Kitabı oku: «Im Auge des Betrachters», sayfa 4

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Die Fußstapfen waren immer schon groß. Während andere Kinder auf Spielplätzen Fußball spielten oder sich die Zeit vor Spielekonsolen vertrieben, gab es bei mir ständig Nachhilfe, denn eine Zwei war eben nicht gut genug. Ich sehe meinen Mathelehrer vor mir, wie er verzweifelt versucht, mir die geometrischen Formeln zur Berechnung von Zylindern und Trapezen zu erläutern. Eine schreckliche Zeit war das! Als ich eine Eins minus in der Arbeit nach Hause brachte, war meine Mutter stinksauer. “Wir bezahlen ein halbes Vermögen für den Nachhilfelehrer”, sagte sie, “und das ist alles?” Danach sah ich ihn nie wieder.

Ich atme tief ein und langsam wieder aus. Die Erinnerung verblasst und Schwärze und Stille treten an ihre Stelle. Eine tägliche Meditation ist wie eine Kurzkur, eine Kur der Gedanken, ein Aussortieren des Mülls, der sich in der Vergangenheit angesammelt hat. Jeden Tag ein bisschen was rausbringen, das lindert den Stress ungemein. Selbst die großen Firmen haben neuerdings den Nutzen für ihre Mitarbeiter entdeckt, die extra Pausen zur Meditation anbieten, so dass die Angestellten dann viel konzentrierter und effektiver ihrer Arbeit nachgehen.

“Wenn du mal groß bist, wirst du der beste Anwalt der Stadt sein.”, höre ich meinen Vater sagen. Ich bin vielleicht neun Jahre alt und es ist Weihnachten, was unschwer an den dicken, roten Kerzen, die am Christbaum brennen, dem lila Lametta, das in deren Licht glänzt, und dem großen Stern, an der Spitze, der das Licht der kleinen Flammen spiegelt, zu erkennen ist. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik und die ganze Familie ist schick gekleidet. Ich habe soeben eines meiner Geschenke ausgepackt und ein Gesetzbuch zum Vorschein gebracht, was mich offenbar etwas irritiert hat schauen lassen, so dass sich mein Vater gezwungen fühlte, das Geschenk zu erklären. Nachdem er mit seinen Erklärungen fertig ist, blicke ich ihn mit großen Augen an: “Toll, Papa, dann werde ich genauso vielen Menschen helfen wie du.” Er entgegnet: “Na, ich hoffe, noch vielen mehr, du wirst ja schließlich noch erfolgreicher als ich. Dafür werden wir alles tun, stimmt’s?” Ich nicke, “Stimmt, Papa!”, und umarme ihn, “Danke!”

Einige Atemzüge später höre ich, wie Kieselsteine unter der Last von Schritten zur Seite geschoben werden. Ein letzter tiefer Atemzug und ich öffne langsam meine Augen. Sie müssen sich kurz an die Helligkeit gewöhnen, sehen dann aber wieder klar die Farben der Rosen und das dunkle Grün der Hecke. Die Schritte kommen näher. “Thomas, hey, störe ich?”, erklingt es von hinter der Hecke.

Die raue Stimme ist mir seit 33 Jahren bekannt. In der Grundschule sind Vincent und ich uns das erste Mal begegnet, seine schwarzen Haare trug er damals lang mit Pferdeschwanz, ein für unsere Schule ungewöhnlicher Look. Lange Zeit sah ich ihn als Sonderling, der nicht so richtig in Gruppen passen wollte, denn Sport hat er gemieden, so gut er konnte, Musik war ihm ein Dorn im Auge und in den Pausen vertrieb er sich die Zeit meist mit dem Beobachten von Käfern und Spinnen. In der vierten Klasse wurde er mir für ein Gruppenprojekt zugeteilt, woraufhin ich lautstark protestierte. All mein Protest jedoch fand kein Gehör und so kam es, dass wir uns eines Nachmittags bei ihm trafen - nicht bei mir, mein Vater hätte ihn nie im Leben reingelassen. Sein Zimmer in einem kleinen Haus am Stadtrand war gepflegt und überaus ordentlich. Er besaß eine ganze Reihe an Büchern über Tiere und Insekten, aber auch zahlreiche Krimis und Romane. Als ich ihn darauf ansprach, ihn eher für einen Comic-Typ zu halten, sagte er, “Nein, nein, das ist nichts für mich. Ich bilde mich lieber in richtigen Büchern, die sind so viel schöner geschrieben.” Ich erzählte ihm von den Gesetzbüchern, die wir zu Hause in den Regalen haben, woraufhin er versicherte, dass er auch schon eines davon gelesen habe. Er fügte jedoch direkt hinzu, dass es ihm so schwer gefallen war, all die Bedeutungen in den Paragraphen zu verstehen, dass er es frühzeitig abbrach und lieber warten wollte, bis er etwas älter sei, bevor er wieder zu einem solchen Buch greift.

