Kitabı oku: «Muss es sein?»
SONIA SIMMENAUER
Muss es sein?
LEBEN
IM QUARTETT
Aktualisierte und erweiterte Ausgabe
Meinen Eltern und meinen Kindern Leonard und Arnold
Arnold Steinhardt: Vorwort
Aus dem Alltag einer Streichquartettagentin
Sie arbeiten für Musiker? Ach, wie interessant!
Eine eingeschworene Gemeinde
Wieso ausgerechnet Streichquartette?
Auf Tournee
Hinter der Tür. Innenansichten
Besetzungswechsel
Von einem, der auszog, ein Streichquartett zu gründen
Die Streichquartettform
Zur Einheit
Sehnsucht
Das Geheimnis
Männersache?
Vier Solisten, vier Trios, sechs Duos
Zu groß?
Entscheidungen
Renommee
Freunde?
Wem was gehört
Balanceakt
Warum Streichquartett …?
Es weht ein Wind von Einzigartigkeit!
Probenarbeit
Versuch eines Beginns
Proben um der Freiheit willen
Abschied vom Primarius
Namensgebung
Es muss sein!
Das berührbare Unausgesprochene
Bis dass der Tod euch scheidet!
Nähe und Fremdheit
Abschied und Neuanfang
Quartette, vom Impresariat Simmenauer seit seiner Gründung im Jahr 1989 betreut
Dank
Nachweise
VORWORT
Die erste Begegnung zwischen unserem Guarneri Quartet und Sonia Simmenauer fand statt, als sie für unseren damaligen europäischen Konzertagenten, die Konzertdirektion Hans Ulrich Schmid in Hannover, arbeitete. Als Sonia die Agentur verließ, um ihr Impresariat Simmenauer – wie sie es taufte – zu gründen, ging das Guarneri Quartet mit ihr, als eines der ersten Streichquartette auf ihrer neuen Künstlerliste.
Man wird fragen, warum wir, ein bereits renommiertes und erfolgreiches Quartett, uns ohne Zögern ihrer frischgebackenen Agentur anschlossen. Die Antwort ist einfach. Trotz ihres noch jungen Alters war Sonia absolut vertrauenerweckend. Sie war (und ist) klug, kompetent, persönlich, aufrichtig – ganz einfach eine Kooperationspartnerin, bei der man sich wohlfühlen konnte. Vom Beginn des Impresariats Simmenauer bis zum Ende der fünfundvierzigjährigen Karriere des Guarneri Quartet blieb Sonia unsere Agentin für Europa und andere Regionen außerhalb der USA.
Natürlich ist Sonia eine meisterhafte Managerin. Jahr um Jahr hat sie spannende und erfolgreiche Konzertreisen für uns rund um den Globus zusammengestellt. Aber sie besitzt noch eine andere Eigenschaft, für die ich sie vor allem schätze. Sonia hat – vielleicht auch, weil sie in einer musikliebenden Familie aufgewachsen ist – ein tiefes Verständnis dafür, wie anspruchsvoll das Leben eines Musikers in Wirklichkeit ist. Sie weiß, was für einen Tribut es von einem Musiker fordert, mit Koffer und Instrument zu reisen, in Flugzeugen, Zügen und Taxis, mit täglich wechselnden Hotels, mit Essen, das exotisch und wunderbar sein, aber genauso gut Magenverstimmungen verursachen kann, mit aufreibenden Proben und schließlich dem allabendlichen Drahtseilakt einer Aufführung auf höchstem Niveau. Andere Agenten mochten dazu neigen, um des Konzerthonorars willen noch ein siebtes Konzert in ununterbrochener Folge zu planen – Sonia hingegen vergaß nie, wie wichtig ein freier Tag sein kann und hat uns eher ermuntert, ins Museum oder ins Kino zu gehen, um uns an Leib und Seele zu erfrischen.
