel zu viel nachzudenken. Ich hätte mich ablenken und etwas mit Leuten machen können, aber dann kommt die ganze Trauer nur wieder hoch, weil jeder fragt, wie es einem geht und wie alles passiert ist. Und darauf hatte ich keine Lust. Und das habe ich noch immer nicht. Ich fühle mich nicht bereit. Ich muss erst einmal für mich allein sein. Solange, bis ich wieder klar denken kann. Ich habe mich praktisch von allem und von allen abgeschottet.

Viel zu oft stelle ich mir die Frage „Was wäre, wenn ...“ Diese Frage ist so gefährlich. Man stellt viel zu viele Theorien auf, erfindet Sachen, die niemals passiert sind, und stellt alles irgendwann so dar, als wäre man selbst schuld.

Was wäre, wenn ich anders gehandelt hätte?

Was wäre, wenn ich an jenem Abend nicht aus dem Raum gerannt wäre?

Was wäre, wenn wir einfach wie geplant zu seiner Mama gegangen wären?

Was wäre, wenn wir zwei Tage früher zurückgekommen wären?

Was wäre, wenn wir diese Reise nie gemacht hätten?

Was wäre, wenn ...

Ja, was wäre, wenn wir uns nie kennengelernt hätten?

Wahrscheinlich hätte ich nicht die schönste Zeit meines Lebens gehabt, aber ich wäre jetzt nicht so unglücklich. Diese endlose Leere wäre nicht in mir. Ich würde nicht stundenlang grundlos die Wand anstarren. Und ich hätte nicht so viele Tränen verloren. Allerdings hätte ich auch nicht die Liebe meines Lebens getroffen. Auch wenn es vielleicht auf Dauer besser wäre, ich würde nichts rückgängig machen wollen, wenn ich könnte. Dieses Gedankenchaos hört einfach nicht auf. Egal wie viel Mühe ich mir gebe, nicht mehr so häufig darüber nachzudenken, genau dann funktioniert es am wenigsten. Egal, was ich mache, ich muss daran denken, wie wir es gemeinsam irgendwann machten. Wenn ich Musik höre, sagt der Interpret immer irgendetwas, was mich an ihn denken lässt. Selbst wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ihn hinter mir stehen. Wie er mich einst umarmte. Wie er mich einst verdammt glücklich machte. Ganz egal, was ich mache, Kilian ist einfach überall.

* * *

Ich habe mich doch tatsächlich aus meiner Ecke hervorbewegt. Ich sitze am Fenster und schaue nach draußen. Es ist zwar erst 17 Uhr, aber es dämmert trotzdem schon. So wie das im Dezember eben üblich ist. Es liegt kein Schnee. Es ist einfach nur kalt und grau draußen. Kein schönes Wetter. Aber in den letzten zwei Wochen war ich eh nur dann draußen, wenn ich wirklich dringend etwas brauchte.

Die Straße vor dem Haus ist wenig befahren. Ich beobachte die Ampel, wie sie von Rot auf Gelb und anschließend auf Grün umspringt und wie ab und zu ein paar Autos an die Kreuzung heranfahren. Wo die Autos wohl gerade hinfahren? Was für Personen sitzen in den Autos? Vielleicht fahren sie gerade von der Arbeit nach Hause, begrüßen gleich ihre Kinder und den Lebenspartner, trinken noch ein Glas Wein beim Abendessen und setzen sich dann gemütlich auf die Couch, um Fernsehen zu schauen. Ich beobachte auch die Personen, die auf den Bürgersteigen entlanglaufen. Eine kleine Gruppe Jugendlicher läuft an der rechten Straßenseite entlang. Vielleicht genießen sie jetzt ihr Leben, machen sich einen schönen Abend und gehen von einem Klub in den nächsten. Vielleicht gehen sie auch ins Kino oder einfach nach Hause, weil sie schon den ganzen Tag miteinander verbracht haben. Auf der anderen Straßenseite geht ein Paar spazieren. Sie haben die Arme umeinandergeschlungen. Beide sehen noch relativ jung aus. Ob ich mit Kilian auch so glücklich aussah? Das Mädchen balanciert auf dem Bürgersteig und verliert relativ bald das Gleichgewicht. Der Junge schnappt sich schnell ihre Hand und fängt sie auf. Beide lachen und laufen weiter. Sie sehen so verdammt glücklich aus.

