Kitabı oku: «Im Auge des Betrachters», sayfa 3

Yazı tipi:

Auf dem Hausflur ist es laut. Michael und Dennis müssen zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten. Die zwei haben beide ein unfassbares Organ, was sie auch mehr als genug in Schreiwettbewerben gegeneinander demonstrieren. Ich frage mich, was in der Erziehung dort falsch läuft. Wahrscheinlich sind die Eltern einfach zu lasch, lassen den Kindern alles durchgehen. Ich sage ja nicht, dass es früher richtig war, die Kinder mit dem Rohrstock zu schlagen, aber in gewisser Weise übertreiben es die meisten Eltern jetzt in der anderen Richtung. Egal was das Kind tut, es ist ein Engel, böse Worte oder Zurechtweisungen sind verpönt. Die Folge ist mangelnder Respekt vor Erwachsenen, Missachtung von einfachsten Verhaltensregeln und fehlendes Gespür dafür, wann eine Grenze erreicht ist. Manchmal mache ich mir echte Sorgen über die zukünftigen Erwachsenen und dabei bekleckert sich meine Generation schon nicht mit Ruhm.

Ich öffne die Wohnungstür und ein kreischendes “Ich will meine Jacke aber heute nicht anziehen. Es ist viel zu heiß!”, peitscht mir entgegen. “Tag.”, sage ich kurz und knapp. “Guten Morgen Herr Truggenbrot, welch schöner Tag heute, wie geht es Ihnen?”, fragt Frau Dinsel, ich glaube Jennifer ist ihr Vorname. “Den Umständen entsprechend.”, antwortete ich, ohne genauer auf selbige einzugehen. Nach kurzem Stutzen sagt sie: “Die Kinder haben schlecht geschlafen die Nacht und sind etwas aufgebracht. Ich bitte das zu entschuldigen, sie können hin und wieder ganz schön Krach machen.” Hin und wieder ist gut, denke ich mir, bis 21 Uhr ist täglich nicht an ruhiges Arbeiten von zu Hause aus zu denken. Immer wieder schreien die Kinder, immer wieder gibt es Gemecker und immer wieder knallen Türen. Erst wenn die Gören im Bett sind, wird es ruhiger. “Ja.”, ist alles, was ich hervorbringe und beginne, die Treppe hinab zu steigen. Frau Dinsel wünscht mir noch einen schönen Tag. Kurz vor der Haustür angekommen, höre ich eines der Kinder fragen: “Mama, wieso ist der Mann so seltsam und redet so wenig?” Ich bilde mir ein, einen Seufzer zu hören, “Ach Dennis, wahrscheinlich ist er nur sehr im Stress wegen der Arbeit. Du weißt doch, er ist Journalist, das ist ein anstrengender Job.” Damit hat es nicht so viel zu tun, genervt von deinem Lärm würde es besser treffen.

Ich trete hinaus ins Freie und lege die knapp 200m zur Bushaltestelle zurück. Ich besitze zwar seit meinem zwanzigsten Lebensjahr einen Führerschein, aber ein eigenes Auto besitze ich nicht. Die wichtigsten Orte sind zu Fuß oder mit dem Bus erreichbar. Das war auch schon als Kind immer so, weshalb mir die Vorstellung eines eigenen Autos immer irgendwie befremdlich vorkam. Mein Onkel drängte mich damals, den Führerschein zu machen, wofür ich ihm unterm Strich auch dankbar bin. Es gab vereinzelte Momente, in denen ich ihn gut gebrauchen konnte. Zuletzt fahre ich aber lediglich noch von der Arbeit aus, wenn meine Recherche verlangt in kleine, abgelegenere Orte zu reisen. Privat nehme ich mir im Zweifel einfach ein Taxi. Zur Arbeitsstelle sind es von hier aus lediglich vier Bushaltestellen, die Busse sind meist noch einigermaßen leer und ich finde in der Regel noch einen Sitzplatz. Meistens stehe ich allerdings trotzdem, für die paar Stationen lohnt es sich ja nicht, sich extra hinzusetzen. So alt fühle ich mich dann an den meisten Tagen doch noch nicht.

