Kitabı oku: «Freie Republik Lich - 2023», sayfa 3

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Damals 2019

Das Jahr begann mit einem Dienstag und endete ebenfalls mit einem Dienstag. Dazwischen gab es die Klimakrise, und wie im Jahr zuvor plagten lang anhaltende Hitze- und Dürrewellen, die zu neuen Rekordtemperaturen führten, die Welt. Ich hielt mich Anfang des Jahres des Öfteren in Lich auf; und dort arbeitete ich gelegentlich für den erwähnten Verlag noch einige Zeit später.

Im Städtchen wie auch anderswo schlug die Klimakrise hohe Wellen. Der Eissalon hatte Hochkonjunktur. Ansonsten blieb man Zuhause oder besuchte frühmorgens das Waldschwimmbad, wenn das Wasser noch relativ kühl und erfrischend war. Stella beschaffte sich eine mobile Klimaanlage. Die Maschine fraß viel Strom, kühlte jedoch merklich ihre Wohnung. Auch das geplante Logistikzentrum mit seinen gigantischen Ausmaßen und prognostizierten Nebenwirkungen sorgte für überschießende Hitze – bei den Gemütern. Doch dagegen half keine Klimaanlage. Die Bürger erregten sich zusehends und ihre Gemüter kühlten nicht ab.

Im Licher Wochenanzeiger las ich Anfang Mai erneut einen Leserbrief von jener Dame, die ich damals angerufen hatte.

Wer braucht so ein Monster?

Ein derart gigantisches Logistikzentrum am Ostrand unserer Stadt passt einfach nicht zu unserem kulturellen Selbstverständnis. Die Aufgabe unserer Stadtpolitik sollte es sein, ein 20 Meter hohes Monstrum zu verhindern und damit die Qualität einer historischen Kleinstadt wie Lich zu sichern und weiter auszubauen. »Binnen-Tourismus« könnte das Schlagwort der Zukunft lauten.

Wir verschandeln unser schönes Stadtbild, wir verpesten unsere Luft und werden eine CO2-Supermacht, eine Dreckschleuder. Was haben wir davon? Nichts außer einer Menge Schäden und Probleme! Das Brauerei-Areal umfasst 30 000 qm. Das geplante Monster aber verschlingt das Dreifache. Denkt nach, Stadtverordnete, und lasst euch nicht einwickeln! Und eine große Bitte: Verschaukelt uns nicht!

Edith Neuer-Süß, Lich

Ich las es Stella vor und sagte: „Die Frau ist irgendwie zu bewundern. Obwohl sie schon in Erfahrung gebracht hat, wer der Investor ist und was er so treibt, erwähnt sie ihn mit keinem Wort.“

„Vielleicht ist sie einfach nur feige.“

„Glaube ich nicht. Sie will das Pferd nur nicht von hinten aufzäumen. Im Moment hat die Stadt ja noch nichts über den Investor und seinen Namen verlauten lassen. Würde der von außerhalb ins Gespräch gebracht, würde die Diskussion darauf gelenkt, woher man das weiß, wo die undichte Stelle sitzt, und wie schrecklich unehrlich es sei, mit nicht gesicherten Auskünften zu hantieren und dergleichen. Ist schon klug von ihr.“

„Magst recht haben, Herr Superanalytiker“, sagte Stella und gab mir einen Kuss.

Ich drückte sie fest an mich. Dann nahm ich einen Schluck aus meiner Kaffeetasse, setzte den analytischen Superblick auf und sagte: „Es wäre ungewöhnlich, wenn sich jetzt nicht eine trotzige Gegenstimme hierzu äußern würde.“

„Wer will sich schon als Kaputtmacher outen? Ich bezweifele, dass sich auch nur ein einziger Monster-Befürworter öffentlich äußern wird.“

Eine Zeit lang blieb der Leserbrief der Frau Neuer-Süß unbeantwortet. In der Zwischenzeit hatten sich auch andere Leser gegen den Baukoloss ausgesprochen. Aber dann traute sich die Gegenstimme doch heraus. Sie kam. Und sie schlug ein wie eine Briefbombe.

Zum Leserbrief »Wer braucht so ein Monster?«

Kurze Antwort: Wir in Lich! Warum? Darum: Es gibt einen Großinvestor, der sämtliche Nebenkosten bezahlt, der sogar bereit ist, für einen teuren Verkehrskreisel am geplanten Logistikzentrum und dessen jährlichen Pflegeunterhalt aufzukommen. Diese Chance muss genutzt werden, sie kommt nicht alle Tage. Es ist ein Geschenk an uns. Wir müssen nur zugreifen und es dankbar annehmen.