Die Welt sieht so schön und friedlich aus, wenn man nur einen kleinen Teil der Welt sieht. Eigentlich ist die Welt schon komisch. Allein wenn man darüber nachdenkt, was alles der Wahrheit entspricht und was eine Lüge ist. Die Welt wird oft besser dargestellt, als sie ist. Und die Menschen haben dementsprechend keine Ahnung, was wirklich passiert. Was eine Lüge ist und was der Wahrheit entspricht. Ein Beispiel ist Urlaub machen. Die Menschen fahren doch oft in den Urlaub, um einen anderen Teil der Welt zu sehen. Doch wohin fahren sie? In irgendwelche Hotels, in denen das Leben perfekt dargestellt wird. Man macht ein paar Ausflüge zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten und meint anschließend, das Land zu kennen. Aber das Land ist doch nicht so, wie es in den Hotels dargestellt wird. Dort wird es dargestellt wie ein Paradies. Ist auch logisch, sonst würden die Menschen ja dort nicht einchecken. Meistens ist ein paar Kilometer von dem Ferienparadies entfernt alles ganz anders. Vielleicht ist Armut zu sehen. Oder sogar Kämpfe und Kriege. Das wahre Leben eben. Die Wahrheit. Der Alltag. Die Welt wird verschönt, weil die Menschen irgendwie Geld verdienen müssen. Wenn alle der Wahrheit ins Gesicht schauen würden, würde niemand mehr dort Urlaub machen. Man fährt schließlich nicht in den Urlaub, um Armut zu sehen. Sondern um zu entspannen und um sich eine Auszeit zu gönnen. Doch das Land kennt man danach ganz sicher nicht. Man kennt einen Teil der verschönten Welt. Man kennt praktisch die Lüge des Landes, die schöne Seite des Landes. Aber das wirkliche Leben des Landes, dementsprechend die Wahrheit des Landes, kennt man nicht. Ganz sicher nicht.

Ich bin der Meinung, unter den Menschen ist es oft nicht anders. Nicht alle Menschen sind so, allerdings gibt es Menschen, die nur Lügen verbreiten, um selbst besser dazustehen. Wenn man das wahre Gesicht dieser Personen irgendwann erkennt, erschrickt man. Auch kommt es leider vor, dass Menschen über andere Menschen Lügen verbreiten, da sie nur Stichwörter aufgenommen haben, etwas falsch verstehen und Gerüchte verbreiten oder gewisse Personen einfach nicht leiden können und es denen heimzahlen wollen. Man kann in der heutigen Welt nie wissen, ob man das wahre Gesicht einer Person kennt. Man kennt nur das, was über die Person erzählt wird, und das, was die Person über sich preisgibt. In beiden Fällen kennt man die Person im Nachhinein nicht. Wenn man das kennt, was andere erzählen, kennt man die Gerüchte, die definitiv nicht immer stimmen müssen. Man kennt das Bild, wie andere die Person sehen, aber bei Weitem kennt man nicht die Person selbst. Und auch, wenn man das kennt, was die Personen über sich sagen, muss es nicht stimmen. Sie können sich in ein besseres Licht stellen. Und selbst wenn es stimmt, muss es nicht heißen, dass man das Leben einer Person dann kennt. Man kennt immer nur das, was die Person über sich erzählt. Nie das komplette Leben einer Person. Es gibt immer etwas, was sie einem verschweigt. In der heutigen Welt weiß man nie, ob es das wahre Gesicht einer Person ist, in das man schaut, und ob es die Wahrheit von der Welt ist, die dargestellt wird. Ob alles nur eine Lüge oder ob es die Wahrheit ist.