Machen Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, auf ein ungewöhnliches Leseabenteuer gefasst, wenn Sie die Seiten von Sonia Simmenauers Buch aufschlagen. Von ihrer einzigartigen Warte aus wird sie Sie in die wunderbare Welt der Streichquartette führen und zudem einen Einblick in das Innenleben des Konzertmanagements geben. Sie erfahren aus erster Hand Details aus dem Leben einiger der bedeutendsten Streichquartette unserer Zeit und hören, was die Künstler dieser Gruppen aus ihrer intimen Kenntnis über die Musik zu sagen haben.
Und schließlich, Sonia, innigen Dank für unsere Freundschaft, für die außerordentlich fruchtbaren Jahre gemeinsamer Arbeit – und meinen Glückwunsch für dieses außergewöhnliche und unwiderstehliche Buch, das Du geschrieben hast!
Arnold Steinhardt
Arnold Steinhardt war Erster Geiger des international gefeierten amerikanischen Guarneri Quartet, von der Gründung des Ensembles im Jahr 1964 bis zu seiner Auflösung im Jahr 2009.
AUS DEM ALLTAG EINER STREICHQUARTETTAGENTIN
Bremen im April:
Ich bin mit meiner Mitarbeiterin aus Hamburg zum Konzert gekommen. Vor dem Konzertsaal treffen wir auf den Bratschisten des Quartetts, er geht den Bürgersteig auf und ab, hart und schnell, raucht eine Zigarette nach der anderen. Wir begrüßen uns herzlich, dann schießt es aus ihm heraus: dies sei leider das letzte Mal, dass wir uns sehen, nach diesem Konzert verließe er das Quartett, der Rest der Tournee sei hiermit abgesagt. Ich nicke, ohne diese Nachricht zu kommentieren, frage ihn, wie es seiner Familie geht. Nach einer kurzen Zeit entschuldigt er sich, er müsse noch üben, er geht durch den Bühneneingang, wir durch den Publikumseingang. Meine Mitarbeiterin sieht mich entgeistert an, ob ich vielleicht nicht verstanden hätte, was er gerade gesagt habe, es sei doch eine Katastrophe, wieso ich denn so ruhig bliebe. Nach dem sehr schönen Konzert gehen wir mit allen vier Musikern ins Restaurant, es wird ein lustiger Abend, spät in der Nacht fahren wir nach Hause und das gesamte Quartett am nächsten Morgen weiter nach Düsseldorf, zum nächsten Auftritt.
Paris im Februar:
Kurz nach 17.00 Uhr ruft eine Veranstalterin an, völlig aufgelöst. Sie fürchtet um ihr Konzert. Sie sei gerade in der Probe gewesen, das Quartett habe unaufhörlich (sie verstand kein Wort, weil sie deren Sprache nicht kannte) gestritten, bis die Cellistin unter Tränen die Bühne verlassen habe. Was sie jetzt tun solle. Ich riet ihr, sich von der Probe fernzuhalten, einen Kaffee trinken zu gehen und sich keine Sorgen zu machen. Ich hörte nichts weiter. Einige Tage später bekam ich einen Brief mit einer guten Rezension des Konzertes.
Bad Kissingen im Juni:
Nach einem Festivalkonzert erscheint eine Kritik mit, kurz zusammengefasst, folgendem Inhalt: die vier Herren hätten trotz düsterster Miene wunderbar gespielt. Nur schade, dass man das Vergnügen nicht mehr haben werde, da bekannt geworden sei, dass das Quartett sich nach dieser Tournee auflösen werde. Nach einer längeren Odyssee durch alle Instanzen der Zeitung finden wir den Journalisten und fragen ihn, woher er diese – falsche – Nachricht bekommen habe. Der Journalist wehrt sich: es sei doch bekannt, dass die vier Herren untereinander heillos zerstritten seien und außer auf der Bühne nichts mehr miteinander zu tun haben wollten. Woher er auch noch dies erfahren haben will? Ein Mitarbeiter des Festivals habe ihm berichtet, dass er von der Agentur sehr strenge Auflagen für die Buchung des Hotels bekommen hätte. Die vier Zimmer müssten möglichst weit voneinander entfernt, weder unmittelbar nebeneinander noch direkt übereinander liegen. Daraus könne man nur solche Schlüsse ziehen.