Wollen wir verarmen? Keiner will von seinem Lebensstandard runter! Am wenigsten alle die, die grün angehaucht sind. Wer nutzt denn das Internet und die Handys und lässt sich die Pakete bis vor die Haustür liefern?

Das „Monster“-Vorhaben wird unsere Stadt nicht nur nichts kosten, sondern viel bringen: Steuer-Mehreinnahmen, neue Bürger, damit kommt Kaufkraftstärkung usw. Dieses Objekt müssen wir markt- und zukunftsorientiert betrachten, und wir sollten nicht den optischen Gefühlsausbrüchen der Ewiggestrigen unterliegen. Grüne Phantastereien sind jetzt völlig deplatziert. Im Leserbrief vom 2. Mai 2019 suggeriert uns die Schreiberin 20 Meter hohe Lagerhallen. Davon kann absolut keine Rede sein. Es geht um eine Gesamthöhe von höchstens 12 Metern für die Lagerhallen.

Der vielleicht etwas erhöhte Verkehr (es ist alles noch völlig offen!) wird unsere Innenstadt sowieso nicht tangieren. Ja, alle Veränderungen und Erfindungen in der Vergangenheit haben etwas Neues geschaffen und wurden anfangs skeptisch aufgenommen oder sogar abgelehnt, um nach einiger Zeit von Akzeptanz und Erfolg belohnt zu werden.

Ja, Lich braucht diesen Investor!

Ja, Lich kann mit dem »Monster« leben!

Gerald Alt, Lich

„Sehr lustig!“, meinte Stella. „Ein Ewiggestriger spricht in der ihm eigenen Betriebsblindheit von Andersdenkenden als den »Ewiggestrigen«. Als sei es altbacken, wenn man sich gegen ein Projekt ausspricht, das die Umwelt, unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden gefährdet. Ist es altbacken, wenn man etwas, was alte Kapitalistensäcke an ihrem Roulette-Tisch aushecken, ablehnt? Profit contra Menschen, sag ich nur!“

Stella hatte sich in Rage geredet. So kannte ich sie nicht. Sie starrte angewidert auf die Zeitung, aus der sie mir gerade den Leserbrief vorgelesen hatte.

„Rege dich bitte nicht auf. Nicht deswegen!“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Nun ist die Leserbriefschlacht eröffnet“, entgegnete sie, ohne auf meinen Versuch einzugehen.

„Willst du dich vielleicht mit einem eigenen Leserbrief einmischen?“ Ich sah sie fragend an. Und einen kurzen Augenblick lang blickte mich Stella mit ihren großen braunen Augen an, zweifelnd, ob sie es tun sollte.

Dann schüttelte sie entschieden den Kopf und meinte: „Bringt eh alles nichts. Was kümmert die Monstertypen die Meinung von uns Kapital- und Namenlosen?“

Ende Mai antwortete Leserbriefschreiberin Edith dem Monsterbefürworter Gerald in der gleichen Zeitung.

Der Leserbrief des Herrn Alt bedarf einiger Klarstellungen. Ich suggeriere keine 20 Meter hohen Lagerhallen – diese Höhe ist im Entwurf des Bebauungsplans als mögliche Höhe angegeben. Warum sollte sie der Investor nicht ausschöpfen, wenn man es ihm freiwillig anbietet? Je mehr Quadratmeter pro Fläche desto höher sein Gewinn.

Noch immer ist die Frage nicht geklärt, wer der tatsächliche Nutzer sein wird. Warum die Geheimniskrämerei? Und machen wir uns nichts vor: Das GESAMTE Stadtgebiet samt Umgebung, samt Stadtteilen und Zufahrtsstraßen für unsere Pendler wird vom LKW-Verkehrsfluss berührt werden.

Ein Geldsegen steht bei solchen Logistikzentren für unsere Stadt überhaupt nicht in Aussicht. Der Geldsegen regnet nur auf den Investor herab, für uns bleiben Brotkrumen übrig, wenn überhaupt. Vielleicht zahlen wir noch drauf, wie es an anderer Stelle bereits der Fall war. Und wer glaubt überhaupt, dass die oder das Pachtunternehmen seinen Firmensitz in Lich haben wird? Hier wird nur die billige Zwischenlagerung betrieben und der Verkehrsdreck auf uns abgeladen. Mehreinnahmen? Da lachen ja die Hühner. Nur die Rebhühner lachen nicht mehr, denn die sind dann von der Langsdorfer Höhe vertrieben.