Ich schrecke nach oben und raus aus meiner Gedankenwelt. Das Telefon klingelt. Vielleicht ist es ein Anruf aus dem Krankenhaus oder von meiner Mama. Vielleicht ist Kilian aufgewacht oder es gibt eine Besserung seines Zustands. Oh Kilian. Ich wäre so glücklich, wenn alles gut werden würde. Ich springe auf und renne hektisch in das Wohnzimmer.

Ein verpasster Anruf von Philias, steht auf dem kleinen Display. Es war nur Philias. Auch wenn er mein bester Freund ist, möchte ich gerade nicht mit ihm sprechen. Ich möchte mit niemandem sprechen. Ich lasse den Kopf hängen. Schon wieder habe ich mir Hoffnungen gemacht, dass Kilian aufgewacht ist. Ich mache mir bei jedem Klingeln Hoffnungen. Egal ob Telefon oder Türklingel. Und dann steht nur der Postbote davor und ich könnte auf der Stelle losheulen, weil ich mir solche Hoffnungen gemacht habe. Hoffnungen auf gute Nachrichten. Man sollte sich niemals Hoffnungen machen. Egal wegen was. Wenn es nicht so kommt, wie man will, ist man nur enttäuscht. Diese Ungewissheit, nicht zu wissen, woran ich bin, macht mich komplett fertig.

* * *

Ich habe beschlossen, mich in mein Bett zu pflanzen und einen Kaffee zu trinken. Mittlerweile ist es fast 23 Uhr. Um diese Uhrzeit trinke ich eigentlich keinen Kaffee mehr, aber heute ist irgendwie alles anders. Ich denke wieder zu viel nach, doch ich bin nicht so niedergeschlagen wie in den letzten Stunden. Viele behaupten immer, das Leben sei nicht fair. Könnte man ja auch behaupten. Gerade ich könnte das behaupten. Ich meine, wo ist es bitte fair, dass die Liebe meines Lebens im Koma liegt und mich allein gelassen hat? Das ist nicht fair. Ganz bestimmt nicht.

Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger Sinn macht es. Man könnte nämlich wiederum auch behaupten, dass das Leben doch fair ist, weil es zu allen Menschen unfair ist. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob meine Theorie logisch ist. Ich glaube allerdings nicht, dass es Sinn ergibt. Es gibt Menschen, die müssen in ihrem Leben viel Schlimmeres durchmachen als andere. Das Leben ist also zu manchen Menschen fairer als zu anderen. Somit ist das Leben doch unfair. Das Leben ist unfair, weil es zu manchen Menschen unfairer ist als zu anderen. Komplizierte Sache mit dem Leben. Doch was nicht kompliziert ist, ist, dass wir Menschen brauchen. Wir brauchen die Menschen, die wir lieb haben, einfach. Ganz besonders in den Momenten, in denen es uns schlecht geht. Manchmal schaffen wir es nicht allein, aus dem großen schwarze Loch heraus. Wir brauchen einen Menschen, der sich zu uns setzt und uns sagt, dass es wirklich nicht schön dort ist. Jemanden, der uns die Hand reicht und uns aus diesem düsteren Loch zieht, weil wir es ohne Hilfe einfach nicht schaffen. Jemanden, der uns auf andere Gedanken bringt, uns ablenkt und für uns da ist. Jemanden, der uns liebt, ganz egal, in welcher Situation man sich befindet.

Es ist nicht kompliziert. Es ist eine Tatsache, dass wir die Menschen brauchen, die wir lieben. Manchmal braucht es nur ein wenig, bis wir das verstehen. Genauso ist es bei mir. Ich wollte für mich allein sein. Mit meiner Trauer allein sein. Doch manchmal ist das gar nicht so gut. Manchmal müssen wir einfach über unsere Probleme und Gedanken reden. Auch wenn wir dann noch einmal weinen müssen, weil alles wieder hochkommt, danach geht es einem besser. Manchmal muss man einfach alles rauslassen und es nicht in sich hineinfressen. Das macht einen nur kaputt.