An der Bushaltestelle sehe ich schon wieder eines dieser Plakate. Dieses Mal steht drauf: Man will nur wissen, was einem hilft, das eigene Weltbild zu bestätigen. Mit dem Spruch kann ich wenig anfangen. Für meine Recherchen will ich allerlei Dinge erfahren, als Journalist muss man schließlich nachhaken und der Wahrheit auf den Grund kommen. Da kann man sich nicht nur hinstellen und sich die Kirschen raussuchen. Wie sollte das denn funktionieren? Man muss schon immer versuchen, möglichst viele Seiten zu beleuchten, um ein umfassendes Bild zu bekommen. Wenn ich Nachforschungen anstelle, reichen sogar meine zwei großen Tafeln in manchen Fällen nicht aus, aber zum Glück habe ich noch zwei weitere im Keller stehen. Wenn es wirklich eng wird, hole ich eine oder sogar beide davon auch noch hoch. Aber gut, nicht jeder Mensch ist journalistisch ausgebildet und weiß diese Dinge. Kann schon sein, dass der Spruch für andere zutrifft.

Ich bin an diesem Morgen der einzige Gast, der auf den Bus wartet. Drei Minuten habe ich noch Zeit und blicke mich um. Die Straßen sind normal gefüllt, die wenigen Fußgänger sind mit geneigtem Kopf auf ihre Handys fixiert und sehen sich wahrscheinlich die aktuellen Aktionskurse an. Oder sie surfen in den sozialen Medien. Da fällt mir ein, dass ich doch auch noch was nachschauen wollte. Ich zücke mein Handy, aktiviere mit meinem Daumen den Zugang und prüfe die neusten Nachrichten. Sieben sind es heute Morgen. Sechs davon brauche ich nach Kenntnisnahme der Absender gar nicht erst zu lesen und die siebte ist von meiner Mutter. Aus Pflichtgefühl öffne ich sie. Sie würde sich freuen, wenn ich mich mal wieder bei ihr melde. Ihr Auto müsste mal wieder in die Reparatur, ob ich nicht Zeit hätte, mal vorbeizuschauen. Ich antworte kurz und knapp, dass es vielleicht am Wochenende klappen könnte. Lust habe ich ja keine.

Als ich mit 24 Jahren endlich ausgezogen bin, hatte ich die Schnauze komplett voll von meiner Mutter. Dieses ewige Genörgel war nicht mehr auszuhalten. Die ersten drei Jahre danach habe ich sie nicht einmal besucht. Nicht mal zu Weihnachten haben wir uns gesehen. Sie war zwar nicht besonders glücklich darüber, aber das war mir egal. Im Endeffekt hat dann wieder mal mein Onkel dafür gesorgt, dass wir uns zumindest wieder ein bisschen annähern. Wir haben einander einfach nicht viel zu erzählen. Sie interessiert sich nicht dafür, was ich mache, sondern immer nur dafür, ob ich endlich eine Frau gefunden habe. Natürlich nicht. Und wenn würde das eh nicht lang halten. Schau dir doch die Beziehungen in der Welt an, das lohnt sich doch alles nicht, sage ich ihr immer. Aber wenn sie das akzeptieren würde, hätte sie wahrscheinlich nichts mehr zu meckern. Wir telefonieren inzwischen regelmäßig einmal im Monat, das reicht uns beiden - mir vor allem - dann aber wieder. Unser Verhältnis hat sich über die letzten Jahre insgesamt zwar stabilisiert, aber Freude bereitet mir ein Besuch trotzdem nicht. Es ist auszuhalten, sofern es nicht zu lange dauert und nicht zu viele Fragen gestellt werden.

Ich wollte doch aber noch irgendwas anderes schauen. Vergessen, fällt mir schon wieder ein. Da kommt auch der Bus, sechs Minuten Verspätung, ganz schön viel für die frühe Uhrzeit. Er hält mit der hinteren Tür neben mir, so dass ich genug Zeit habe, die Aufschrift zu lesen: Heute schon aufgewacht? Werbung für Matratzen, auf denen man himmlisch gut schlafen können soll. Aufgewacht schon, sonst könnte ich das ja jetzt nicht lesen, denke ich mir. Bei all dem Blödsinn wäre eine weitere Runde Schlaf vielleicht gar nicht so verkehrt, aber auf der Arbeit werde ich dazu keine Zeit haben. Ich steige ein und halte meine Fahrkarte hoch. Der Busfahrer erkennt mich im Spiegel und nickt mir zu, die Tür schließt und der Bus setzt sich in Bewegung. Kaum ist der Bus losgefahren, klingelt mein Handy. Das Display signalisiert einen Anruf von Richard Zweigritter, meinem Chef und Redaktionsleiter der Zeitung. Wir kennen uns seit meinem Vorstellungsgespräch vor etlichen Jahren. Er war damals federführend bei meinem Interview und beeindruckte mich zutiefst mit seinem Wissen und seiner Menschenkenntnis. Auf Anhieb haben wir uns verstanden und fortan ist er so etwas wie mein Ziehvater in der Zeitung geworden. Klar lernt man im Studium so allerlei über Journalismus, aber die Praxis sieht doch immer etwas anders aus. Was ich von Richard gelernt habe, könnte ich zwar heute schon in einem großen Band über das perfekte Schreiben von Artikeln zusammenfassen, aber würde wohl trotzdem nur einen Bruchteil seines Wissens wiedergeben.