Dass Vincent auch einmal Anwalt werden würde, hätte ich damals nicht erwartet, aber er behielt seinen Plan bei, las weiter, bildete sich ausgiebig und ging schließlich zusammen mit mir auf die gleiche Universität. Ich würde ihn nicht als meinen besten Freund, aber doch als den treuesten Wegbegleiter bezeichnen. Einmal die Woche kommt er entweder in meiner Kanzlei oder ich bei seiner Arbeitsstelle rum und wir quatschen ein wenig über die Neuigkeiten in unserem Leben.

“Hi Vincent! Nein, du störst nicht, ich bin gerade fertig mit meiner Meditation.”, begrüße ich ihn. “Dass du das so durchziehst, jeden Tag, bei jeder Temperatur, ob die Sonne scheint oder es schneit. Ich finde es immer wieder faszinierend. Hast du die tausend endlich geknackt oder dümpelst du immer bei neunhundertirgendwas rum?” Der herausfordernde Tonfall in seiner Stimme hatte einige Zeit gebraucht, bis er zum Vorschein kam, zuvor wirkte er mir gegenüber lange Zeit sehr zurückhaltend und konnte sich nicht wirklich öffnen. Don’t judge a book by it’s cover. Inzwischen kann er wahrlich frech sein, manchmal gar gemein, aber auf eine lustige Art. “Noch nicht ganz, aber die zwölf fehlende Fälle sollten ein Kinderspiel werden, heute Morgen sind wieder zwei reingekommen.” Er zieht symbolisch seinen Hut, “Das klingt doch super! Du bringst dann hoffentlich den Champagner, wenn es soweit ist, vorbei, das muss schließlich gefeiert werden!” Als Kind konnte man Vincent auf keine Feier bekommen, was er aber inzwischen vehement nachzuholen versucht - ob Festivals, Kneipentouren, Clubbesuche, er ist überall dabei und lässt sich durch nichts erschüttern. Manchmal schlägt er dabei über die Strenge, sitzt dann stundenlang am Tresen, halb schlafend, den Kopf zwischen den Armen, nur um urplötzlich aufzuspringen und wie ein Verrückter rumzuhampeln. Langweilig ist es mit ihm nicht, aber ich bin froh, dass er genug andere, jüngere Freunde hat, die all diese Events mit ihm machen. “Das geht klar.”, sage ich.