Ich weiß, dass das Leben nicht fair ist. Gerade jetzt ist es absolut nicht fair zu mir. Doch ich kann diese Situation nicht ändern. Dazu bin ich nicht fähig. Ich sollte mich nicht von allem abschotten. Ich brauche die Menschen, die ich liebe. Mein Gott, wie konnte ich nur so blöd sein? Ich brauche Philias in meinem Leben. Dringend. Ich brauche doch meinen besten Freund. Er ist bestimmt ganz krank vor Sorge, weil ich mich seit Ewigkeiten nicht gemeldet habe. Nur, weil ich so stur war und lieber in meiner Trauer ersticken wollte. So ein Schwachsinn.

Langsam stehe ich auf. Ich gehe in den Flur, nehme das Telefon in die Hand und setze mich an das Fenster. Es ist stockdunkel geworden. Der Mond steht weit oben am Himmel und wirft Licht in mein Zimmer. Die Welt sieht mal wieder so friedlich und unschuldig aus. Auf den Straßen ist nichts los. Ich wähle eine Nummer und warte. „Komm schon. Geh ran. Ich weiß, dass du noch wach bist.“ Tatsächlich nimmt er kurze Zeit später ab.

„Philias? Es tut mir so leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich brauche dich doch.“

*


*

Seljalandsfoss

Mai 1998

Immer diese Menschen, die zu spät kommen müssen. Wo bleibt er nur? Oh Gott. Weiß er überhaupt, wann er am Flughafen sein muss? Ich dachte, Philias hätte es ihm gesagt! Seine Verspätung ist definitiv nicht in meine Zeitplanung mit eingerechnet! Also wenn er hier nicht bald auftaucht, dann gehe ich ohne ihn.

Nein! Stopp! Ich kann nicht allein in ein Flugzeug steigen. Ich brauche jemanden an meiner Seite. Ich bin noch nie in meinem Leben geflogen. Das machen meine Nerven nicht mit, wenn er mich jetzt allein lässt. Wieso taucht dieser Kerl denn nicht auf? Mein Gott, bin ich eigentlich dumm? Wieso habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wieso fliege ich mit jemanden, den ich eigentlich gar nicht kenne, einfach so ans andere Ende der Welt? Aber Philias hätte mich niemals mit jemandem weggelassen, wenn er nicht genau wüsste, wie er tickt. Philias ist wie ein großer Bruder für mich, wie ein Beschützer.

Wo zum Teufel steckt Kilian? Ich laufe langsam zum Check-in-Schalter vor, bleibe aber nach zwei Schritten stehen. Ich kann das nicht ohne ihn. Wo bleibt er nur? Ich kaue auf meiner Lippe herum und stelle meinen Koffer neben mir ab. Ich spüre eine Hand an meiner Taille und zucke zusammen. Aua! Jetzt habe ich mir auf die Lippe gebissen! So ein Mist! Kurz bevor ich um mich geschlagen hätte, erkenne ich Kilian. Ich atme erleichtert aus. „Du bist zu spät!“, zische ich und schlendere mit meinem Koffer an ihm vorbei, vor zum Check-in-Schalter. Er macht zwei große Schritte und hat mich wieder eingeholt.

„Ich bin nicht zu spät! Voll pünktlich. Nur zwanzig Minuten zu spät. Aber die Zeit reicht doch noch vollkommen aus.“ Er zieht die Augenbrauen hoch und grinst mich an. Mein finsterer Blick lässt sein Grinsen leider nicht auslöschen. Wenn das jetzt sieben Monate so geht, raste ich aus. Es ist schließlich nicht nur ein Urlaub, sondern fast eine Weltreise.

* * *

„Darf ich dich mal was fragen?“

Wir sitzen nebeneinander im Flugzeug und sind gerade gestartet. Ich habe immer noch ein mulmiges Gefühl. Der Druck in meinen Ohren lässt langsam nach. Es ist schon faszinierend, dass so eine schwere Maschine abheben kann. Die Welt sieht von oben so unfassbar klein aus. Alles schaut aus wie Spielzeug. Wie eine Landschaft in einem Modelleisenbahnmuseum. Ich habe darauf bestanden, dass ich am Fenster sitzen darf. Kilian hat mich schon total komisch angeschaut, als ich ihm erzählt habe, dass ich noch nie geflogen bin. Ich wende meinen Blick nur langsam vom Fenster ab und schaue ihn fragend an.

