Kitabı oku: «Im Auge des Betrachters», sayfa 2

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Der erste Eindruck der zwei Frauen ist in Ordnung, definitiv besser als beim letzten Mal. Steven hat uns vorgestellt und die Stimmen der beiden sind freudig, herzlich und wohlklingend. Wenn es etwas gibt, dass ich bei andern bemerke, ist das die Stimme. “Steven hat uns gesagt, ihr zwei seid heute Abend bei der Afterparty am Start und dass wir euch begleiten dürfen. Ist das euer Ernst, wir würden uns total freuen!” Wie leicht es doch ist, Anschluss zu finden, wenn man berühmt ist. Die Frauen schmeißen sich einem quasi an den Hals. “Das lässt sich einrichten, ganz ohne Begleitung wollen wir da nicht auflaufen. Wir brechen später vom Hotel aus auf, am einfachsten wäre es, wenn wir uns dort treffen. Seid ihr mobil?” Beide nicken. “Stephanie ist mit ihrem Porsche hier, sie liebt schnelle Autos, dafür lässt sie auch mal den Alkohol links liegen, stimmt’s?” Schon faszinierend wie schnell Menschen einem sympathisch werden können. Autos sind doch einfach das Geilste auf der Welt. Reinsetzen, losfahren, den Stress des Alltags hinter sich lassen und die Geschwindigkeit genießen. Stephanie merkt an, “Oh ja, schnelle Autos sind ein Traum, ich liebe das Design von deinem BMW Johnny - einzigartig, aggressiv und elegant zugleich!” Mit einem schelmischen Lächeln zu ihrer Freundin fügt sie noch hinzu, “Aber heute werd ich mir schon noch den ein oder anderen Cocktail gönnen, man lebt ja nur einmal.”

Im Anschluss tauscht Steven noch die Nummern mit den Frauen aus und wir machen ab, uns gegen 22:30 Uhr am Hoteleingang zu treffen. Die Frauen können ihr Glück kaum fassen. Früher hatte ich immer den Eindruck, Männer liefen Frauen hinterher, aber in den vergangenen Jahren hat sich meine Meinung doch erheblich gewandelt, es ist keine Frage des Geschlechts, sondern eine des Ansehens. Bist du ein Star, will jede mit dir schlafen. Zurück im Backstagebereich berichten wir Manuel von unseren Plänen, aber dieser winkt ab. “Heute nicht Jungs, meine Frau und ich gehen später noch gemeinsam Essen, heute vor 17 Jahren haben wir uns kennengelernt. Das hat sich so etabliert. Sie holt mich später vom Hotel ab. Ihr kommt sicher auch ohne mich zurecht.” Ganz gewiss, ein wenig neidisch bin ich schon. 17 Jahre, faszinierend.

Zeit die Sachen zusammenzupacken. Angereist waren wir heute Morgen mit unserem kleinen Bus, frisch lackiert, schwarz, mit zwei dicken, silbernen Querstreifen, die von unten halb die Fahrer- und Beifahrertür bis ungefähr zur Mitte hoch laufen und dann dynamisch nach Hinten führen. Für uns drei reicht der kleine Bus, für andere Bands wäre die Kiste schon etwas zu eng. Mir war wichtig, dass die PS Zahl stimmt, da blieb nur der T6 mit allen Extras, die man sich so vorstellen kann: Getönte Scheiben, Sitzheizung, Head-Up Display, alles voll elektrisch, einfach zum verlieben. Am Sound mussten wir selbst ein wenig basteln, aber jetzt stimmt der Bass und der Klang ist vom Feinsten. Da wir früh morgens vor all den Besuchern in den Bussen und Autos angekommen waren, konnten wir noch auf dem Hauptparkplatz parken, so dass unser Equipment schnell aus- und eingeladen werden kann. Das machen wir allerdings zum Großteil nicht mehr selbst, anders als früher, als wir noch kleine unbekannte Musiker waren. Damals hat man sich auch schon mal blöd verhoben und musste dann den nächsten Tag mit verzerrtem Gesicht proben. Heute kommen die Veranstalter selbst auf uns zu und bieten uns Hilfe an. Wie schon gesagt, Star muss man sein.