Ein paar Sekunden vergehen wortlos, dann frage ich, “Wie lautet dein Caserecord der letzten Woche?” Seine Augen drehen sich nach rechts oben, ein Zeichen, das er in seiner Erinnerung kramt. “Drei abgeschlossene Fälle, ein Vergleich, eine Niederlage und ein Sieg. So ähnlich wie es dem Club ergangen ist!”, lacht er. Seine Liebe zum Fußballverein ist lächerlich, er will nie ins Stadion gehen, aber schaut nicht nur jedes Spiel live vor dem Fernseher, sondern auch nochmal in der Zusammenfassung am Abend. “Die Jungs sind derzeit einfach grottenschlecht.”, sage ich, “Hätte ich damals nicht aufgehört, würde ich denen heute den Rang mit links ablaufen. Ich meine die Szene im Derby? Das kann doch nicht wahr sein, wie man aus der Distanz den Ball nicht versenkt. Wenn ich nur die Zeit hätte, zweimal die Woche zu trainieren, da wäre ich Stammspieler bei denen.” Vincent kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. “Du? Wann hattest du das letzte Mal Fußballschuhe an? Gingen wir da nicht noch zur Grundschule?” Um ehrlich zu sein, ich glaube mit Mitte 20. Aber ich war gut und hätte ich tatsächlich mehr Zeit investiert, wer weiß, ob ich es nicht zum Durchbruch geschafft hätte. “Das spielt doch keine Rolle. Was die können, kann ich auch, selbst in meinem Alter. Entweder der Trainer weiß einfach nicht, wie er das Maximum aus seinen Spielern rausholt oder die Spieler sind schlichtweg unfähig.” Die Mannschaft liegt mit zwei Punkten Vorsprung vor den Abstiegsplätzen seit Monaten in einer brenzlichen Situation und von der überschwänglichen Euphorie des Meisterschaftstitels von vor acht Jahren ist nichts mehr übrig. “Ich schätze, es ist der Trainer.”, sagt Vincent, “Er wechselt immer viel zu spät aus und hat kein klares Spielkonzept - mal Kontern, mal Pressing, mal lange Bälle, mal kurze Direktpässe - das ist zu wenig systematisch.” Das nächste Spiel der Mannschaft ist Sonntag, danach kommen nur noch zwei weitere Spiele. “Die steigen bestimmt noch ab, die Flaschen!”, antworte ich, “Der Sieg vorletztes Spiel war ja quasi ein Geschenk vom Schiri. Erst diese völlig überzogene rote Karte, dann der nicht gegebene Elfer und schließlich das nicht gepfiffene Foul kurz vor dem Tor. Da sollte man mal auf Wettbetrug untersuchen!” Vincent hebt den Finger, “Hör mal, der Sieg war sauber rausgespielt. Ja, vielleicht war ein bisschen Glück dabei, aber das gehört eben zum Spiel dazu.” Na klar, ein bisschen Glück, ich sage ja, seine Liebe zum Verein ist lächerlich, der Kerl sieht nur, was er sehen will.

Kapitel 4

Ein paar Stunden zuvor bei der Redaktion des Stadtblatts

Die Augen gen Himmel gerichtet blicke ich die Front des achtstöckigen Bürokomplexes hinauf. Tonnen an Stahlbauträgern wurden mit riesigen Kränen Stockwerk für Stockwerk in luftige Höhe gebracht. Die Bauzeit mit nur zwei Jahren verblüffte nicht nur die Verantwortlichen der Stadt selbst, sondern sorgte auch im Umfeld für Aufmerksamkeit. Im Vorfeld war der Bau nämlich lange umstritten gewesen. Insbesondere die Kirche klagte, da das Gebäude selbiger den Rang als höchstes Bauwerk der Stadt ablief - und es handelt sich bei unserer Kirche nicht um eine Dorfkirche. Die Bevölkerung war gespalten und es kam immer wieder zu heftigen Debatten unter den Verantwortlichen. Einen allgemeinen Bürgerentscheid gab es trotzdem nicht. Unter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass die Lobbyarbeit der zwei großen IT-Unternehmen im Komplex den größten Einfluss auf die letztlich positive Entscheidung zum Bau hatten. Mit Jahresumsätzen von fast hundertmillionen Euro lässt sich schon einiges bewegen. Im Nachhinein ist der Aufschrei der Bevölkerung nicht wirklich laut geworden, zumal die Arbeitslosigkeit in der Stadt durch den Bau und die zahlreichen Neuanstellungen nach Fertigstellung leicht gesenkt werden konnte. Für die Kirche war es quasi der Anfang vom Ende, was die Skyline betrifft. In den letzten Jahren sind weitere vier ähnlich hohe Gebäude dazu gestoßen, eines davon ein Hotel, das quasi im Handumdrehen die bisherige Hotellandschaft der Stadt gefressen hat und seither eine Art Monopolstellung besitzt. Nur weit außerhalb gibt es noch kleinere Hotels, die mittleren in der Innenstadt sind alle verschwunden. Das nächste große Bauwerk ist schon in Planung und könnte das neue höchste Gebäude werden, wenn es die Zustimmung der regionalen Politik erhält. Da es sich bei den Befürwortern unter anderem wieder um die zwei IT-Unternehmen handelt, deren Wachstum kein Ende zu kennen scheint, stehen die Chancen für den Bau sehr gut.