„So eine Reise ist ganz sicher nicht billig. Ich meine, es sind sieben Monate. Wo hast du das ganze Geld her, wenn du auch noch die Tickets für Philias mit bezahlt hast?“

„Meine Oma hatte viel Geld, als sie starb. Sie hat es mir und meinem Bruder vermacht, als sie leider von uns gegangen ist. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich ihre Lieblingsorte auf der Welt auch einmal sehe. Sie ist viel gereist in ihrem Leben. Ich glaube, ein wirkliches Zuhause hatte sie nicht. Sie war überall Zuhause. Kurz bevor sie starb, gab sie mir eine Liste mit den Ländern, die sie liebte und die ich mir unbedingt anschauen solle. Diese Liste arbeite ich jetzt ab.“

Er nickt nachdenklich und wendet seinen Blick wieder von mir. Ich drehe mich gerade wieder zum Fenster, als er mich anstupst. „Ist mir ein bisschen peinlich, das jetzt zu fragen. Hab’ eben nicht aufgepasst. Aber ... ähm wohin fliegen wir eigentlich? Irland? Island? Irgendwas mit I. Oder?“ Ich muss lachen. Als ob er einfach in ein Flugzeug steigt, mit einer wildfremden Person neben sich, und nicht mal weiß, wohin es geht. Philias scheint ihm ja echt viel erzählt zu haben.

„Unsere erste Station ist Island.“

„Ist es da nicht total kalt?“ Er verzieht das Gesicht.

„Na ja fünf Grad, wenn wir Glück haben. Aber glaube mir, die Landschaften müssen der Hammer sein! Die werden dir auch gefallen, obwohl es kalt ist.“

„Musst mich noch überzeugen von dem Land, befürchte ich. Wo geht es danach hin?“

„Das sag ich dir nicht. Lass dich überraschen, wo die Flugzeuge dich so hintragen“, sage ich schmunzelnd.

Er verdreht die Augen. „Ich wandere doch gerne durch die Welt, ohne zu wissen, wo wir gerade sind. Und wo übernachten wir? Ich hoffe ja mal nicht, auf der Straße.“

„Doch natürlich. Als ob ich dich mit in meinem Bett schlafen lasse.“

Jetzt müssen wir beide lachen.

„Nur der Anfang der Reise ist komplett gebucht. Am Ende sind es nur die Flüge, da habe ich noch keine Jugendherbergen. Aber wir sind ja spontan. Ich hoffe zumindest, dass du es bist. Ich plane nämlich alles eigentlich immer durch. Philias hat mir nur verboten, die ganze Reise von vorne bis hinten zu buchen. Er wollte mir Spontanität beibringen. Ihn hat es genervt, dass ich immer alles planen muss. Dumm ist nur, dass es mich wahnsinnig macht, wenn ich etwas nicht planen kann. Du hast allein schon mit deinen zwanzig Minuten Verspätung meinen ganzen Zeitplan durcheinandergeschmissen. Gewöhn dir das ja ab.“

„Alter Schwede. Hol mal Luft zwischendurch. Das ist ja nicht normal, wie schnell und wie viel du redest. Gewöhn dir das mal lieber ab, sonst halte ich es keine zwei Stunden mit dir aus.“

Ich grinse ihn nur an. Da hat er recht. Das ist eine meiner Schwächen. Ich rede definitiv manchmal zu viel. Und vor allem zu schnell. Ich lehne mich entspannt zurück und schaue aus dem kleinen Fenster. Jetzt kann ich nur noch viele weiße Wolken und blauen Himmel erkennen.

* * *

Nach sechseinhalb Stunden Flug sind wir endlich in Reykjavik angekommen. Die Hauptstadt Islands. Als wir aus dem Flugzeug steigen, ist es tatsächlich kälter, als ich erwartet habe. Da fliegt man im Mai in den Urlaub und es ist kälter als in der Heimatstadt. Aber das hatte ich ja geplant. Die Sommerklamotten bleiben in diesem Monat wohl definitiv im Koffer. Die frische, kalte Luft tut trotzdem gut, als wir endlich aus dem Flugzeug dürfen.