Das Festival ist noch voll im Gang, gerade versucht ein Anheizer die Stimmung nochmal explizit hochzupushen. Diese Jungs scheinen immer extrem gut drauf zu sein, aber hinter der Bühne sieht man auch oft ein anderes Bild. Auf dem Weg zu unserem Bus kommen wir an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die sich etwas abseits im Kreis versammelt hat. Es sind neun, sechs Jungen und drei Mädchen, allesamt noch nicht oder gerade erst volljährig, würde ich schätzen. Kommen bestimmt aus der Gegend hier und wollten sich das Event der Älteren mal anschauen. Ein Mädchen scheint mich erkannt zu haben, zeigt mit dem Finger auf mich und macht sich direkt auf den Weg zu uns. Mit Sprung im Schritt und einem breiten Grinsen im Gesicht sagt sie, “Hi, hi Johnny! Ich bin echt ein großer Fan von dir, würdest du mein Cappy signieren? Hier, ich hab auch einen Stift.” Das Mädchen ist auf jeden Fall noch keine achtzehn, eher vierzehn, mit großen Augen, die mich hoffnungsvoll ansehen. “Hi”, ich warte. “Oh, ich heiße Christine.”, sagt sie freudig. “Hi, Christine. Das mache ich doch liebend gerne. Soll ich etwas Bestimmtes schreiben? Bist du aus der Gegend hier?” Sie schüttelt den Kopf, “Nein, schreib einfach was Schönes. Ja, bin ich, meine Freundinnen und die Jungs sind alle wegen mir hier, weil ich dich unbedingt live sehen wollte. Dein neuer Song ist mega cool!” Das nenne ich einen wahren Fan. Ich schreibe Für meinen jüngsten und mutigsten Fan Christine - dein Johnny. Sie würde mir am liebsten um den Hals springen, hält sich jedoch zurück und hüpft auf die Cappy lächelnd nur kurz auf der Stelle. Dann dreht sie sich um, schreit mir noch ein Danke hinterher und berichtet ihren Freundinnen und Freunden, was sie gerade erlebt hat.

Wir gehen weiter, der Klang der Musik aus den Lautsprechern ist selbst hier noch gut zu hören. Von Vogelgezwitscher oder anderen Naturgeräuschen ist nichts übrig. Trotz zahlreicher Mülltonnen sieht der Boden stark verdreckt aus. Abfälle zieren hier und dort die Wege und das Gestrüpp, sogar in einer der großen Fichten hängt Müll. Wie der da wohl hoch gekommen ist? Die Menschen und ihr Planet führen manchmal eine sehr merkwürdige Beziehung. In dem kleinen Waldstück westlich von unserer Position haben sich zwei lachende Männer versteckt. Sie scheinen bester Laune und rufen uns zu, “Hey Jungs, Bock auf ne kleine weiße Prise?” Die haben uns scheinbar nicht erkannt, so berühmt sind wir dann doch noch nicht. Widerliche Typen, wie kann man nur andere dazu anstiften, Drogen zu nehmen. “Ihr seid abartig und solltet euch was schämen, ihr Idioten!”, platzt es mir raus. Steven hält mich zurück, “Johnny, bleib ruhig, lass denen doch ihren Spaß.” Wegsperren sollte man diese Leute, ruinieren nicht nur ihr eigenes, sondern auch die Leben anderer und ihrer Familien. “Man sollte diesen Deppen einfach mal eine scheuern, würde bestimmt helfen.” Ich lasse mich von Steven mitziehen und nach und nach verschwinden die beiden Gestalten aus meinem Blickfeld. “Jetzt fahren wir erst einmal zurück ins Hotel, da vorne ist unser Bus. Hast du die Schlüssel?”, fragt Manuel. “Ja”, antwortet Steven, “Ich fahr uns schnell hin.” Was die beiden sonst noch bequatschen, bekomme ich nicht mit. Meine Gedanken sind bei den zwei Vollidioten hängen geblieben, meine Miene erstarrt. Ohne Worte nehme ich meinen Platz hinten im Bus ein, balle die Fäuste und schließe meine Augen.