Bonn im Januar:
Kurz vor einem Konzert sitzen drei Herren des Quartetts in der Garderobe und zupfen witzelnd an ihren Instrumenten, der Vierte fehlt. Ich weiß, dass der Vierte getrennt anreisen und in einem anderen Hotel wohnen sollte. Ich frage etwas nervös, ob sie etwas von ihm gehört hätten, ob ich mich erkundigen soll, es ist immerhin schon Viertel vor acht. Leicht amüsiert antworten sie mir, der Kollege hätte in über dreißig Jahren noch kein Konzert ausgelassen. Beschämt, aber nicht wirklich beruhigt verlasse ich das Künstlerzimmer und setze mich auf meinen Platz im Zuschauerraum, warte gespannt auf den Anfang des Konzertes, bereit für die Katastrophe. Um Punkt acht Uhr gehen zum Zeichen des Konzertbeginns die Lichter aus, die Bühne wird hell, alle vier betreten das Podium.
Berlin im November:
Ich begrüße das Quartett vor seinem Konzert in der Berliner Philharmonie. Wir hatten verabredet, dass wir uns anschließend zusammensetzen, um über die weiteren Pläne für das nächste Jahr zu sprechen. Die Musiker sehen mitgenommen aus, die Stimmung ist bleischwer, aber ich traue mich nicht zu fragen, was los ist. Das Konzert ist merkwürdig, die Gefühle scheinen auf der Haut zu liegen. Nach dem Konzert warte ich auf sie, noch werden sie von begeisterten Zuschauern, alten Freunden und ehemaligen Studenten umringt. Ich habe das Gefühl, dass ich besser gehen sollte. Ich frage, ob es vielleicht nicht passend sei, biete an, zu einem anderen Konzert der Tournee wiederzukommen. Sie wissen es noch nicht, wir müssten erst alle zum Hotel fahren, der Kollege müsse zu Hause anrufen. Noch immer verstehe ich nichts, nur dass es ernst ist. Im Hotel angekommen, verschwindet der Betroffene im Aufzug, die anderen setzen sich in die Hotelhalle, es kommt kein Gespräch auf, banges Warten. Als er zurückkommt, stehen sie auf, schauen ihn an, und sie fallen sich in die Arme mit Tränen in den Augen. Ich komme mir so indiskret vor, es ist alles so intim, ich möchte verschwinden. Bald haben sie sich wieder gefangen und erklären mir, dass die Frau des Kollegen heute die Ergebnisse einer gefürchteten Untersuchung erwartet habe, und es sei alles gut. Der Abend gerät besonders fröhlich.
München im Mai:
Es ist das Ende einer Tournee, die dramatisch angefangen hatte. Kurz vor Probenbeginn stellte sich heraus, dass eines der Mitglieder schwer erkrankt war und sich sofort einer Behandlung unterziehen musste. Es war sein großer Wunsch, dass die Tournee nicht abgesagt wird, sondern einer seiner ehemaligen Studenten ihn vertritt. An diesem Abend sitzen wir, der Cellist und ich, nach dem Konzert zusammen und blicken auf diese für alle – emotional und arbeitsmäßig – sehr anstrengende Zeit zurück. Der Cellist erzählt, wie er und seine beiden anderen Quartettkollegen sich nach einem der ersten Konzerte noch auf ein Bier im Hotel trafen, erschöpft, aber froh darüber, ein doch sehr erfolgreiches Konzert gespielt zu haben, traurig und besorgt um den Erkrankten, sich fast entschuldigend, dass sie dennoch gespielt haben, und sich beichteten: »Wir spielen aber doch so gerne Quartett.«
SIE ARBEITEN FÜR MUSIKER? ACH, WIE INTERESSANT!