Eine kurze Taxifahrt später sind wir auch in unserem Hostel angekommen. Es ist nicht sonderlich groß, aber bis jetzt sind die Menschen total nett und auch mit unserem Zimmer komme ich klar. Ich stelle meinen Koffer an eine Wand und betrachte das Zimmer genauer. Ein kleines Zimmer, das aber vollkommen ausreichend ist. Es ist mit zwei Betten, einem Tisch, einem großen Schrank und einem Bad ausgestattet. Mich wundert es, dass es sogar zwei Betten gibt und kein Doppelbett hier steht, aber das ist mir auch ganz recht so. Kilian hat schon ein Bett beschlagnahmt und seine Sachen darauf geschmissen.

„Wie lange bleiben wir jetzt hier, wenn ich fragen darf?“, fragt er mich. Die Betten sind so hoch, dass er seine Beine baumeln lassen kann, auch wenn sie nur zwei Zentimeter über dem Boden schweben. Er sitzt da wie ein kleines, ungeduldiges Kind. Irgendwie süß.

„Zwei Wochen. Danach geht es für zwei Wochen in eine kleine Stadt, die auch in Island liegt. Wir reisen immer relativ am Anfang eines Monats ins nächste Land. Und das sieben Monate lang, also sind wir in sieben Ländern unterwegs“, erkläre ich ihm meinen Plan.

„Okay. Gecheckt.“

Wäre auch seltsam, wenn nicht. Ich habe es ja sehr ausführlich erklärt. Erst jetzt bemerke ich, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wer er ist. Bis auf seinen Vornamen weiß ich absolut nichts. Gut, er hat mir seinen kompletten Namen gesagt, aber den habe ich schon wieder vergessen. Ich weiß nicht, wie viel Philias von mir erzählt hat, aber viel dürfte Kilian auch von mir nicht wissen. Ich glaube, ich muss noch so einiges über ihn herausfinden. Ich habe sieben Monate Zeit dafür, beschließe aber jetzt schon, damit anzufangen. Ich will wissen, wer er ist.

„Lass uns noch kurz rausgehen und die Gegend erkunden. Es ist schließlich noch hell.“

Sein Vorschlag kommt mir sehr gelegen. Dann kann ich ihn ja gleich draußen über ihn ausfragen.

Als wir draußen ankommen, erschlägt mich die Kälte für einen kurzen Moment. Ich ziehe meinen Schal tiefer ins Gesicht und mache meine Jacke noch ein Stück weiter zu. Auch Kilian steckt seine Hände erst einmal in seine Jackentaschen. Wir haben zwar über null Grad, aber die Kälte sind wir irgendwie beide nicht mehr gewöhnt. Bei uns in Frankfurt ist es schließlich fast Sommer.

Wir laufen die Straße entlang. Ein paar kleine Geschäfte sind an den Straßenseiten zu erkennen. Was das für Geschäfte sind, kann ich nicht ganz herausfinden, da überall nur alles auf Isländisch über den Ladentüren steht. Von Isländisch habe ich nicht viel Ahnung. Da auch Kilian gerade die Läden kritisch anschaut, nehme ich an, er weiß auch nicht, was das alles heißen soll. Ich schaue zu ihm hoch. Er ist mindestens einen halben Kopf größer als ich. „Erzähl mal ein bisschen über dich. Ich habe eigentlich keine Ahnung, wer du bist.“

„Also, wo fange ich am besten an?“ Er überlegt kurz, dann fängt er an zu erzählen und ich höre seiner schönen, rauen Stimme zu. „Wie du schon weißt, heiße ich Kilian James Settler. Ich bin 23 Jahre alt, werde im November 24. Ich bin Automechaniker und arbeite nebenbei ab und zu abends in Klubs. Und bei dir so?“

Ein Automechaniker, der in Klubs arbeitet. Ja, das passt sehr gut zu ihm. Kann ich mir genau vorstellen.