Wer sich meiner Kritik mit einem Appell an unsere gewählten Stadtverordneten anschließen möchte, den bitte ich, sich in die demnächst ausliegenden Unterschriftslisten einzutragen.

Edith Neuer-Süß, Lich

Es war ein fast schon hochsommerlicher Samstag, als mein Arbeitskollege und neuer Freund Benjamin Carl und ich den ersten Sturm kurz nach fünf Uhr aus Richtung des Klosters Arnsburg heraufziehen sahen. Wir dachten jedenfalls, dass es ein Sturm werden würde. Das Wolkenband wirkte außerordentlich bedrohlich. Ben strich sich mit bedenklicher Miene über die Haare, die ich nicht hatte. Er rasierte sich im Gegensatz zu mir keine Glatze, was mich morgens viel Zeit kostete. Er trug die erstaunlich vielen Überbleibsel seiner graumelierten Haare als „jugendlichen Restbestand meiner ehemaligen Beatles-Mähne“ mit Stolz, wie er mir einmal lachend gestanden hatte. Dabei hätte er überhaupt nichts gestehen müssen. Eine Beatles-Mähne war damals ein halbes Verbrechen, aber heute?

Ben trug einen akkuraten Vollbart, so ein Mittelding zwischen Rauschebart und Drei-Tage-Bart, ganz im Gegensatz zu mir, der ich auf so wenig Behaarung wie möglich Wert legte. Es war mir zu nervig, einen Bart zu trimmen und zu pflegen und außerdem juckte er immer.

Ben war fünf Jahre älter als ich, setzte sich wie ich beim kleinsten Sonnenschein stets eine Sonnenbrille auf die Nase, und er war ein echter Kumpel. Er hatte früher als Vermessungsingenieur gearbeitet und half nun nebenbei, nach seiner Verrentung, im Verlagswesen mit. Korrekturen, Recherchen, Ablage- und Archivarbeiten, Zusammenstellung von Dokumentationen und all solch feine Sachen übernahm er. Was immer an Arbeit anfiel, erledigte er im Handumdrehen, gewissenhaft wie er war.

Wir hatten gerade unsere zehn Abschlussrunden im Waldschwimmbad gedreht. Noch eine Stunde vorher war es völlig windstill gewesen. Die Hitze lastete schwer und drückend auf uns und auf den anderen Schwimmbadgästen. Vier der anderen Gäste, bei denen Ben und ich gesessen hatten, luden uns zu ihrem Grillabend nahe des Bürgerhauses ein. Ben kannte sie seit mehreren Monaten, genauer gesagt: seit den ersten Nachrichten über das geplante neue Verteilzentrum.

Bens Freunde waren allesamt gegen den Koloss, den man mitten in die Natur pflanzen wollte. Thema des Abends sollte also das Logistikzentrum sein, gegen das seit Anfang des Jahres unentwegt protestiert wurde. Man hatte eine Bürgerinitiative gegründet. Irgendwie interessierte mich das Thema zwar – auch weil Stella letztlich so energisch Partei ergriffen hatte. Aber ehrlich gesagt, berührte es mich nicht sonderlich. Nun gut, immerhin, es wurde ja am Abend gegrillt.

„Wird wohl nix mit dem Grillabend“, rief Ben in diesem Augenblick dem Vorsitzenden der neuen Bürgerinitiative, Lothar Balser, zu und deutete in Richtung der Gewitterwolken.

Der fast Sechzigjährige zog sich gerade an, schaute kurz zu dem aufkommenden dunklen Wolkenband und rief zurück: „Vielleicht zieht es durch. Im Notfall grillen wir am heimischen Herd im Trockenen. Kommt einfach!“

Wir schwangen uns so schnell wie möglich auf unsere Räder. Am Nachmittag hatten Ben und ich – abgeschirmt von weit ausladenden Baumkronen – der unerbittlichen Sonne getrotzt und geruht. Wir hatten uns über die aktuelle Lokalpolitik und diese Bürgerinitiative unterhalten und uns zwischendurch immer wieder im Naturgewässer abgekühlt. Aber das Wasser des Waldschwimmbades, das direkt aus einer kühlen Quelle gespeist wurde, brachte keine Erfrischung – die Sonne hatte es im Laufe des Mittags im Nu aufgeheizt.