Bereits im 18. Jahrhundert hatten zahlreiche berühmte Künstler einen Sekretär, der für sie die administrativen, praktischen Dinge ihres Künstlerlebens erledigte und vom Künstler für seine Dienste bezahlt wurde. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde aus dem Sekretär der Impresario. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der Impresario in manchen, wenn nicht sogar in allen Fällen das Geschäftsrisiko eines Konzertes übernahm, wobei er dem Künstler eine garantierte Summe bezahlte, dafür aber den Erlös des Verkaufs der Eintrittskarten für sich behielt. (Mitunter bezahlte er den Künstler auch nicht – es gibt ganze Bücher über aufsehenerregende Skandale, wie Impresarios reich wurden und ihre Künstler jämmerlich verarmten.)
Der Beruf des Impresarios hat sich seitdem in mindestens zwei Berufe aufgeteilt: den des Veranstalters – der die Konzerte vor Ort organisiert, bewirbt und der das finanzielle Risiko trägt – und den des Agenten – der auf der Seite des Künstlers steht, dessen Konzertkalender führt und alles, was mit den Konzerten zusammenhängt, organisiert bis hin zu den Nachkonzertabendessen. Veranstalter und Agenten sind die zwei Seiten einer Konzertplanungsmedaille und sind deshalb aufeinander angewiesen.
Ich bin Konzertagentin. »Formell« arbeite ich also für die Künstler und vertrete deren Interessen, tatsächlich bin ich aber Vermittler zwischen Künstlern und Veranstaltern: Es geht auch darum, die Wünsche der einen mit den Vorstellungen der anderen zusammenzubringen, manchmal mit Diplomatie, auch mal mit List.
Konzertagenten sind in der Musikbranche die meistbegehrten und meistverschrienen Leute. Begehrt, weil ihnen unterstellt wird, dass sie den Schlüssel besäßen, der die Türen zu Karrieren öffnet, und verschrien, weil sie von dem leben, was ihre Künstler verdienen (Prozentsätze – Provisionen). Ihnen wird angelastet, ihre Künstler ohne Rücksicht auf Kunst (und Gesundheit) durch die Welt zu jagen, um sich zu bereichern. Aber so wirklich kann sich wirklich keiner einen Reim davon machen, was ein Künstleragent ist.
Nach meinem Beruf gefragt, wird die Antwort, »Künstleragentin«, stets mit »Ahs« und »Ohs« oder »Wie spannend!« quittiert, gefolgt von vielen Fragen:
Was heißt das: Künstleragent? Ist das eine Art Makler? – In gewisser Weise ja, allein deswegen, weil wir Künstler gegen Provisionen für Konzerte vermitteln.
Ob man bei mir Konzertkarten kaufen könne? – Nein, ich habe mit der Veranstaltung vor Ort nichts zu tun.
Ob ich mit meinen Künstlern zu ihren Konzerten mit herumreise? – Nein, ich fahre zu manchen ihrer Konzerte hin, um die Künstler zu hören und zu treffen, aber mitreisen tue ich nicht.
Ob ich die Konzertkleidung aussuche und mit dem Künstler einkaufen gehe? – Auf gar keinen Fall!
Bestimmt habe ich einen tiefen Einblick in das Privatleben meiner Künstler; ob ich denn mit ihnen auch befreundet bin? – Nein. Ich halte mich prinzipiell vom Privatleben der Künstler so fern wie nur möglich. Aber es spielt bei der Planung und den Logistikfragen natürlich eine Rolle, und ich kann aus den Nichtigkeiten des Alltagsbetriebs vieles erspüren. Zweifel, Sorgen und Verzweiflung, Müdigkeit, Überdrüssigkeit, Zerbrechlichkeit und Unsicherheit vermitteln sich durch ganz banale Fragen des Alltags. Worum es sich dabei genau handelt, wenn es im privaten Bereich liegt, erfahre ich – wenn es sich nicht unmittelbar auf ein Konzert auswirkt – womöglich nie.
Und nein, ich bin mit meinen Künstlern nicht per se befreundet. Ein freundschaftlicher Umgang miteinander ist natürlich wünschenswert, ein grundsätzliches Vertrauen, Respekt und vor allem das Miteinander-Reden- und möglichst auch -Lachen-Können. Manche Beziehungen sind etwas stürmischer, keine ist neutral, aber Freundschaft ist nicht die Basis eines professionellen Verhältnisses zwischen Agenten und Künstler. Freundschaften (gar sehr schöne!) können allerdings über die Jahrzehnte daraus erwachsen!