“Guten Morgen Richard, ich bin auf dem Weg zur Arbeit, was kann ich für dich tun?”, begrüße ich ihn. “Guten Morgen Rolf, ich habe eine Frage. Traust du dir zu, einen Artikel oder sogar eine Reihe von Artikeln über einen Musiker zu schreiben? Ich weiß, das ist sonst nicht dein Gebiet, aber hast du nicht schon mal so etwas gemacht?” Vor ein Paar Jahren war tatsächlich mal eine lokale Band ins Rampenlicht gerückt, weil sie einen sehr erfolgreichen Song produziert hatte. Als sie daraufhin erstaunlich hohe Beträge für soziale Stiftungen gespendet haben, sind sie auch in meinen Fokus gerückt und ich habe sie interviewt. Beeindruckende Menschen waren das, die sehr bodenständig waren und sich nicht viel aus ihrem plötzlichen Ruhm machten. Was sie jetzt machen, weiß ich aber nicht. Ich habe ewig nichts mehr von ihnen gehört. “Ja, da war mal was. Aber wir haben doch mit Christian und Evelyn zwei Mitarbeiter, deren Ressort dazu viel besser passt oder gibt es besondere Hintergründe?” Christian und Evelyn sind beide im Kulturbereich tätig, während ich mich mehr um Soziales und Recht kümmere, manchmal auch in Richtung Unterhaltung aber eher selten. “Christian hat Urlaub die nächsten zwei Wochen und unglücklicherweise fällt Evelyn wegen eines Unfalls mindestens vier Wochen aus. Du bist mein erster Ersatzkandidat, weil ich weiß, was du drauf hast. Komm bitte in mein Büro, sobald du da bist, ja?” Ich antworte ihm, dass ich das natürlich mache und wir dann vor Ort alles Weitere besprechen können. Es piept und eine weibliche Stimme benennt den nächsten Stop, noch eine Haltestelle.

Kapitel 3

Am selben Tag in einem Bürogebäude in der Innenstadt

Die Waage der Justitia ziert den Hintergrund, in großen, alt und elegant wirkenden Buchstaben ist das Wort Diplom zu lesen und der Stempel der Universität ist rund und kräftig. Im goldenen Bilderrahmen hängt das wertvollste Dokument meines Lebens über dem kleinen Barschrank mit eingebautem Minikühlschrank, auf dem ein Gläserset aus drei Teilen aufgebaut ist. Das vierte Glas halte ich selbst in der Hand, gefüllt mit einem kleinen Schluck Whiskey. Selbiger war nicht ganz billig, knapp unter 100€ die Flasche, aber der Geschmack rechtfertigt das. Wenn es etwas gibt, was das Geld wert ist, dann sind das die Dinge im Leben, die für eine ekstatische Begeisterung der Sinne sorgen und dazu gehört dieser speziell in Schottland gebraute Whiskey definitiv.

Mein Blick schweift durch den mit Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum, in dem die Regale eindrucksvoll eine schier unglaubliche Auswahl an Weltliteratur, prall gefüllten Ordnern mit Falldaten und eine riesige Sammlung Bänder voller Gesetzestexten präsentieren. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Dieser inspirierende Satz steht auf einer Tafel an der gegenüberliegenden Wand. Es ist nicht der einzige Spruch dieser Art, denn in jedem der drei Geschäftsräume hängen zwei Exemplare mit motivierenden Zitaten großer Menschen. Die zweite Tafel im Raum besagt: Wer kein Ziel hat, kann auch keines erreichen. Die Tafeln sind ein Teil meines Alltags, eine Erinnerung an das, was ich erreichen will. Meine Ziele habe ich immer vor mir, ich weiß, wo ich hinwill.