Ich erzähle ihm kurz von meiner abgeschlossenen Ausbildung als Erzieher und davon, dass ich nach dieser Reise in dem Kindergarten anfange fest zu arbeiten. Außerdem erwähne ich, dass ich im April 21 wurde. „Wo kommst du ursprünglich her?“, frage ich ihn neugierig.

„Meine Mum kommt aus Eritrea, im Osten von Afrika. Deswegen meine Hautfarbe. Sie liebte ihr Heimatland. Aber da gab es mich noch nicht. Ich wurde in Frankreich geboren, aber wirklich lange haben wir dort auch nicht gelebt. Wir sind schnell umgezogen und nach Deutschland gekommen.“

„Oh wirklich? Ich wurde zwar in Deutschland geboren, aber meine Eltern kommen ursprünglich aus Frankreich. Deswegen auch der französische Nachname Aveline. Sie mussten leider aufgrund ihrer Jobs umziehen. Ich weiß, wie sehr sie ihr Heimatland Frankreich eigentlich lieben. Wo genau wurdest du geboren?“

„Es ist eine kleine Stadt östlich von Paris. Ich glaube nicht, dass du sie kennst. Sie heißt Gerbepal.“

„Nein, das sagt mir tatsächlich nichts. Meine Eltern kommen beide aus Orleans.“

Kilian nickt nur und so schweigen wir für einen kurzen Moment.

„Wie heißt deine Mama?“, frage ich weiter.

„Neyla Settler.“

Der Name ist wunderschön. Ich würde gerne mit ihm nach Eritrea gehen, um ihm das Heimatland seiner Mama zu zeigen, aber leider steht das nicht auf meiner Liste.

„Was ist mit deinem Vater?“, frage ich, doch Kilian weicht meinem Blick und auch meiner Frage aus. Wir kommen zum Stehen.

„Es ist wunderschön hier“, flüstert er.

Ich folge seinem Blick und erst jetzt fällt mir auf, dass wir nahe am Meer stehen. Ich wusste, dass unser Hostel in der Nähe des Meeres ist, aber es jetzt wirklich zu sehen, ist unglaublich. Es dämmert schon und die Sonne spiegelt sich im Wasser. Der Anblick ist atemberaubend. Es ist unfassbar still hier. Wir stehen lange da und schauen auf das Meer raus. Was wohl mit Kilians Vater ist? Vielleicht hat er Kilian und seine Mama verlassen. Solche Sachen kommen vor. Er ist der Frage dermaßen ausgewichen, das war ganz sicher kein Zufall. Aber vielleicht will er einfach nur noch nicht darüber reden. Ich meine, wir kennen uns ja eigentlich kaum.

Er berührt meinen Arm und zieht mich aus meiner Gedankenwelt. „Lass uns zurückgehen. Es ist verdammt kalt geworden.“

Er hat recht. Ich glaube zwar nicht, dass es kälter ist, als vorhin, aber je länger wir nur an einem Fleck stehen, desto kälter wird es. Ich nicke ihm zu und wir drehen um.

* * *

Wow. Das nenne ich mal ein Sixpack. Wieso sieht er nur so verdammt gut aus? So verdammt gut und heiß. Jetzt geht er sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken. Holy. Da bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als ihn anzustarren. Wieso hat er kein T-Shirt an?!

Plötzlich fängt Kilian an, zu lachen, und reißt mich aus meiner Trance. „Kann es sein, dass da jemand auf Bauchmuskeln steht?“, fragt er mich schmunzelnd.

Ich schaue schnell beleidigt weg von ihm. „Nein. Du solltest definitiv noch mehr trainieren.“

„Komm, gib es zu, dass mein Körper schon geil ist.“

Hat er das jetzt ernsthaft gesagt? Was ein Ego! Jetzt fange ich auch an, zu lachen, und wende ihm meinen Blick wieder zu. Ich schüttele den Kopf. Das sag ich ihm ganz sicher nicht, sonst würde ich ihm ja einen Gefallen tun. „Ist es nicht ein bisschen kalt, so zu schlafen?“, frage ich ihn, da es zwar im Zimmer ganz angenehm ist, aber trotzdem eigentlich keine hohen Temperaturen herrschen.