Ob ich etwa selbst Musikerin sei und mich in die künstlerischen Belange einmischen würde?? – Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich bin keine Musikerin, ich habe aber nach so vielen Jahren einer unmittelbaren »Erziehung« ein geschärftes musikalisches Ohr. Es geht in meiner Rolle auch nicht primär darum, zu beurteilen, ob eine Interpretation den Notentext ganz getreu wiedergibt; sondern vielmehr darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob ein Künstler oder eine Künstlergruppe – insbesondere natürlich ein Streichquartett – etwas ausstrahlt, was über die Bühne hinausreichen kann, oder ob ein Künstler sich womöglich selbst bremst, weil er einem fremden Ideal hinterherhechelt. Ich kann und sollte zu Zeiten manches hinterfragen und im Idealfall versuchen, den Musiker zur Reflexion zu animieren und dadurch einen Prozess in Gang zu setzen. Wie viel davon in der Beziehung Agent-Künstler wirklich möglich ist und stattfindet, bleibt sehr individuell. Es sollte mit sehr leichter Hand geschehen und besser nur auf Initiative des Künstlers – ansonsten droht die Gefahr, als ungebetener Überbringer schlechter Nachrichten angesehen und nach dem Motto: »Schlagt den Boten« bestraft zu werden.
Tatsächlich ist der Platz des Agenten ein faszinierender, kaum verortbarer, voller Widersprüche: Er ist dem Künstler an seiner empfindlichsten Eigenschaft ganz nahe, arbeitet unmittelbar an oder mit seiner Auseinandersetzung mit seiner Kunst, mit seinem Tragen seines Talents. Gerade deswegen ist es besonders wichtig, eine warme aber doch entschiedene Distanz zu bewahren und ihm zu ermöglichen, einen jederzeit zum Fremden zu machen, weil man vielleicht zu viel weiß.
EINE EINGESCHWORENE GEMEINDE
Für den, der ein Instrument spielen lernt, ohne den Ehrgeiz, daraus seinen Beruf zu machen, kann das Streichquartettspielen das höchste Ziel werden. Wer das Instrument so gut beherrscht, dass er sich an die Partituren der großen Meisterwerke der Kammermusik und insbesondere der Streichquartettliteratur wagen kann, dem steht eine wunderbare Zukunft als Amateurmusiker bevor. Ein großer Schatz, der ihn gegen die Frustrationen und Rückschläge des Alltags Trost finden lässt, durch den er auch mit anderen etwas wird teilen können, das kein Gespräch ersetzen kann.
Streichquartettspielen ist a priori kein Beruf, es gibt das Wort Streichquartettist nicht! Es beschreibt lediglich eine bestimmte Form des gemeinsamen Musizierens und ein Repertoire, dem sich im Prinzip jeder, der eine Affinität zu dieser Musik hat, widmen kann. Das Streichquartett besteht aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello. Der Inbegriff von Hausmusik sind die vielen Streichquartette, die sich regelmäßig im privaten Raum treffen, um zu musizieren. Sie tragen keinen Namen, sie treten nicht öffentlich auf und bestehen in unveränderter Formation manchmal über Jahrzehnte.
Diese Amateure sind aber nicht nur eifrige Instrumentalisten, sondern bilden auch den Kern des Kammermusikpublikums. Es ist ein kundiges Publikum, das den musikalischen Text kennt, gnadenlos präzise und fundiert kritisiert, gleichwohl zu großer Begeisterung fähig ist, weil es weiß und einschätzen kann, was zu dieser gemeinsamen Aufführung und Aussage, deren Zeuge man gerade ist, gehört. Immer wieder zückt jemand diskret (oder weniger diskret) eine Taschenpartitur samt spitzem Bleistift, um sich während des Konzertes eifrig Notizen zu machen. Das ist dann aber meist kein Kritiker, der anhand der Partitur pedantisch seine Rezension skizziert, vielmehr wird es sich um einen regen Amateurmusiker handeln, der sich für seine nächste Probe mit Argumenten wappnet. Es kommt vor, dass nach dem Konzert ein Zuhörer mit der Partitur zu den Künstlern geht und die eine oder andere ihm »fremd klingende« Interpretation besprechen, gar diskutieren will. Er wird nicht immer freudig empfangen!