Zwei weitere Fälle sind heute Morgen reingekommen. Ich wusste, es wird ein guter Tag, als ich die letzten Stufen der Tiefgarage empor trat, die Morgensonne mir ins Gesicht schien und ich die Aufschrift Rechtsanwalt Dr. Thomas Frei neben der Eingangstür laß. Neben all den exquisiten Geschäften, den großen Lofts und den unzähligen Eingängen von Steuerberatern und Versicherungsexperten, fällt der Eingang gar nicht so sehr auf. Dennoch ist die Gegend absolut perfekt und verspricht reiche Kundschaft. Dass ich den Standort einmal übernehmen könnte, hatte ich nicht erwartet, aber zwei Zufälle sorgten dafür. Zum einen war da mein Praktikum, das ich als 19-jähriger in genau diesem Gebäude absolvierte. Der Vorbesitzer, auch ein Anwalt, galt als Legende in der Stadt und irgendwie sah er etwas in mir, das ihm gefiel. Dem ersten vierwöchigen Praktikum folgte noch ein zweites, dieses Mal über drei Monate. Wir verstanden uns prächtig und Jahre später bekam ich einen Anruf, ob ich nicht Interesse hätte, die Location zu übernehmen. Finanziell wäre das für mich allein jedoch nie machbar gewesen, so dass ich auf Hilfe angewiesen war. Der zweite Zufall trat auf, als ich Herrn Russ kennenlernte, einen weiteren Rechtsanwalt, der beim Strandurlaub auf den Malediven zufällig das Hotelzimmer neben mir hatte und sich gleich zweimal in der Tür irrte. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich konnte ihm damals schon ansehen, dass er nicht nur über eine Menge Geld verfügte, sondern auch gern vieles davon ausgab. Das runde Gesicht, die weit geöffneten Augen und die großen Nasenlöcher wiesen darauf hin. Trotzdem fiel mir die Frage, ob er sich vorstellen könnte, die Miete für die Erdgeschosswohnung mit zu bezahlen und gemeinsam zu nutzen, nicht einfach. Im Nachhinein aber bin ich heilfroh, es getan zu haben, zumal er nur zwei Sekunden nachdachte und dann mit breitem Lächeln zusagte. Es sei eine tolle Idee und er wolle schon seit längerer Zeit seinen Standort ändern und näher im Zentrum arbeiten. Was wir dann innerhalb eines halben Jahres aus der Fläche gemacht haben, gleicht einem dieser Makeovers aus den typischen Frauenfilmen, in denen das Mauerblümchen zum Model wird. Das Einzige, was vom ursprünglichen Interior geblieben ist, ist Frau von Gesollte, die Sekretärin des Vermieters, die ich schon aus meiner Zeit als Praktikant kannte. Sie ist so gut, dass sie es schafft, für Herrn Russ und mich alles zu organisieren, ein wahres Talent. Offiziell könnte sie nächstes Jahr in Rente gehen, aber ich hoffe, dass sie noch ein bis zwei Jahre dranhängt.

Der erste Fall, der heute reingekommen ist, betrifft einen Nachbarschaftskleinkrieg, bei dem es in aller erster Linie um Lärmbelästigung geht. Der Kläger behauptet, mein Mandant würde zu unmenschlichen Zeiten Gartenarbeit verrichten und darüber hinaus mit lauter Musik die Nachtruhe stören. Er klagt jedoch alleine, was schon mal ein Zeichen dafür ist, dass mein Mandant nicht allzu sehr gegen gesetzliche Auflagen verstößt. In der Akte zu dem Fall ist ein Bild des Klägers mit dabei, auf dem sein Gesicht älter wirkt als die 52 Jahre, die im Profil stehen. Die dunklen Augen sind offen und rund, die Augenbrauen sehr kurz und gerade. Demzufolge ist er wahrscheinlich ein Mensch, der zu impulsiven Entscheidungen, basierend auf seinen Emotionen, neigt. Die Lippen sind schmal, das Kinn eher dünn, besonders durchsetzungsfähig ist er also auch nicht. Die Stirn ist flach und nicht besonders ausgeprägt, was zum Eindruck passt, dass er geradlinig denkt und im Fall nicht mit Überraschungen seinerseits zu rechnen ist. Strategisch werden wir sehr faktenbasiert vorgehen und immer wieder emotionale Stiche setzen, so dass der Kläger möglicherweise die Fassung einmal verliert, dann sollte das Urteil schnell gefällt sein. Mein Mandant ist unschuldig.