Ben fuhr weiter zu sich nach Hause, und ich spurtete in Stellas Treppenhaus die Stufen hoch, um mich schnell umzuziehen und sie zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Aber meine Freundin war von ihrer Arbeit als Optikerin zu erschöpft. „Den ganzen Tag Gequatsche mit Kollegen und Kunden, nein, jetzt mag ich meine Ruhe. Die Hitze hat mich heute total geschafft“, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß! Ben kommt ja mit, da bist du nicht ganz so alleine unter Fremden.“

Natürlich wusste sie, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn ich ohne sie auf eine kleine Party ginge, aber dennoch tat sie, als sorge sie sich um mein Befinden.

Ben und ich kamen etwas zu spät. Es war fast sieben, als wir auf der Terrasse der Familie Balser, die nach Südosten mit Blick zum Stadtrand hinausgeht, Platz nahmen. Lothar hatte bereits den Außengasgrill angeworfen, denn die dunklen Wolken hatten, seitdem wir das Schwimmbad verlassen hatten, merkwürdiger Weise an einer bestimmten Stelle wie stoisch verharrt. Jedenfalls bisher. Ein sehr ungewöhnliches Wetterphänomen, dachte ich. Ich erinnerte mich an das gleiche Phänomen, das Stella und ich voriges Jahr von ihrem Balkon aus beobachtet hatten.

Bis auf unsere zwei Plätze war der Achtertisch bereits besetzt und die Begrüßung war überaus freundlich gewesen. Man sah mich, den Neuen, mit neugierigen Blicken an. Ich stellte mich kurz vor und saß natürlich neben Ben, der immer bestätigend nickte, wenn ich etwas sagte. Ein echter Beschützer, auch wenn ich es eigentlich nicht nötig hatte. Uns beiden gegenüber hatten die Gastgeber, das Ehepaar Balser, Platz genommen. Ellen mochte um die 55 und Lothar vielleicht 60 Jahre alt sein.

Ihr fünfundzwanzigjähriger Sohn Nico bediente den Grill. Den Umgang mit Feuer hatte er im Blut, wie ich sah. Und wie ich nach einiger Zeit von ihm erfuhr, war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. Das sollte unserer neuen Republik zwei Jahre später sehr von Nutzen sein. Neben Ben saßen in wohl willkürlicher Reihenfolge unsere spätere Verteidigungsministerin Claudia zu Solms-Arnsburg, die damals als Tierärztin in unmittelbarer Nähe des geplanten und bereits abgesteckten 40.000 Quadratmeter-Bauplatzes praktizierte, daneben der Privatier Ludwig Henrich mit Sommerjackett und vollem Haar.

Der ältere Herr war seit zwanzig Jahren in Pension, einst angesehener Wissenschaftler in seinem Berufsleben gewesen, Biologe, was er natürlich auch jetzt noch war, und er war mit seinen 82 Jahren der Stammesälteste, dessen Hauptanliegen dem Naturschutz galt. Neben ihm saß Bernd Neuer, der Gatte von Frau Neuer-Süß.

„Erst Ihre Frau hat mich mit ihren Leserbriefen auf das aufmerksam gemacht, was Lich seit einiger Zeit bewegt“, sagte ich. „Dafür werde ich ihr danken, wenn sie nachher kommt. Schließlich gehört eine gewisse Portion Mut …“

„Entschuldigung, aber das hat nichts mit Mut zu tun“, unterbrach er mich. „Das wäre ja noch schöner, wenn wir Bürger unsere Meinung zu solch einem geplanten Schandfleck nicht äußern dürften. Noch leben wir in einem freien Land! Aber heute Abend müssen Sie allein mit mir vorlieb nehmen. Meine Frau ist verhindert und kann nicht kommen.“

Ich unterhielt mich mit ihm und erfuhr, dass er Gründungsmitglied der Initiative sei, die sich gegen das Logistikzentrum positioniere. Er war 71 Jahre alt und entsetzt, dass der Bürgermeister im Begriff war, seine Stadt an den Teufel zu verkaufen. Nach einer Viertelstunde waren wir per Du, und auch die anderen verständigten sich mit mir darauf, dass wir uns duzten. Ob ich bei ihnen mitmachen würde, fragte man mich.

„Ich möchte es mir überlegen. Noch weiß ich zu wenig“, gab ich zur Antwort.