Verglichen mit dem Publikum bei Orchesterkonzerten, großen Solo-Recitals oder gar Opern, die alle mehr oder weniger Events ähneln (oder sind), wirkt das Streichquartettpublikum wie eine kleine eingeschworene Gemeinde von Musikliebhabern, die ins Konzert gehen wie Literaturliebhaber zu einer Lesung oder zu einem philosophischen Abend.
Andächtige Gemeinde! Wenn bei einem Streichquartettkonzert ein Veranstalter auf die Bühne tritt, um eine Programm- oder Terminänderung anzusagen, habe ich immer die Phantasie, dass er gleich eine Predigt halten wird.
Streichquartettmusik ist offenbar nichts für junge Leute. Das ist der Eindruck, den bekommt, wer das Durchschnittsalter des Quartettpublikums zu errechnen versucht. Kommt man auf einen Durchschnitt von ungefähr fünfzig Jahren, hat man ein Konzert erwischt, das von einem erstaunlich jungen Publikum besucht wurde. Besonders bei Konzerten junger Streichquartette fällt die Altersdiskrepanz zwischen Künstlern und Publikum auf. Vielleicht ist der Umstand, dass da so wenige junge Leute anzutreffen sind, darauf zurückzuführen, dass ein Streichquartettkonzert ernst, still und lang wirkt – was nicht heißt, dass es leise ist. Über zwei Stunden dieselben vier Leute auf der Bühne, ohne Umbau, ohne nennenswerte Bewegung, ohne großartige Eindrücke wie den ohrenbetäubenden Lärm eines Riesenorchesters oder die Faszination eines kleinen Menschen (stehend) vor einem Meer von Musikern (sitzend), dessen Stimme sich über das Ganze erhebt. Nein, vier Menschen sitzen mehr oder weniger im Kreis, miteinander »redend«.
Weniger die vermeintliche leise Form schreckt die jungen Leute ab als der Ruf, der das Streichquartett umgibt. Das Streichquartett galt und gilt noch immer als hochintellektuell, eben nicht populär, sondern elitär, weshalb der Hörer, der von Musik nicht viel Ahnung hat, fürchtet, es würde schwer zugänglich und verständlich sein. So ist vielleicht zu erklären, dass die meisten Kammermusikkonzerte von privaten Vereinen – im modernen Sprachgebrauch würde man sie »Selbsthilfegruppen« nennen – veranstaltet werden, zu denen sich Liebhaber dieser Musik zusammengeschlossen haben, um diese überhaupt im Konzert hören zu können.
Aus der Internet-Präsentation der Gesellschaft der Musik- und Kunstfreunde Heidelberg e. V. (2004):
»Die in Heidelberg als MuKuH bekannte Gesellschaft wurde im November 1945 kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet. Der Hunger nach guter Musik und Kunst, insbesondere solcher, die in der Nazi-Zeit verboten war, ließ engagierte Bürger zur Selbsthilfe greifen: Die Gesellschaft veranstaltete ihre ersten Konzerte und Kunstreisen nach dem Krieg unter schwierigsten Bedingungen (z. B. wurde, wie aus alten Chroniken hervorgeht, darum gebeten, für Konzerte Holz und Kohle mitzubringen, damit der Konzertsaal ein wenig geheizt werden könne). Vorstands- und Beiratsmitglieder besorgen ehrenamtlich in ihrer Freizeit sowohl die Vorbereitung der Konzerte als auch deren Durchführung, von der Kontrolle der Eintrittskarten über den Verkauf der Abendprogramme bis zur Betreuung der Künstler.«
Also ein Publikum, das zum großen Teil sich selbst der Sache verschrieben hat, vor dem der Nichtkenner Scheu hat, weil er sich in der Pause nicht wie die anderen über das richtige Tempo oder die ausgelassene Wiederholung im dritten Satz unterhalten kann, und das junge Leute durch seine Bürgerlichkeit und sein Alter abschreckt. Der Veranstalter, der Verein ist demnach das Publikum selbst.