Im zweiten Fall geht es etwas brisanter zu. Der Anruf kam früh am Morgen, eine gewisse Frau Yunoma war am Apparat, die aufgebracht schilderte, dass sie von einer Bekannten gehört hätte, ich sei der beste Anwalt der Stadt und dass sie meine Hilfe bräuchte. Am vergangenen Wochenende sei es nämlich im Rahmen einer Feier zu sexueller Belästigung gekommen, für die es mindestens zwei Zeuginnen gäbe und darüberhinaus auch der Barkeeper davon mitbekommen haben müsste. Mein erster Eindruck war, dass sie Recht hat - ich bin tatsächlich der beste Anwalt der Stadt. Aber auch im Fall hat sie offenbar gute Argumente für sich, so dass ich mit ihr vereinbarte, sie solle sich mit Frau von Gesollte kurzschließen, um einen Termin auszumachen. Ich muss gleich mal nachfragen, was daraus geworden ist.

Ein paar mehr Informationen brauche ich schon, bevor ich sicher bin, dass der Fall positiv für mich ausgeht. Das wäre was! Aktuell fehlen nämlich nur noch zwölf Fälle, zwölf Fälle bis zu den tausend! Tausend gewonnen Fälle! Und das in meinem Alter! Damit würde ich nicht nur der beste Anwalt der Stadt sein, ich wäre sogar unter den besten zehn des Landes und würde endlich in die Fußstapfen meines Vaters und dessen Vaters treten, denn beide waren auch extrem erfolgreiche Anwälte. Selbst meine Mutter hat sehr erfolgreich als Strafverteidigerin gearbeitet und sich einen Namen gemacht. Anwalt sein, dass liegt uns allen im Blut. Tausend gewonnene Fälle mit 40 Jahren, das ist diese magische Grenze und ich schnuppere schon dran.

Gerade das letzte Jahr lief unglaublich gut. In den vergangenen knapp elf Monaten habe ich bereits 196 Fälle erfolgreich bestritten, das sind fast 18 Fälle pro Monat. Verloren habe ich nicht einen Fall. Ich gebe zu, dass ich in all der Zeit nicht besonders viel geschlafen habe - und der Urlaub fiel obendrein das Jahr auch noch aus. Gelohnt hat es sich aber und ich musste einmal mehr feststellen, dass es wirklich nur auf die Vorbereitung und die Kommunikation ankommt. Wenn man die Kläger und die Richter einzuschätzen weiß, dann kann man sich immer die richtige Strategie zurecht legen. Natürlich muss man auch frühzeitig erkennen, ob ein Fall gewinnbar ist oder nicht, weshalb ich auch bestimmt schon über 200 Fälle dieses Jahr abgelehnt habe. Das mache ich aber in der Regel schon nach dem ersten Treffen mit der jeweiligen Person. Das Gesicht, die Mimik und die Körpersprache sagen so viel über eine Person aus, wenn das die Leute wüssten, sie wären verblüfft. Vieles von dem, was ich über das Lesen von Menschen gelernt habe, stammt noch aus der Zeit meiner Praktika. Mein Mentor hat mich damals immer wieder auf die vielen kleinen Details aufmerksam gemacht, die dafür wichtig sind. Thomas schau, hast du das Zucken der Mundwinkel gesehen, das sind Mikroexpressionen. Wenn die so aussehen, stehen sie für Verachtung. Der Typ ist geprägt von seinen Vorurteilen gegenüber Frauen. Hab ich gestaunt, als sich das im Laufe der Verhandlung immer mehr zeigte. Ein anderes Mal erklärte er mir Thomas, siehst du die Kopfhaltung, immer leicht nach unten blickend? Das ist Scham. Sie vermeidet auch direkten Augenkontakt zum Opfer. Und da, das Schlucken bevor sie antwortet. Alles Zeichen dafür, dass sie schuldig ist. Mir wurden damals die Augen für eine ganze neue Welt geöffnet, seither bin ich fasziniert und verschlinge Literatur zu dem Thema und überprüfe die Hypothesen, die darin aufgestellt werden. Dank meines Berufes habe ich die Möglichkeit, so vielen Menschen zu begegnen, da bietet sich das einfach an. Und das Beste ist, wenn man dieses Hintergrundwissen besitzt, können Gegenargumente noch so logisch klingen, die Indizien bewahrheiten sich laufend. Ich würde behaupten, es ist Zwischen-den-Zeilen-lesen-2.0.