Kapitel 2

Einige Tage später in einem Wohnviertel mit Reihenhäusern

Die grünen Zahlen des Weckers erhellen den sonst dunklen Raum. Geklingelt hat er nicht, es ist 4:50 Uhr. Mein Körper zittert, ich wische mir den Angstschweiß von der Stirn. Alles nur wegen diesem Traum. Immer und immer wieder kehrt er zurück und immer und immer wieder reagiert mein Körper auf ähnliche Weise. Im Traum ist es Nacht, die Sterne am Himmel sind deutlich zu erkennen, der Mond ist halb gefüllt und erhellt die Landschaft. Mein Vater steht aufrecht vor mir und zeigt in Richtung eines Hügels, gesprochen wird nicht, alles geschieht mit Zeichensprache. Das Gewehr in seiner Hand verheißt nichts Gutes. Langsam pirschen wir uns vor, nur wir beide sind weit und breit zu sehen. Welchen Auftrag wir haben, weiß ich nicht. Nach einem Drittel des Anstiegs hält mein Vater inne und lauscht. Außer dem Zirpen der zahlreichen Grillen ist nichts zu hören. Wir gehen weiter, die Beine allzeit gebeugt, um das Gewicht besser abzufedern. Ich habe meine Augen meist nach Hinten und zur rechten Seite gerichtet, mein Vater übernimmt die anderen Gebiete. Nach zwei Dritteln des Weges hält er erneut inne. Wieder ist kein unnatürliches Geräusch zu vernehmen. Er deutet mir an, dass wir uns das letzte Stück robbend fortbewegen sollten, um noch unauffälliger zu sein. Wir lassen uns zu Boden und kriechen Meter für Meter näher an die Hügelkuppe. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Auf der rechten Seite, etwas abhängig, ist ein Waldstück zu erkennen, zahlreiche Tannen ragen meterhoch in die Luft und werfen ihre Schatten in unsere Richtung. Sie wirken wie bedrohliche Riesen, die kommen, um uns zu holen und in absolute Schwärze zu verbannen. Hinter uns liegt das Tal, aus dem wir emporgestiegen sind. Ein kleines Dorf ist in der Ferne erkennbar, zwei, drei Laternen erhellen es. Ansonsten relativ kurz geschnittene Wiesen und abgeerntete Felder wohin man blickt, kaum Deckung. Wir haben Glück gehabt, dass wir bislang nicht aufgefallen sind. Ich blicke zu meinem Vater, er schaut konzentriert nach links. In dieser Richtung scheint es nach einem kleinen Tal noch einmal gute 20m höher zu gehen. Auch dort ragen Bäume empor, mehr von diesen furchteinflößenden Tannen. Bewegungen sind nicht auszumachen. Vor uns erstreckt sich zwischen all den Wäldern ein Pfad von links nach rechts, gesäumt von einem kleinen Holzzaun auf beiden Seiten. Eine Sitzbank erlaubt den Blick in unsere Richtung, sie ist leer.

In der Ferne ragt ein unidentifizierbares Bauwerk ein Stück in die Luft, könnte ein alte Ruine sein oder ein alleinstehendes Haus. Auch meinem Vater ist es aufgefallen. Das werden wir uns genauer ansehen, gibt er mir zu verstehen. Sein Plan ist es, die Dunkelheit der Tannen zu unserer Rechten zu nutzen, wir robben also noch ein kleines Stück weiter in diese Richtung und verschwinden im Schwarz der Schatten. Nachdem wir uns aufgerichtet haben und einige Schritte gegangen sind, werden die Umrisse des Objektes klarer. Es scheint sich um eine kleine Scheune mit einem Speichertank daneben zu handeln. Das Scheunendach verläuft spitz zu und der Tank ragt daneben ein paar Meter höher in den Nachthimmel. Licht brennt keines. Wir setzen unseren Weg fort, müssen gleich aber wieder die Schatten verlassen. Mein Vater stoppt und hält einmal mehr den Zeigefinger vor den Mund. Er lauscht. Ein leichtes Klappern ist zu hören oder ist es mehr ein Quietschen? Dann knackt es plötzlich hinter uns im Wald. Blitzartig drehen wir uns um und werfen uns zu Boden. Der Ast, so meine Vermutung, muss ein gutes Stück im Wald zu Bruch gegangen sein. Es ist wieder ruhig. Dann wieder das Quietschen aus der anderen Richtung, kaum wahrnehmbar. Zeit, sich zu entscheiden, wir können hier nicht ewig verharren. Mein Vater deutet auf die Scheune, wir robben los. Das Quietschen verstummt immer wieder, kommt dann zurück und wird manchmal von einem Klappern gefolgt. Es handelt sich offenbar um eine schwingende Tür oder ein Fenster, das im leichten Wind hin und her schwingt und dann gegen den eigenen Rahmen stößt, ohne zu schließen. An sich ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass die Scheune verlassen ist. Ich drehe mich um, war das da ein Schatten, der sich bewegt hat oder spielen mir meine Augen einen Streich? Verdammt schwer, irgendetwas in der Dunkelheit der Bäume zu erkennen. Es sind vielleicht noch 50m bis zur Scheune, als ein lauter Knall ertönt. Keine Armlänge neben mir trifft etwas den Boden, das war knapp. Es vergehen keine zwei Sekunden, dann knallt es wieder. Jemand aus dem Wald schießt auf uns. Agil springt mein Vater auf und läuft in möglichst geduckter Haltung Zickzacklinien. Ich tue es ihm gleich und versuche, schnell voran zu kommen. Normalerweise kann man 50m in ein paar Sekunden zurücklegen, doch mir kommt es vor, als würden wir minutenlang versuchen, den Schüssen auszuweichen. Wieder ein Knall, das Holz der Scheune splittert. Mein Vater ist knapp vor mir, ich blicke hinter uns und sehe gleich zwei Funken aufblitzen, die Schüsse werden gefolgt von einem Aufstöhnen. Kurz nur. Dann sinkt mein Vater vor mir zu Boden und ich reiße die Augen auf und erwache.