„Du, also eigentlich hatte ich zwar vor, mir noch was überzuziehen, aber ich kann auch so bleiben, wenn du etwas zum Dahinschmelzen brauchst.“ Ich werde rot. So war das nicht gemeint! Ich lege mich in mein Bett und mache das Licht aus, in der Hoffnung, dass er jetzt auch endlich zu seinem Bett geht und hier nicht halb nackt vor mir steht. Es wird stockdunkel im Zimmer. Okay, das war nicht geplant.

„Hey! Ich muss schon noch irgendwie mein Bett finden. Oder soll ich mit in deins kommen?“

Flirtet er gerade mit mir? Ernsthaft?

Ich mache kurz das Licht an und warte, bis er sein Bett gefunden hat und endlich liegt. Ich drücke wieder auf den Lichtschalter und lege mich hin. Ich höre, wie Kilian sich die ganze Zeit von links nach rechts und rechts nach links dreht. Auch ich kann nicht einschlafen.

„Wusstest du, dass Reykjavik die am nördlichsten gelegene Hauptstadt der Welt ist?“, frage ich leise in Kilians Richtung.

Ich höre nichts mehr von ihm. Vielleicht ist er eingeschlafen.

„Nein, woher auch?“, fragt er leise.

Gut. Er schläft doch noch nicht. Ich zucke automatisch mit den Schultern. Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass er das ja nicht sehen kann.

„Reykjavik heißt übersetzt Rauchbucht.“

„Hast du den Wikipedia-Artikel auswendig gelernt?“

„Nein, eigentlich nicht“, antworte ich lächelnd.

„Dann bist du eindeutig ein wandelndes Lexikon“, stellt er fest.

Ich weiß genau, dass er gerade auch grinsen muss, aber das kann ich in der Dunkelheit nicht sehen.

„Weißt du noch irgendwelche Fakten über Island?“, fragt er weiter.

„Ja, aber nur so nebensächliches Zeug wie zum Beispiel, dass nur ein Prozent des Landes bewaldet ist“, antworte ich ihm. Mir würde bestimmt noch mehr einfallen, aber ich belasse es erst einmal mit dem einen Fakt. Kilian antwortet nicht und auch ich werde langsam müde.

„Gute Nacht, wandelndes Lexikon“, murmelt er.

Ich muss lächeln. „Gute Nacht, Kilian“, sage ich leise. Dann schlafe ich ein.

* * *

Trotz der Kälte sitzen wir noch am Abend mitten in Reykjavik, etwa vier Kilometer von unserem Hostel entfernt. Es ist der letzte Abend hier. Morgen fahren wir weiter. Es war eine schöne Zeit in der Hauptstadt Islands. Wir haben uns die Hallgrimskirche angeschaut. Eine 1986 geweihte Kathedrale mit einem 73 Meter hohen Turm. Den Golden Circle, auf isländisch auch Gullni hringurinn genannt, sind wir entlanggefahren. Das ist eine etwa neunstündige Reiseroute, bei der wir Wasserfälle, Geysire und einen Vulkankrater gesehen haben. Es war wirklich ein schöner Tag, der sich definitiv gelohnt hat. Die Skulptur Sonnenfahrt haben wir begutachtet und auch in der kleinen Bucht Nautholsvik waren wir. Dort war ein sehr schöner goldener Sandstrand, an dem wir einen tollen Tag verbracht haben.

Heute, an unserem letzten Abend, haben wir es uns auf einer Bank gemütlich gemacht und schauen auf den See Tjörnin, der sich in der Stadt befindet. Heute Mittag sind wir hierhergefahren, um ein bisschen durch die Stadt zu schlendern. Es war ein schöner Tag, den wir nun ausklingen lassen. Ich habe das Gefühl, je später es wird, desto mehr Menschen sind in der Stadt unterwegs. Seltsam. Ich schaue mich um. Wirklich überall laufen Leute entlang, die meisten sogar schick angezogen. „Warum sind hier so viele Leute unterwegs?“, frage ich Kilian verwirrt.

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386 s. 11 illüstrasyon
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