Ich erhebe mich aus meinem gepolsterten Lederstuhl und drehe mich um. Die große Fensterfront mit den langen, halbdurchsichtigen Gardinen breitet sich vor mir aus. Ich gehe zur Schiebetür und ziehe sie zur Seite, woraufhin mir frische Luft entgegen strömt, während ich auf die Veranda trete, auf der ein kleiner Zweisitzer steht, überdacht und gemütlich. Zwei kleine Stufen führen von der Veranda in den extra angelegten Garten, der einen Hauch von Zen hat, eine gewisse Schlichtheit. Alles wirkt abgestimmt und die kleinen Steinberge an den Wegrändern haben etwas faszinierendes. Die Idee für diesen Garten hatte ich, weil mir wichtig war, ein Rückzugsgebiet zu haben, das möglichst nah an der Arbeitsstätte ist. In einer Zeitschrift hatte ich dann gelesen, dass gerade im dicht besiedelten Stadtraum der Trend im Kommen ist, selbstangelegte Kleingärten zu kreieren. Die Autoren nannten es damals quasi eine Oase der Zuflucht inmitten der Großstadt, was mir sehr gut gefiel. Eigens für den Garten haben Herr Russ und ich dann Pedro eingestellt, der zweimal die Woche kommt und den idyllischen Garten pflegt.

Der kleine Teich am nördlichen Ende ist ein wahrer Hingucker und Pedros ganz besonderer Stolz. Zunächst waren wir dagegen, weil er einen Brunnen dafür bauen musste und das rechtlich nicht ganz einfach war. Sein Konzept aber war überzeugend und ich möchte den Teich mit seinen zwölf Goldfischen nicht missen, weil ich seit der Inbetriebnahme jeden Tag aufs Neue herkomme und die Fütterung übernehme. Die Fische bekommen nicht besonders viel, aber dafür hochwertige Nahrung, da dies laut Pedro immens wichtig sei, weil gerade hier in der Stadt den Pflanzen und Algen einige natürliche Stoffe zum richtigen Gedeihen fehlen würden. Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus, aber vertraue ihm. Das Futter riecht etwas streng, aber irgendwie gehört das dazu und stört mich auch nie lange, denn wenn die Fische mich kommen sehen, schwimmen sie immer schon gespannt auf die tägliche Ration an die Oberfläche und lenken mich entsprechend ab. Pedro sagt, einige der Fische sind bereits über acht Jahre alt, was für Freiluftfische ein beachtliches Alter darstellt. Einige von ihnen erkenne ich inzwischen am Muster, bin aber niemand der deswegen der Namensgebung verfällt. Der Fisch mit dem leicht dunkleren Silberstreifen an der rechten Seite war die letzten Tage etwas träge, scheint sich aber über das Wochenende wieder gefangen zu haben und schwimmt heute deutlich schneller durchs Wasser. Gierig verschlingen die Fische alles, was ich ihnen vorsetze und blicken dann fast fragend nach dem Motto auf: War das jetzt schon alles? Ich zucke mit den Achseln, “Ja, alles schon weg, morgen gibt es mehr.”

Während ich die Fische beobachte, wie sie sich langsam wieder verteilen, denke ich an die Zukunft. Die Schallmarke der tausend gewonnenen Fälle ist nah, selbst überregional hat dies schon für Aufsehen gesorgt und weil in zwei Monaten ein großer Kongress stattfindet, bei dem immer Redner mit besonderen Talenten oder Werdegängen sprechen dürfen, wäre es elementar wichtig, die fehlenden zwölf Fälle schnellstmöglich zu gewinnen. Der Veranstalter hat bereits bei mir angefragt und vorgeschlagen, dass ich dort sprechen könnte, sofern denn die tausend bis nächsten Monat geknackt sind. Ein bisschen Vorbereitungszeit braucht so eine Veranstaltung ja und Planungssicherheit spielt in diesen Tagen eine wichtige Rolle. Nach den letzten Monaten und den zwei heutigen Fällen dürfte das alles aber definitiv ein Kinderspiel werden. Was auf den Kongress folgen könnte, sind große Aufträge, eine Menge PR und wer weiß, vielleicht habe ich irgendwann so viel Erfolg, dass ich Herrn Russ nicht mehr brauche, um die Miete zu stemmen. Eine riesige Kanzlei mit mehr eigenen Mitarbeitern hätte schon was für sich.