Hannes Truggenbrot, Ehemann von Svenja Truggenbrot, Vater von Rolf Truggenbrot, verstorben im Alter von nur 36 Jahren. Damals war ich 12 Jahre alt. Die genauen Umstände des Todes sind bis heute nicht bekannt. Mein Vater war beim Wehrdienst und wurde für einen Einsatz ins Ausland geschickt, ja, in ein Kriegsgebiet, aber laut offizieller Stelle nicht gefährlich. Eigentlich sollte sein Einsatz nur vier Wochen dauern, doch er wurde zweimal verlängert und in der elften Woche erreichte meine Mutter dann die Nachricht. Ein Hauptmann, so erzählt sie immer, stand an einem Novemberabend vor unserer Haustür. Er berichtete, dass Papa in einem nächtlichen Einsatz verschollen sei. Der Funkkontakt sei plötzlich abgebrochen und da nach zehn Tagen keine Spur von ihm auffindbar war und die Gegend dafür bekannt ist, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Gefangenen zu machen, schätzten die Offiziere vor Ort die Überlebenschancen auf unter einem Prozent.

Sie sollten recht behalten, obgleich der Leichnam nie gefunden wurde. Nur wenige Wochen später begannen die Alpträume und dauern bis heute, 32 Jahre später an. Auf Grund meines Berufes als Journalist habe ich viele Quellen angezapft, um mehr Klarheit über die Vorfälle damals zu bekommen, aber gebracht hat es nichts. Immer wieder verlief ich mich in Sackgassen, immer wieder verliefen sich die Spuren im Sand. Bei den Einsätzen sind noch zwei weitere Männer spurlos verschwunden und die damals verantwortlichen Offiziere sind inzwischen alle tot. Einige Dokumente sind wegen Geheimhaltung noch weitere zwanzig Jahre unter Verschluss, andere Dokumente sind zwar zugänglich, aber meist fast durchgehend geschwärzt. Es stinkt alles zum Himmel. Bei meinen Recherchen hatte ich stets das Gefühl, dass die Wahrheit einfach nicht ans Licht kommen soll. Ob die Träume jemals aufhören? Ich bezweifle es.

Die Nachricht über den vermutlichen Tod meines Vaters traf meine Mutter und mich hart und unerwartet. Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Jeden Tag, an den ich mich erinnern kann, zeigte er mir, wie viel ich ihm bedeutete. Er sagte es nicht nur, er zeigte es. In seinen Gesten und in seiner Mimik lag reine Liebe für mich. Er war ein unglaublich guter und geduldiger Lehrer, der mir erklärte, wie die Natur funktioniert, was es mit den Sternen auf sich hat und wieso es Ebbe und Flut gibt. Er regte meine Neugier an und ließ mich alles erforschen, was ich wollte. Meiner Mutter fiel mehr die Rolle zu, mich hier und da in meinen Bestrebungen zu zügeln und zu bremsen. Auch sie wollte natürlich nur das Beste für mich, aber wuchs irgendwie mit der Zeit in diese Rolle hinein. Nach dem Tod konnte sie diese Rolle leider nie wirklich ablegen, blieb die Mahnerin und war übervorsichtig bei allem, was auch nur im Ansatz gefährlich hätte sein können. Dies brachte einen klaren Bruch in unsere Beziehung, weshalb ich mich öfters aus dem Haus schlich, Hauptsache weg von ihr und ihrem Aufsichtswahn. Wozu diese Ausflüge führten, wenn ich dann wieder heimkehrte, kann man sich denken.