Ob er mir etwas über seine Motivation schreiben würde, fragte ich Herrn Harry Jahns, Vorsitzender des Vereins Iburger Schlosskonzerte e. V.:
»Verehrte, liebe Frau Simmenauer,
Ich bin leidenschaftlicher Amateurgeiger und Bratscher! Mit zwei Freunden spielen wir seit einem Vierteljahrhundert in gleicher Besetzung Streichquartett, sind aber eigentlich keinen Schritt weitergekommen. Auftritte haben wir gelegentlich bei Ausstellungseröffnungen in der Sparkasse oder bei Vereinsjubiläen.
Anlass zur Gründung unserer Kammermusikreihe waren zwei Dinge: der schöne frühbarocke Rittersaal im Schloss und Eigeninteresse. Zum zweiten Punkt muss ich Ihnen sagen, dass, wenn ich ein Streichquartett, Klaviertrio oder Klavierquartett einlade, immer ein Werk dabei sein muss, das wir in der Besetzung vorbereitend bewältigen können. Das erhöht nicht nur das eigene Hörvergnügen, sondern befähigt mich, Treffenderes über die erwartete Musik vor Konzertbeginn zu sagen – beileibe nicht jedes Mal! – beziehungsweise in meinem Einladungsbrief, den ich vor jedem Konzert an unsere Stammkundschaft verschicke, zu schreiben.
Ein besonderer Glücksfall ist mein Mitarbeiterteam. Vom Einholen der Werbung über Verteilen der Plakate, Kasse und Garderobe machen wir fast alles selbst, aber! Keiner redet mir bei der Programmgestaltung herein! Alle steuerlichen und sonstigen finanziellen Dinge erledigt zum Beispiel die ehemalige Apothekerin. Einziges Prinzip bei der Programmgestaltung ist, dass wir nichts von ›Crossover‹* halten und dichte, ereignisreiche Kammermusik anbieten. Die meisten Besucher kommen aus dem nahe gelegenen Osnabrück, und die Stammhörerschaft hat sich erst allmählich vergrößert, so dass wir erst in den letzten fünf Jahren fast immer ein volles Haus haben.
Ich würde mich wirklich freuen, gelegentlich wieder von Ihnen zu hören und grüße Sie freundlich!
Harry Jahns«
*möglichst keine Bearbeitungen
Vereine haben auch Rituale und Geschichten, auf die ihre Mitglieder stolz sind. Seit Jahrzehnten wird in demselben Lokal derselbe Tisch für das »Essen danach« mit den Künstlern reserviert, oder bestimmte Mitglieder laden »reihum« zum späten Abendessen ein. Alle Quartette, die in Hamburg aufgetreten sind, können von den berühmten Einladungen des jahrzehntelang amtierenden Vorstandsvorsitzenden Herrn Jung und seiner Frau erzählen, zu deren Programmpunkten immer auch die eingehende Betrachtung seines schönen Amati-Cellos gehörte. Herr Jung saß dann immer neben dem Cellisten, und es wurde ein ganzes Stück des Streichquartettrepertoires von Cellist zu Cellist besprochen.