Genug der Pause. Langsam schlendere ich zurück über den mit Kieseln ausgelegten Weg, schließe die Schiebetür hinter mir und betrete kurz darauf das Vorzimmer, in dem sich Frau von Gesollte aufhält und telefoniert. Sie gibt mir ein Handzeichen, dass es nur eine Minute dauert, weshalb ich selbstverständlich warte. Seit insgesamt 43 Jahren arbeitet sie nun in diesem Büro, eine unfassbare Zeit. Sie sagt, sie habe alles gesehen, was man in Anwaltsbüros sehen könne, inzwischen sei sie kompetent genug, um 80 Prozent der Fälle selbst zu lösen. Für die anderen 20 Prozent, fügte sie lächelnd hinzu, würde ich dann doch noch benötigt werden. Sie legt auf. “Haben Sie den Termin mit Frau Yunoma vereinbart? Sie hatten mir keine Nachricht gegeben.” Skeptisch zieht sie eine Augenbraue hoch, eine Fähigkeit, die ich nie gelernt habe. “Ein bisschen mehr Respekt im Ton, bitte. Frau Yunoma war etwas ungewiss, weil ihre Tochter noch zwei Auftritte diese Woche hat. Sie wollte das klären und sich noch einmal melden. Das hat sie noch nicht getan.” Ich räuspere mich. “Verzeihung, Sie wissen ja, die Tausendermarke fällt möglicherweise mit genau diesem Fall, ich kann es gar nicht abwarten.” Sie schüttelt mit dem Kopf. “Ob die nun heute, morgen oder in zwei Wochen fällt, ist doch egal. Sie sind und bleiben ein guter Anwalt.” Guter Anwalt reicht aber nicht. “Sie wissen genau, dass der Kongress demnächst stattfindet und ich die PR gut gebrauchen kann, von daher muss jetzt alles etwas schneller gehen. Rufen Sie Frau Yunoma noch einmal an und machen Sie für diese Woche noch etwas aus - am besten morgen.” Sie verdreht kurz die Augen und lenkt dann ein, “Wird gemacht.” Man wird nicht der beste Anwalt der Stadt, indem man Zeit unnötig verstreichen lässt oder sie mit unangebrachtem Geschwafel verbringt. Hin und wieder muss man auch Tacheles reden und dann läuft es. Frau von Gesollte kennt diese Art von mir, auch wenn sie nicht immer damit einverstanden ist.

Ich will mich gerade abwenden und zurück ins Büro gehen, da öffnet sich die Tür von Herrn Russ. “Guten Morgen Herr Frei, wie geht es Ihnen heute?”, eröffnet er das Gespräch. “Guten Morgen Herr Russ, alles bestens bei mir, danke. Haben Sie den Fall Kemper gegen Zeitz verfolgt? Ich habe mich kaputt gelacht!” Beim angesprochenen Fall ging es um einen Arbeitsunfall in einem Schlachtbetrieb, bei dem einer der Mitarbeiter einen Finger verloren hat. Der Fall war eigentlich sonnenklar und doch schaffte es der Angeklagte Kemper, vom Schadenersatz frei gesprochen zu werden. “Ja ein wenig. Dr. Schönberger hatte Herr Zeitz vertreten oder? Hatten Sie nicht gesagt, der Fall sei klar?” Dass der Fall in der Größe überhaupt bekannt wurde, liegt daran, dass der Bruder des Chefredakteurs einer lokalen Zeitung den Schlachtbetrieb leitet und es entsprechend in den Medien vor Ort rumging. “Er war glasklar, der Typ ist schuldig, da gibt es gar keinen Zweifel. Aber wenn man sich eben jemanden so inkompetenten wie Dr. Schönberger ins Boot holt, muss man sich nicht wundern. Der hat seine Hausaufgaben einfach nicht gemacht. Es gab mindestens zwei Zeugen, die hätten aussagen können und beim einen hat er die Glaubwürdigkeit nicht gesichert und den anderen hat er gar nicht erst in den Zeugenstand berufen. Ein wahres Trauerspiel, wenn Sie mich fragen.” Herr Russ schüttelt mit dem Kopf und sagt: “Das war nicht das erste Mal, dass ihm ein sicher geglaubter Fall entgleitet. Erinnern Sie sich an den rausgeschmissenen Mieter damals? Der hatte ja noch Glück, dass er bei der Revision jemand anderen gefunden hat.” Mit jemand anderem meint er mich, aber ich binde es ihm nicht auf die Nase. “Ja, wenn ich im Vorfeld wüsste, dass der Schönberger die andere Seite vertritt, würde ich jeden Fall annehmen, egal, wie aussichtslos er erscheint.” Gelächter von beiden Seiten halt durch das Vorzimmer, nur Frau von Gesollte arbeitet ruhig an ihrem rund geformten Schreibtisch weiter. “Ich werde mal dem Asiaten um die Ecke einen Besuch abstatten, es ist mal wieder Zeit für All-You-Can-Eat und ich habe mächtig Kohldampf.” Mindestens einmal die Woche geht Herr Russ dort essen. Asiatisch ist nicht so meins, außer richtig gut gemachte Sushi mit dem richtig guten Fisch, der allerdings bei einem Buffet nie aufgetischt, sondern stets durch B-Ware ersetzt wird. “Na dann guten Appetit.” Herr Russ verabschiedet sich, wirft seinen schwarzen Mantel über und verlässt den Raum. “Sie sollten mehr lachen Frau von Gesollte, ist gut für die Gesundheit.” Wieder so an argwöhnischer Blick, “Kommen Sie erst mal in mein Alter, dann dürfen Sie mir auch Gesundheitstipps geben.”