Hilfe im täglichen Leben bekam meine Mutter durch meinen Onkel, der sich verstärkt um die Aufgaben kümmerte, die sonst mein Vater erledigt hatte: Reparaturen, Verwaltungskram und die Gartenarbeit. Er war auch Journalist und ermutigte mich immer wieder, mich auch in dieser Richtung zu betätigen. Ich machte mehrere Praktika bei Zeitungen und schrieb für die Schülerzeitung monatlich mindestens zwei lange Berichte. Recherchieren machte mir Spaß und deckte meine große Neugier zumindest zum Teil ab. Ich fragte meinen Onkel damals, ob er nicht herausfinden könnte, was wirklich passiert sei, aber er antwortete nur, dass ihm die Hände gebunden seien. Damals konnte ich nicht fassen, dass er sich nicht mehr dahinter zu klemmen schien. Er war nicht so gut im Erklären wie mein Vater. Heute weiß ich, was ihn in seinen Recherchen stoppte. Wir haben uns schon oft über das Thema unterhalten. Der Tod von Hannes Truggenbrot bleibt nach wie vor ein Rätsel, Nachforschungen werden große Steine in den Weg gelegt und immer mehr Menschen, die Informationen hätten, versterben. Mit ihnen stirbt auch das Wissen über die Vorfälle. Wer weiß, ob die Wahrheit je ans Licht kommen wird.

Ich schalte das Licht meiner Nachttischlampe ein und sehe mich um. Die weißen Wände starren mir ausdruckslos entgegen, die ebenso weiße Decke wirkt erdrückend. Außer meinem nussbraunem, viertürigen Kleiderschrank, meinem farblich dazu passendem Nachttisch mit zwei Schubladen, meinem 1,60m breiten Metallbett und meinem viereckigen Bambuswäschekorb ist das Zimmer leer. Der laminierte Boden hat bereits zwei Dellen vom Vormieter und der kleine darauf befindliche grüne Teppich, ein Überbleibsel aus meiner letzten Beziehung, ist fast der einzige Farbklecks, der erkennbar ist. Die Jalousien sind unten, Gardinen hab ich nicht. Wofür auch? In den zweiten Stock kann man von der Straße ohnehin nicht hineingucken. Das letzte Mal, das eine Frau hier übernachtet hat, ist Jahre her, vier oder fünf. Sie sagte, es sei lieblos eingerichtet, so steril und eintönig. Ich habe da kein Auge für, klar ist es einfach gehalten, aber eben auch praktisch. Keine Pflanzen, die man gießen muss und die dann doch eingehen, keine kitschigen Objekte oder Fotos, die einen an längst vergangene Zeiten erinnern und auch kein sonstiger Krimskrams, der nur unnötig Geld kostet.

An ein Wiedereinschlafen ist nicht zu denken. Nicht unbedingt, weil ich es nicht könnte, eher, weil ich es nicht will. Die reale Welt um 4:55 Uhr ist deutlich friedlicher als die Traumwelt. Kaum eine Menschenseele ist auf den Beinen und erst nach und nach wird der Geräuschpegel des Alltags die Oberhand über die Stille ergreifen. Stille ist etwas Merkwürdiges, kurz aushalten kann man sie ja, aber dann macht sie einen verrückt. Ich überlege das Radio meines Weckers einzuschalten, aber gleich kommen nur die Nachrichten, man kann den Tag auch angenehmer starten. Von den neuesten Dingen in der Welt erfahre ich noch früh genug. Die Beine aus dem Bett geschwungen, richte ich mich langsam auf und strecke mich, hole meine grauen, gefilzten Hausschuhe unter dem Bett hervor, werfe meinen weißen Morgenmantel über und begebe mich durch den kleinen Flur in die Küche. Selbige ist nur knapp 10qm groß und dennoch viel zu überdimensioniert. Allein gekocht hab ich hier noch nie. Aber die Kaffeemaschine ist top und der Wasserkocher hat auch schon Wasser für den ein oder anderen Tee erhitzt. Es ist auch nicht so, dass ich nicht Vorräte da hätte, nur schmeiße ich 80 Prozent davon irgendwann nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums weg. Reinste Geldverschwendung, aber im Notfall will man ja doch was da haben. Zuletzt aussortiert habe ich vor ungefähr zwei Wochen. Eine ganze Klappkiste habe ich entsorgt, mir war nicht einmal bewusst, dass ich überhaupt so viel gekauft hatte. Von Konfitüre über Knäckebrot bis hin zu Dosengemüse war alles dabei, teilweise über ein Jahr abgelaufen. Bei ein paar Wochen schmeiße ich die Sachen nicht gleich weg, aber irgendwann ist die Grenze dann auch erreicht. Eine Zeit lang war ein Kollege regelmäßig nach der Arbeit mit zu mir gekommen, als wir gemeinsam an einem Artikel über den geplanten Autobahnausbau durch den Nachbarort geschrieben haben. Da gingen einige der kleineren Sachen weg, zum Beispiel so asiatische Terrinen und vorgefertigte Pfannkuchen, die man nur in der Pfanne heiß machen muss. Höchstwahrscheinlich habe ich danach einmal zu viel eingekauft und als ich dann wieder komplett allein war, stapelte sich alles im Abstellraum. Wie dem auch sei, jetzt ist wieder Platz und Besuch hat sich für die nächsten zwei Wochen bislang nicht angekündigt.