Herr Dr. Sprengel, Inhaber der Hannoveraner Schokoladenfabrik und großer Mäzen, war Vorsitzender der Kammermusikgemeinde Hannover. Er spielte auf dem Register der Streichquartette wie mit geschlossenen Augen auf einem Klavier. Er kannte sie alle, viele auch persönlich, und wusste genau, wer welche Werke wann und vor allem wie in Hannover gespielt hatte. Laut Vereinssatzung sollte jährlich eine Mitgliederversammlung stattfinden, um über das Geschäftsjahr Bericht zu erstatten und durch eine Wahl (oder Wiederwahl) die verschiedenen Posten der Vorstände, Vizes, Schatzmeister etc. zu besetzen. Dr. Sprengel war nicht nur Vorsitzender, sondern in hohem Maße auch Förderer der Vereinigung. Tatsächlich führte er die Kammermusikgemeinde allein, entschied über die Interpreten und Programme. Dabei hielt er sich an die »Vereinsregeln«, jährlich eine Versammlung einzuberufen, per Zeitungsannonce, nur jedes Mal unter einer anderen Rubrik, in der eine solche Nachricht niemals vermutet werden konnte (Umzüge, Tierbetreuung). Die zu Beschlüssen notwendige Anzahl von Mitgliedern wurde persönlich eingeladen, nach seinen eigenen Kriterien.
Es scheint fast so, als seien es hier die Zuhörer, die die Künstler persönlich einladen, um auf der Bühne die Werke exemplarisch vorgeführt zu bekommen, an denen sie sich selbst im eigenen Wohnzimmer abarbeiten. Entsprechend hoch ist der an die professionellen Musiker gestellte künstlerische Anspruch. Eine Anekdote erzählt, dass ein sehr versierter Veranstalter ein berühmtes Quartett aufgrund einer ausgelassenen Reprise für Jahre von seinem Programm verbannte.
Gleichwohl erzeugt die Materie eine große Gemeinschaft, weil alle vor der Partitur, ob auf der Bühne oder im Wohnzimmer, das gleiche Los teilen. Manch ein Amateurstreichquartett wird sein häusliches Repertoire nach den Programmen der örtlichen Konzertreihe aussuchen und die Konzerte als eine Art Vortrag oder Unterricht definieren, andere werden ihren Einfluss im Verein ausüben, um die Künstler einzuladen, die ein Programm nach ihren Vorgaben spielen können. Das »Familiäre«, das auch zu der besonderen Atmosphäre der Kammermusikkonzerte führt und zu dem Vergleich mit den philosophischen Abenden, hat natürlich auch eine Kehrseite, die ich als Konservatismus bezeichnen würde. Die große Freude, der Grund aller ehrenamtlichen Mühe, zielt mehr auf die Pflege und die Aufführung von Bekanntem und lässt nur sehr wenig Raum für das Neue und erst einmal Fremde.
Auch die ehrwürdige und sehr konservative Gesellschaft für Kammermusik Basel war auf das junge Alban Berg Quartett aufmerksam geworden und lud es schließlich ein, sein Debüt bei ihr zu geben. Die Einladung barg Auflagen: Es durften keine modernen Werke auf dem Programm stehen. Eine erstaunliche Tatsache, da zu der Zeit das Musikleben Basels schon lang unter dem Einfluss Paul Sachers gestanden hatte, eines großen Förderers und Interpreten neuer Musik. In dem vom Quartett vorgeschlagenen Programm hatten die Sechs Bagatellen op. 9 von Anton Webern gestanden, die also ersetzt werden mussten. Das Dilemma war groß: Das Alban Berg Quartett hatte es sich zum Prinzip gemacht, kein einziges Programm ohne ein Werk des 20. Jahrhunderts aufzuführen. Andererseits nutzen die Prinzipien wenig, wenn niemand sie wahrnehmen will. Dazu gehörte, dass das Quartett eine Bühne bekam, um überhaupt ein Publikum gewinnen und ihm neue musikalische Wege aufzeigen zu können. Das Quartett gab nach und akzeptierte die Bedingung. Webern erschien nicht auf dem Programm. Als das Publikum sich anschickte, in die Pause zu gehen, nutzte Günter Pichler den Moment des Applauses und wandte sich an das Publikum: Er kündigte an, dass das Quartett jetzt noch die Sechs Bagatellen von Anton Webern spielen würde, aber diejenigen, die es nicht hören wollten, jetzt den Saal verlassen könnten. Ein einziger Zuhörer ging. Das Publikum empfing das Werk mit großer Konzentration und anschließendem tosendem Applaus.