Noch aber ist meine Arbeitsstätte die Nummer eins in Sachen Höhe. Die auf jeder Etage symmetrischen vier Büroeinheiten sind im Viereck angelegt und auf allen Ebenen identisch. In der Mitte befinden sich vier dazu passende Aufzugschächte, die qualitativ top sind und seit der Inbetriebnahme nie ausgefallen sind. Auf allen Etagen bis auf das Erdgeschoss, wo sich der Empfang, zwei Kantinen und zwölf Tagungsräume befinden, gibt es nur Büros, Wohnfläche wurde nicht geschaffen. 28 Firmen sind demzufolge ansäßig, was die Anreise mit dem Auto wegen der beschränkten Parkmöglichkeiten für viele unausstehlich macht. Busse hingegen halten alle zehn Minuten und fahren in verschiedenste Richtungen.

Von der Bushaltestelle zum Eingang sind es knapp 100m, lang genug, die Fensterfronten zu bewundern. Auf der Westseite sind Fensterputzer aktiv, rund einmal im Monat kommt eine Firma und benötigt knapp eine Woche um alle Stockwerke abzuarbeiten. Gerüste müssen auf- und abgebaut werden, man ist etwas wetterabhängig und das reine Putzen dauert auch seine Zeit. Ganz oben auf dem Gebäude gibt es eine Aussichtsplattform, die einen sensationellen Ausblick über die Stadt gibt. Hin und wieder begebe ich mich in der Mittagspause dort hinauf und genieße die Höhenluft. Wenn die Sonne allerdings zu stark scheint, ist es temperaturmäßig kaum auszuhalten, zumindest nicht in den Monaten Mai bis August.

Die Redaktion befindet sich im sechsten Stock, der Aufzug unten steht sofort bereit und fährt heute ohne Zwischenstop in wenigen Sekunden hoch. Die Türen gleiten auf und ich zücke meine Chipkarte. Die gesamte Büroeinheit ist mit einer Glastür gesichert, die sich nur öffnet, wenn man eine entsprechende Chipkarte mit Zugangsberechtigung besitzt. Der Verlust einer solchen Karte kann den Arbeitnehmer teuer zu stehen kommen, allerdings nur, wenn er es nicht rechtzeitig meldet. Im Grunde ist die Lösung einfach, man programmiert den Code um und speichert ihn auf den existieren Karten. Das Problem ist am ehesten der ansonsten etwas hinterherhinkende Gebrauch von allem, was mit IT zu tun hat. Die Internetverbindung ist weiterhin nur die Zweitschnellste und den Änderungsvorschlägen wird immer wieder entgegen geworfen, dass es doch mit der bisherigen Technik klappe und diese vor allem stabil laufe. Würde man etwas Neues anschaffen, wisse man ja gar nicht, ob es nicht zu viel mehr Komplikationen käme. So ganz überraschen kann diese Einstellung bei einem konservativen Blatt natürlich nicht. Die Folge ist jedoch, dass alles, was den IT-Support betrifft etwas langsam vonstatten geht. Das ist kein rein technisches Problem, sondern liegt auch an mangelnder Manpower.

Die Eingangstür öffnet sich und ein “Guten Morgen Herr Truggenbrot!” hallt mir von der Rezeption entgegen. Wieso wir immer noch eine Rezeption hier oben besitzen, die dazu noch ganztägig besetzt ist, ist mir ein wenig schleierhaft. Zu tun hat dort über den Arbeitstag gesehen jemand vielleicht für zwei Stunden, der Rest ist Zeit totschlagen, da vieles bereits am Empfang im Erdgeschoss geklärt wird. Vielleicht gibt es die Rezeption weiterhin wegen des ersten optischen Eindruckes. Die Redaktion legt da viel wert drauf, alles ist farblich auf die Blautöne der Zeitung abgestimmt und das helle Mobiliar ist äußerst stilvoll eingerichtet. Große Topfpflanzen zieren die Ecken des Empfangs, überall ist viel Platz, so dass der Raum unheimlich groß wirkt. Auf der linken Seite befinden sich die zwei großen Konferenzräume, die letztes Jahr endlich auch mit Beamern ausgestattet wurden. Wie gesagt, es geht hier ziemlich konservativ zu. Daneben befinden sich noch zwei Mitarbeiterbüros sowie das Büro des Chefredakteurs. Auf der rechten Seite sind außer den Toiletten nur noch Mitarbeiterbüros. Alle sind für maximal drei Personen ausgelegt und meist mit zwei dauerhaft besetzt. Nur wenn es zu gesteigertem Workload für ein Thema kommt, wird der dritte Platz durch Umverteilung gefüllt. Das Prinzip hat sich bewährt und klappt über alle Resorts hinweg vor allem für die Recherche sehr gut. Alle Arbeitsplätze sind mit ergonomischen Stühlen ausgestattet, die keinen Wunsch offen lassen. Leider müssen sich alle Mitarbeiter nach wie vor mit zwei mittelgroßen Monitoren begnügen, während es bei vielen anderen Zeitungen mittlerweile üblich ist, auf drei großen Bildschirmen zu arbeiten. Vielleicht werden ja nächstes Jahr welche angeschafft.