Ich öffne die Jalousien in allen Zimmern und blicke schließlich im Wohnzimmer durch das große Klappfenster hinaus. Im letzten Jahr ließ der Vermieter alle Jalousien elektrisch umstellen, davor musste man noch selbst kurbeln, jetzt reicht ein Knopfdruck und in aller Seelenruhe fährt eine Lamelle nach der anderen nach oben. Gegenüber steht quasi das selbe Reihenhaus wie das, in dem ich wohne. Dahinter nochmal und dahinter nochmal. Viermal das genau gleich Bauwerk, einzig unterschieden durch die Menschen, die es bewohnen. Die Fassade wirkt trist, was aber auch nur so wirken kann, weil meine Fenster das letzte Mal vor - ich muss überlegen - wahrscheinlich vor zwei Jahren geputzt wurden. Damals kam meine Mutter zu Besuch und ich wollte keinen völlig schockierenden Eindruck hinterlassen. Ist mir allerdings nur zum Teil gelungen. Das Dach läuft leicht spitz zu, bietet aber keinen Platz für einen Dachboden. Die Wohnungen besitzen alle einen kleinen Balkon. Wenn man sich ganz dünn macht, passen sogar zwei Stühle drauf. Ich selbst verbringe nie Zeit dort, aber andere Parteien haben ihre tatsächlich mit Pflanzen behangen oder sogar einen kleinen Grill dort stehen, quasi eine zweite Küche - nichts für mich.

Automatisch führt mich mein Weg ins Badezimmer. Zeit für den schlimmsten Moment des Morgens: den Blick in den Spiegel. “Du siehst heute schlimm aus.”, murmele ich vor mich hin. Die Augenränder sind tief, die Augen selbst klein. Die Wangen, früher straff und rund, fallen langsam ein und hängen nur noch schlaff da. Die Haare sind völlig zerzaust, der Bart zu lang. “Kein Wunder, dass du so niemanden findest.” Ich greife zum elektrischen Bartschneider und stutze den Bart zurecht. Danach schnappe ich mir meinen Kamm und versuche, die Haare geschickt über die kahlen Stellen zu verteilen. Geht schon irgendwie, so genau schaut eh keiner hin. Zeit für die nächste Tasse Kaffee. Eine der zwei Birnen der Küchenlampe flackert, die andere ist seit Monaten kaputt. Muss ich unbedingt mal dem Vermieter sagen, der soll sich drum kümmern.


Die Funktionskleidung saß auch schon mal besser. Wäre ich letzte Woche doch noch zweimal mehr trotz des schlechten Wetters gelaufen. Man wird nicht jünger darf nicht so häufig als Ausrede gelten, die Beine hochzulegen und nichts zu tun. Die neuen Laufschuhe allerdings fühlen sich fantastisch an, leicht und doch gut gepolstert federn sie meine Schritte ab. Der nächste offizielle Marathon ist nur noch knapp zwei Monate weg, bis dahin steht drei- bis viermal die Woche laufen auf dem Programm - immer mindestens einen Halbmarathon und mindestens einmal in der Woche auch die Gesamtstrecke. So schnell wie vor fünf Jahren bin ich nicht mehr, aber bei den letzten drei Rennen war ich immer unter den besten Fünf in meinem Alter. In den Rennen merke ich den Unterschied zu den alltäglichen Läufen. Letztere sind durch hügeliges Terrain und daher bedeutend anstrengender als die flachen Laufstrecken, bei denen es um Medaillen geht. Zwei Silbermedaillen liegen in der Schublade meines Schreibtisches, für Gold hat es nie gereicht. Ich rede natürlich nicht von Olympia, das waren immer ganz andere Dimensionen mit all den Stars aus Afrika.