Es ist 14 Uhr und damit Zeit für meine nachmittägliche Meditation in der Gartenlaube. Umringt von einer fast zwei Meter hohen Buchsbaumhecke steht eine kleine hölzerne Bank aus Eiche, die Platz für eine Person bittet. Darum verteilt sind viele kleine Pflanzen, die nicht nur optisch durch ihre Farben begeistern, sondern vor allem durch ihren Duft dafür sorgen, dass man den Alltagsstress im Nu vergisst. Die Bank ist gepolstert und kann bei Bedarf mit einer Plane überdacht werden, die an vier dünnen Holzpfählen angebracht ist. Wenn dann der Regen auf die Plane prasselt und die Luft gleich viel frischer riecht, sind das die tollsten Momente. Heute aber ist es trocken, die Sonne kommt hin und wieder mal durch die Wolkendecke hindurch und beglückt einen mit einem Wärmeschwall. Ich nehme einen tiefen Atemzug und verlagere mein Bewusstsein zu den Düften der Blumen. Zur Zeit blühen vor allem zwei Rosensorten: die Alba Maxima, eine weiße Sorte, die sehr robust daherkommt und die leicht rosa-orangene Charles Austin, deren fruchtiger Duft, den der Alba Maxima übertönt. Mit dem Ausatmen des nächsten Atemzuges schließe ich meine Augen und beginne, meine Gedanken zu beobachten. Manchmal nutze ich ein Mantra, um fokussierter zu bleiben, aber jetzt ist mir gerade nicht danach. Stattdessen lasse ich den Gedanken freien Lauf, ohne sie besonders beeinflussen zu wollen. Diese Art der Meditation kann sehr interessant sein, wenn man eine neugierige Grundhaltung einnimmt, was man denn wohl dieses Mal für Gedanken haben wird. Ich finde es immer erstaunlich, wie viele Gedanken einem durch den Kopf schwirren und wie häufig es zu Gedankensprüngen kommt, bei denen man plötzlich völlig andere Themen bearbeitet als noch im Augenblick davor. Nur durch das bewusste Beobachten der Gedanken kann man selbst entscheiden, welchen Gedanken man tiefer folgen möchte. Es ähnelt schon fast einer Kunst, bei der ich mich frage, wieso sie nicht offiziell an Schulen gelehrt wird.

Der erste Gedanke, der mir deutlich wird, ist der an mein an der Wand hängendes Diplom, was nicht grundlos ist, denn heute vor genau zehn Jahren habe ich es bekommen. Wie die Zeit verfliegt. Ich erinnere mich, an die Zeremonie der Übergabe, wie alle Absolventen in ihren schwarzen Anzügen einer nach dem anderen auf die Bühne der Universitätsaula geholt wurden und an die zwei Gastredner, die von dem Alltag der Arbeitswelt schwärmten. Meine Atmung beruhigt sich mehr und mehr, die Erinnerung verblasst und Ruhe tritt ein. Ein leichtes Plätschern im nicht weit entfernten Teich ist zu vernehmen, vielleicht ein Frosch, der ins Wasser gesprungen ist. In der scheinbaren Ferne, auch wenn es nur wenige Meter sind, fahren Busse, Taxis und andere Autos durch die Straßen, aber im Großen und Ganzen hält sich der Verkehr hier in der Regel in Grenzen, da die meisten Zufahrten nur für Anlieger sind. Das Zentrum der Stadt ist gesetzlich ohnehin autofrei, so dass die großen Parkhäuser alle etwas weiter außerhalb zu finden sind. Meine Gedanken kehren zurück zur Zeremonie und wie ich meinen Eltern in die Augen blicke, stolz auf das Geleistete. Sie applaudieren und doch habe ich den Eindruck, dass es für sie das Selbstverständlichste auf der Welt ist, dass ich mein Diplom nun in den Händen halte. Am Abend setzt sich mein Vater zu mir an den Tisch und sagt: “Junge, jetzt beginnt der Ernst des Lebens, jetzt musst du zeigen, dass du ein Anwalt vom Schlag Frei bist. Enttäusche uns nicht!”

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