Ich öffne die weiße Tür mit der Nummer acht. Tanja, meine Kollegin, ist noch nicht da. Sie kommt häufig erst eine Stunde später als ich, bleibt dafür aber entsprechend länger. Das hat den Vorteil, dass unser Büro durchgängig besetzt ist, da sich auch unsere Mittagspause in der Regel unterscheidet. Wirklich anders als bei mir zu Hause sieht es auch hier nicht aus. Hunderte Blätter säumen meinen Schreibtisch, der Kopierer blinkt und verlangt nach einem neuen Toner und das Telefon zeigt unbeirrt die 23 Anrufe auf dem Anrufbeantworter. Die sind alle abgehört, aber auf Grund eines technischen Defektes werden seit rund zwei Wochen dennoch 23 Anrufe gemeldet. Es dauert eben immer etwas länger mit diesen technischen Dingen.

Ich starte meinen PC, lege mir meine Dokumente von zu Hause zurecht, werfe einen Blick auf das Faxgerät und mache mir dann erst einmal einen Kaffee. Ein paar Minuten habe ich noch, denn beim Gang durch die Rezeption habe ich gesehen, dass mein Chef, der mich ja zu sich bestellt hat, noch im Gespräch ist. Der Kaffee wird auf jeden Fall nicht schaden. Nach gut drei Minuten ist der Rechner hochgefahren und ich mache mir einen Überblick der eingegangenen Mails. Die Hälfte lösche ich sofort, zwei markiere ich mir als besonders wichtig und den Rest werde ich bearbeiten, falls ich die Zeit dafür habe. Das Icon der App zeigt mir jedoch 124 an, weshalb das mit dem falls ich Zeit dafür habe doch eher utopisch ist. Ich greife zum Telefon und wähle die Kurzwahl der Rezeption. “Ist Richard noch im Gespräch?”, frage ich. “Hallo Herr Truggenbrot, nein, er verabschiedet gerade seinen Gast. Soll ich Sie ankündigen?”, antwortet die Stimme aus dem Telefon. “Nicht nötig, er weiß Bescheid.” Ich lege auf. Einen Schluck Kaffee später erhebe ich mich und mache mich auf den Weg zu ihm.

“Hallo Richard, du wolltest mich sprechen.” Richards Büro ähnelt dem aller anderen, hat aber nur einen Arbeitsplatz. Es ist sehr überschaubar eingerichtet, ein paar immergrüne Pflanzen, eine Couch und ansonsten die zwei Schreibtische, das war es. Neben der Eingangstür stehen für den Bedarf noch zwei weitere Stühle. Die Wände sind mit allerlei Urkunden geschmückt, die Erfolge der Zeitung aufweisen, Bilder gibt es keine, auch nicht auf dem Schreibtisch. Richard hat Familie, so viel weiß ich, zwei Söhne glaube ich, aber die Seite seines Lebens trennt er strikt von seiner Arbeit und ich habe gelernt, nicht weiter nachzufragen. “Guten Morgen Rolf, du sahst schon mal besser aus, schlecht geschlafen?” Mit den Jahren kennt mich Richard sehr gut. “Ja”, antworte ich, “mal wieder dieser Traum. Aber ich war schon laufen heute Morgen, ist schon fast wieder vergessen. Was hat das jetzt mit diesem Musiker auf sich?”