Eines der Probleme, wenn man in einer Stadt Marathon laufen möchte, ist der Verkehr. Es dauerte knapp sechs Monate, bis ich eine Strecke gefunden hatte, bei der ich auf keine Ampel warten musste und ohne anzuhalten durchlaufen konnte. Dabei handelt es sich um einen Rundkurs, der entlang der Goethestraße führt, beim Theater links reingeht, vorbei am Zoo und dem kleinen Naturschutzgebiet bis an den Stadtrand. Von dort aus schwenke ich in Richtung Tannenallee, dann wieder links in die kleine Parkanlage beim Sendeturm, vorbei an meiner Arbeitsstätte und über die Fußgängerbrücke zurück wieder Richtung Goethestraße. Beim ganzen Marathon drehe ich zwei von diesen Runden. Heute habe ich die Zeit dafür, schließlich war ich ja früh hoch.

Als ich am Theater vorbeilaufe, lese ich auf einem der Schilder, dass heute Abend eine Vorführung von einem regionalen Künstler läuft, über den ich auch schon geschrieben habe. Sein Name ist Bernard Veteri und sein neuesten Stück Der Preis der Erkenntnis soll sehr tiefgründig sein. Vielleicht kann ich es mir zu Recherchezwecken demnächst anschauen. Ein paar Minuten später ist die kleine Parkanlage, wie ich erwartet hatte, noch ziemlich verlassen. Lediglich eine ältere Dame mit Hund begegnet mir dort, würdigt mich allerdings keines Blickes. Wer weiß, wo sie mit ihren Gedanken war. An der Fußgängerbrücke, die über insgesamt vier Spuren verläuft, hängt ein großer Banner, der mir ins Auge fällt. Welchen Sinn oder von wem er dort aufgehängt worden ist, erschließt sich mir zwar nicht, aber in großen Buchstaben ist dort zu lesen: Das Wahre vom Bequemen zu unterscheiden, erfordert Mut. Klingt wie aus einem Film, irgendwas, das eine alte, weise Frau zu einer jungen Frau sagen würde.

Nach Ende meiner ersten Runde kommen mir Seitenstechen, das passiert mir alle paar Wochen immer wieder mal. Gewöhnlich verschwinden die Schmerzen aber nach kurzer Pause schnell und ich kann meinen Lauf fortsetzen. Wäre heute Wettkampf, würde ich selbstverständlich durchlaufen, aber den Zwang brauche ich mir in meinem Alter, jetzt beim normalen Laufen, nicht zu geben. Ich halte deshalb in der Nähe eines Kiosks an, neben dem eine Litfaßsäule steht. Wer liest die Anzeigen darauf überhaupt noch im Zeitalter von Smartphones und Social Media? Mindestens eine Person, ertappe ich mich selbst. Nochmals Werbung für das Theater, eine entlaufene Katze wird vermisst, veraltete Anzeigen von diversen Konzerten und noch so ein seltsamer Spruch, der ohne Grund dort steht: Wie eine Pflanze irgendwann den Weg durch den Asphalt findet, so findet auch der Kern der Wahrheit irgendwann den Weg durch das Geflecht an Lügen. Ob das alles Teil einer großen Kampagne ist? Aber wofür?