Er durchsucht die Blätter auf seinem Schreibtisch, scheint aber auf Anhieb nicht zu finden, wonach er sucht. “Wie schon gesagt, Christian und Evelyn fallen aus und ich brauche jemanden, der sich um die Sache kümmert. Du bist meine erste Wahl. Es geht ganz grob um einen Rapper namens Johnny C., bei dem einem seiner Bandmitglieder Vergewaltigung vorgeworfen wird. Irgendwie sowas. Außerdem haben die jüngst auf einem Festival gespielt und einen neuen Song präsentiert. Daher gibt es genügend Material, um daraus eine gute Story zu machen.” Der Rechtsbezug macht den Fall für mich gleich interessanter. Kriminalfälle haben mich immer schon fasziniert und wenn ich mal Zeit für Fernsehen opfere, dann für einen der rar gewordenen, guten Krimis. “Interessant. Eine Vergewaltigung habe ich noch nicht behandelt, woher hast du die Info? Ich hätte bestimmt schon davon gehört, wenn das schon öffentlich wäre. Johnny C. ist ja durchaus bekannt bei uns in der Stadt.”

Richard sucht weiter in seinen Papieren. “Die Info basiert auf internen Quellen, mehr kann ich dir gerade gar nicht sagen. Ein bisschen selbst recherchieren wirst du noch müssen, aber meine Quelle sagt, dass der gesamte Vorfall hoch brisant ist und Karrieren zerstören wird.” Er flucht kurz, “Ich finde das Übersichtspapier grad nicht, tut mir leid. Ich reiche es dir nach, sobald es mir in die Finger fällt. Du kannst ja mit ein wenig Online-Recherche anfangen. Tanja wird dich unterstützen, kommt heute aber noch etwas später als gewöhnlich, weil sie noch einen Arzttermin hat. Ach ja, und ab Morgen ist noch eine Praktikantin bei dir, eine Anna oder Anne Friedrich, sie bleibt für sechs Wochen.” Das auch noch, der muss ich dann bestimmt wie der letzten Praktikantin erst mal wieder viel erklären. Die war echt der totale Reinfall. “Waren wir uns nicht einig, dass erst mal keine Praktikanten mehr zu mir kommen?”, frage ich. “Die hier ist anders, glaub mir, die hat echt was auf dem Kasten, du wirst sie mögen.” Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. “Na, wenn du meinst.” Richard blickt plötzlich ernst: “Wenn du diesen Artikel schreibst, mach deutlich, dass wir als Zeitung uns ganz klar gegen jede Art der Vergewaltigung und was da nicht sonst noch passiert ist, richten. Wir haben einen Ruf in der Stadt und dem Umfeld und es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden.” Ich stutze etwas, denn solch eine Aussage kommt von Richard nicht oft. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es so etwas sogar noch nie. Perplex nicke ich leicht. Er lächelt und wechselt das Thema. “Wie war dein Date neulich?”

Von Zeit zu Zeit probiere ich es eben noch einmal. Meine Oma mit ihren stolzen 87 Jahren wünscht sich ja so sehr ein Ur-Enkelkind. Natürlich wäre eine Frau zu finden schon eine tolle Sache, aber so richtig funken will es einfach nicht. Eine Kollegin aus der Sportabteilung hatte das Date am letzten Samstag verkuppelt. Sie hatte mir im Vorfeld gesagt, dass Tina eine reizende Persönlichkeit hätte, total lieb sei und mir auf Anhieb gefallen müsse. Sie sei lediglich Single, weil sie sich immer die falschen Männer aussuche. Damit sollte jetzt ein für alle Mal Schluss sein. Wie kommst du dann auf mich, hatte ich lachend gefragt.

Jedenfalls trafen wir uns in einem Café in der Innenstadt, nicht weit entfernt von der Kirche. Wir hatten abgemacht, dass sie einen roten Pullover und ich eine schwarze Weste tragen würde. Natürlich hatten wir auch im Vorfeld Fotos voneinander gesehen, dafür hatte meine Kollegin gesorgt, aber auf Fotos kann man ja heutzutage nicht mehr so sehr vertrauen. Wenn ich an den Anblick heute Morgen im Spiegel denke, würde ich das Foto, das Tina zu Gesicht bekommen hatte, für absoluten Fake mit ganz viel Bearbeitung und Zeitversatz von vielleicht zehn Jahren halten. Tina trug eine runde Brille, hatte die dunklen Haare offen, ungefähr schulterlang und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, als ich am Café eintraf. Auf ihrem roten Pulli stand in großen Buchstaben Tierfreund, ein erstes Statement. Wir hatten nie Haustiere als ich klein war, vielleicht habe ich auch deshalb nie verspürt, mir ein eigenes anzuschaffen. Ehrlicherweise hätte ich aber auch gar keine Zeit für ein Tier, die Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst und ganz fest sind die Arbeitszeiten ja ohnehin nicht. Da gibt es sicher bessere Herrchen, bei denen ein Hund - wenn überhaupt, dann käme ein Hund in Frage - aufgehoben wäre.