“Die neuen Forschungsergebnisse sind bahnbrechend. Niemand hätte gedacht, dass so etwas möglich ist.”, höre ich einen jungen Mann sagen. Seine Gesprächspartnerin erwidert, “Ich zuallerletzt! Ich bin damit aufgewachsen, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was in der Lage wäre, die chemische Verbindung zwischen diesen Molekülen aufrechtzuerhalten - es macht ja auch gar keinen Sinn.” Wahrscheinlich sind die zwei Arbeitskollegen, irgendwelche Forscher. Der Mann nickt. “Eigentlich nicht, aber die Versuche haben es ein ums andere Mal gezeigt. Die veröffentlichten Paper scheinen stichfest zu sein. Ist ein wenig so, wie die Menschen sich gefühlt haben müssen, als die Erkenntnis aufkam, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern sich um die Sonne dreht.” Sie lacht nur. “Also dieser Vergleich ist doch etwas überzogen. Du sollst doch nicht immer übertreiben.”, ermahnt sie ihren Gesprächspartner und fügt dann an, ”Aber ich weiß, was du meinst. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, damit diese Entdeckung Auswirkungen auf unser aller Leben haben wird.” Worüber die zwei wohl genau sprechen? Nachdenklich blickt der Mann gen Himmel: “Das weiß wohl nur Gott, aber wenn du mich fragst, nicht lange. Bei all dem wissenschaftlichen Fortschritt, den die Menschheit in den letzten Jahren gemacht hat, bei all der Beschleunigung und bei all dem rasanten Wandel finden die schlauen Köpfe da oben bestimmt innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre diverse geniale Anwendungen. Und der Markt regelt den Rest, das ist ja bekannt.” Es wird Zeit weiterzulaufen, denn das Seitenstechen hat aufgehört. Worum es bei dem Gespräch genau ging, finde ich leider nicht heraus. Aber was soll’s, auf in die zweite Runde.

Am Ende meiner zweiten Runde, die ich ohne jegliche Beschwerden absolviere, halte ich noch kurz beim Bäcker um die Ecke - ja, den gibt es hier tatsächlich noch - und hole mir zwei belegte Brötchen mit Salat, einem saftigen Stück Fleisch und ein paar Gurken und Tomaten. So günstig kann man es ja nicht selber machen, zumal die Zeit für die Zubereitung wirklich besser genutzt werden kann. Ich bezahle bar, da gehöre ich zur aussterbenden Sorte. Die meisten Menschen, die mir in meinem Alltag sonst beim Einkaufen auffallen, sind überzeugte Kartenzahler. Ich mag das Kleingeld aber irgendwie und für meine Laufrunden habe ich immer einen kleinen Bauchbeutel dabei.

Wieder daheim angekommen, packe ich mir eines der Brötchen für die Arbeit ein, das andere verzehre ich zusammen mit einer weiteren Tasse Kaffee. Beim Überfliegen der Zeitung stoße ich auf kein besonders spannendes Thema, aber auf der Arbeit werde ich sicher noch über was stolpern. Eigentlich gibt es ja heutzutage keinen Tag mehr, an dem nicht irgendetwas Weltbewegendes geschieht. Der Kaffee ist schon ein wenig abgekühlt inzwischen, das tut der Wirkung aber keinen Abbruch. Ich fühle mich fit für den Tag und die verkürzte Nacht auf Grund des Alptraums ist fast vergessen. Ich springe noch schnell unter die Dusche, putze die Zähne und schmeiße mich in meinen legeren, dunkelblauen Anzug. Viele der Kollegen tragen inzwischen nur noch Jeans und T-Shirt oder Pullover zur Arbeit, aber ich finde, elegante Kleidung gehört schon zum guten Stil, gerade auch, wenn man mal Interviews führt. Es muss ja nicht piekfein sein, also keine Krawatte oder so, aber ein bisschen Klasse gehört sich schon.

Beim Anziehen meiner Schuhe fällt mir ein, dass ich noch zwei Dokumente mit zur Arbeit nehmen wollte. Ich stapfe ins Arbeitszimmer, blicke auf einen Berg Papiere und zwei große Tafeln mit Zeitungsausschnitten und Pinnadeln, die Verbindungen anzeigen, ganz so wie man es aus guten Filmen kennt. Ich bin altmodisch, was das betrifft. Andere machen inzwischen alles digital und brauchen kaum noch Papier und Tafeln, aber mir ist das zu eingeengt. Ich brauche das Bild möglichst lebensgroß vor mir. Dann funktioniert mein Kopf besser und Zusammenhänge fallen mir auf, die ich sonst nie erkennen würde. Es dauert bestimmt zehn Minuten, bis ich die beiden Dokumente gefunden habe, aber was lange währt, wird gut, heißt es ja so schön. Ich müsste mal wieder etwas mehr Ordnung schaffen, dann ginge es bestimmt schneller. Am liebsten hätte ich eine Sekretärin, die das für mich erledigt, aber wer blickt schon durch das Chaos, was ich tagtäglich fabriziere. Der Gedanke ringt mir ein Lächeln ab.

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