“Bist du Tina?”, hatte ich trotz der eindeutigen Zeichen gefragt. Sie nickte und sah dem Foto, das ich bekommen hatte, gar nicht so unähnlich. Sie wirkte lediglich ein ganz kleines bisschen rundlicher und die offenen Haare ließen sie jünger wirken. “Hi, äh, ich bin Rolf. Schön dich kennenzulernen.” Ich streckte ihr die Hand entgegen. “Hallo Rolf, gleichfalls, ein bisschen was habe ich ja schon über dich gehört.” Sie lächelte und schüttelte mir dabei kurz die Hand. “Sollen wir uns draußen einen Tisch nehmen, drinnen ist es immer so laut.”, schlug ich vor. “Klar, kein Problem.”, antwortete sie und zeigte auf einen freien Tisch: “Den da vielleicht?” Ich nickte und wir setzten uns. Ich schaute in die Getränkekarte, suchte mir ein alkoholfreies Radler aus und blickte zu ihr. Sie schien etwas verstört, sagte aber nichts. Ich hielt ihr die Karte hin und sie suchte sich selbst etwas. Worüber sollte ich bloß mit ihr sprechen? Das ist immer wieder mein Problem bei diesen Dates, ich will ja nicht die ganze Zeit von meiner Arbeit reden und aktuelle Politik besprechen, soll beim ersten Date nicht so gut ankommen. Da würde ich mich aber wenigstens auskennen. “Ich nehme eine Rhabarberschorle.”, verkündete sie stolz. Das habe ich mir auch nur merken können, weil ich Rhabarber absolut unausstehlich finde. “Gut. Was machst du beruflich?” Dem irritierten Ausdruck in ihrem Gesicht entnehme ich, dass die Frage wohl zu früh kam, dennoch antwortet sie, “Ich bin Tierpflegerin im Tierheim in der Nordstraße. Kümmere mich um streunende Katzen und Hunde und päppele sie auf.” Das Tierheim kenne ich nicht, die Nordstraße sagt mir etwas, aber ganz genau einordnen kann ich sie nicht. “Ah, okay, du magst Tiere wohl? Ich arbeite als Journalist beim Stadtblatt. Du weißt schon, in dem großen Hochhaus mit den ganzen Firmen.” Sie nickt. “Ja, klar, weiß ich von Manuela, sie arbeitet ja auch dort. Wie gefällt dir die Arbeit? Und ja, ich mag Tiere über alles, die sind so knuffig und treu. Ich habe selbst einen Hund, eine Katze, zwei Kanarienvögel und ein Aquarium mit diesen Guppies, kennst du die? Herrliche Geschöpfe.” Manuela hieß die Kollegin aus der Sportabteilung, richtig, mir war der Name entfallen. “Ja, schon mal davon gehört.” Der Kellner kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Es blieb bei dem einen Getränk. Wir haben dann irgendwie den Faden verloren und hatten uns fortan nicht mehr viel zu sagen. Sie schien sich auch gar nicht für mich zu interessieren.

“Hätte besser laufen können.”, antworte ich Richard, nachdem er sich geräuspert hatte und mir auffiel, dass ich in Gedanken versunken war. “Also war jetzt eher ein Flop. Wir hatten uns nichts zu sagen und sie kannte kein anderes Thema als ihre Haustiere. Ich bin ja jetzt nicht gegen Tiere, aber”, beginne ich. “Aber was?”, fragt Richard. “Ich weiß auch nicht, hat einfach nicht gefunkt.” Mein Chef zieht die Mundwinkel nach unten und nickt. “Es funkt ja auch nicht immer gleich beim ersten Mal. Du wirst schon noch jemanden finden, bist schließlich ein netter Kerl, der eine Menge auf dem Kasten hat. Trefft ihr euch trotzdem nochmal?” Nochmal? Nein, danke. Ich kann meine Zeit besser vertreiben als jemanden anzuschweigen. “Ich denke nicht. Wahrscheinlich wird das nichts mehr mit der Ehe und den Kindern. Das Gute ist, dass mich dann niemand von der Arbeit ablenken kann. Außerdem halten Beziehungen ja ohnehin nicht, die Statistik über die Scheidungsraten lügt ja nicht und von Jahr zu Jahr werden es mehr.”, füge ich hinzu. “Ach Rolf, lass den Kopf nicht hängen, zu jedem Topf gibt es auch einen Deckel. Aber wenn du die Arbeit schon ansprichst. Deadline für den ersten Entwurf ist in 48 Stunden. Wir wollen hier schnell handeln und dann bei der nächsten größeren Teamsitzung alles Weitere besprechen.” 48 Stunden ist nicht viel Zeit für ein Thema, von dem man gar keine Ahnung hat. Irgendwas scheint an diesem Bericht anders zu sein. “Puh, das wird aber eng. Ich schaue mal, was sich machen lässt.” Richard setzt wieder sein ernstes Gesicht auf. “Rolf, der Artikel wird wichtig. Ich setze dich ran, weil du der Beste für den Job bist. Mal schauen reicht da nicht. Verstehst du?” Ich sage ja, irgendwas ist anders, so kenne ich Richard gar nicht. Es gehört sich aber nicht, seinem Chef länger zu widersprechen. Ich seufze und stimme zu. “Ich bekomme das hin. Dann mache ich mich auch mal an die Arbeit. Hoffentlich kommt Tanja nicht allzu spät heute.” Richard erläutert, “Tanja ist beim Arzt, hab ich doch vorhin gesagt. Sie wird später kommen und dir heute nicht so viel helfen können. Ich suche gleich nochmal nach dem Dokument und lasse es dir rein reichen.” Beim Arzt, ausgerechnet heute. “Ah, okay.” Ich stehe auf, drehe mich um und verlasse das Büro.

Zurück in meinem Büro angekommen, fahre ich die elektrischen Jalousien zu, die Sonne blendet aus diesem Winkel für die nächste Stunde. Ich denke über das Gespräch mit Richard nach, vor allem die Art und Weise wie er das mit der Vergewaltigung ausgedrückt hat und wie der Standpunkt der Zeitung ist. Es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden, hatte er gesagt. Eine komische Aussage, ich bin gespannt, was die Recherchen über diesen Johnny C. und seine Band ergeben werden. Richard lässt mir bei meinen Artikeln sonst sehr viel Freiheiten, an einen Hinweis auf die konservative Haltung unserer Zeitung kann ich mich nicht erinnern. Und es gab auch schon Artikel, in denen ich ziemlichen Schwachsinn fabriziert habe. Allen voran der Text über die geplante Abschaffung des Studententickets, was sich als völlige Ente erwies. Damals war ich natürlich noch recht unbeholfen und zu meiner Verteidigung hat das Zwei-Quellen-Prinzip in dem Fall versagt. Beide Informanten hatten sich über Umwege auf dieselbe Ausgangsperson bezogen, was ich mit etwas mehr Zeit wohl auch herausgefunden hätte. Leider wollte ich mir diese Zeit selbst nicht geben und unbedingt eine echte Schlagzeile produzieren. Richard hat mich damals geschützt und sich hinter meinen Artikel gestellt, das kam nicht überall gut an. So wie heute habe ich ihn noch nicht erlebt. Mach deutlich, dass wir uns gegen jede Art der Vergewaltigung richten. Seine Informationen müssen verdammt gut sein, vielleicht kennt er das Opfer selbst. Das würde natürlich sein Verhalten erklären. Mal sehen, wann Tanja kommt, sie ist in den Anfangsrecherchen deutlich schneller als ich und mit dem Computer kommt sie auch besser zurecht. Ich fange am besten trotzdem schon mal an. Wo ist nochmal der Browser… Da. Richard, wieso kannst du mir nicht mehr verraten? Naja, er wird schon wissen, was das Beste für die Zeitung ist, das hat er oft genug bewiesen.

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