Die hier Versammelten kannten sich bereits von ihren Aktivitäten für die Bürgerinitiative gegen die monströse Flächenversiegelung der Langsdorfer Höhe. Sie nannten sich »Bürger für Lich – BfL«. Man hatte an zwei zusammengeschobenen Tischen Platz genommen. Die Sache mit dem Logistikzentrum war mir jetzt keinesfalls mehr fremd, aber auch nicht besonders klar. Ben hatte mir davon nur sporadisch berichtet. Gut, ich kannte die bisherigen Leserbriefe, aber im Prinzip war ich neu im Städtchen. Wie in jedem Neuland musste man erst einmal das Feld gründlich erkunden. Feldversuche gewissermaßen.

An diesem Abend begann mein Feldversuch, von dem ich nicht ahnen konnte, in welche Unwirklichkeit er mich katapultieren würde.

Ben verteilte einige Kopien. „Der Entwurf meines Leserbriefes“, sagte er, und dann wurde fleißig diskutiert. Nico servierte uns Bratwürste und Grillfleisch. Auf dem Tisch standen Salate und Getränke, aber die Temperatur war schwül und drückend.

Wir alle zerschnippelten ziemlich lustlos das Gegrillte und stocherten in Ellens hausgemachtem Kartoffelsalat herum. Keiner ließ sich die Lustlosigkeit so richtig anmerken. Alle gaben dem Wetter die Schuld. Das Essen war wirklich vorzüglich und es gab neben den Steaks eine weitere Auswahl an vegetarischem Grillgut. Doch unser Hunger war bescheiden. Der Hausherr bot uns Bier und Wein an, aber niemand schien etwas anderes zu wollen als Mineralwasser oder, wie ich, Cola Zero, das mir Nico in einem schicken Metallgefäß voller Eiswürfel kühlte. Ich beobachtete die unruhigen Vögel auf den Ästen der Obstbäume in Balsers Garten.

Plötzlich überkam mich ein komisches Gefühl und in meinem Geiste sah ich vorüberfliegende Drohnen, immer taumelnd, immer in Gefahr abzustürzen – und zwar genau auf das fiktive Logistikzentrum. Aber das würde sowieso niemals gebaut werden, wie ich mir schnell versuchte klar zu machen. Wahrscheinlich wollte ich mich instinktiv ablenken, wie ich einige Sekunden später vermutete. Reflexartig warf ich Claudia, meiner Nachbarin zur linken Seite, unauffällig einen Blick zu. Hatte sie meine Unruhe bemerkt? Sie saß jedoch ziemlich ungerührt auf ihrem Platz, etwas steif, und folgte aufmerksam Bens Ausführungen.

„Ja, es wird viel geschrieben“, hörte ich wie aus weiter Ferne Ben sagen. Dann muss es wohl weiter um den Leserbrief gegangen sein, welchen Ben für die Gruppe entworfen, aber noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben hatte. Doch ich konnte der Sache nicht folgen. Zu sehr wurde jetzt mein Blick von den Ereignissen am Himmel gefangen genommen. Das rotgolden durchwachsene Blau eines üblichen Sommerabends war schon vor zwei Stunden mit dem ersten aufziehenden Wolkenband verschwunden und einem dämlichen Grau gewichen.

Doch jetzt war in südöstlicher Richtung so etwas wie ein langgezogenes schwarzes Dach aufgezogen, aus dem ein dicker weißer Nebel herunterfiel. Es waren gewissermaßen zwei völlig unterschiedliche Schichten, wie bei einem jener viel beworbenen »Kinder Riegel«, der aus einer dunklen Schokoladenschicht und einer dicken Milchcreme besteht. Nur klebte die Milchcreme nicht am dunklen Wolkenband, sondern strömte wie bei einem Wasserfall, allerdings in Zeitlupe, auf das darunter liegende Terrain. Ich versuchte, das Gelände zu orten und kam zu dem Schluss, dass es genau die Langsdorfer Höhe war, wo der dichte weiße Nebel runtergehen musste.

„Komisches Wetter“, hatte ich gemurmelt, und meine Nachbarin hatte es gehört.

Claudia zu Solms-Arnsburg sah erst mich an und dann, als sie meinem Blick folgte, sah sie das Naturphänomen. „Da haben Sie …“ Sie unterbrach sich und verbesserte: „Da hast du absolut recht – ein komisches Wetter. Und das erleben wir ja jetzt schon ein paar Jahre hintereinander.“

„Aber nicht in dieser Form“, sagte ich und schüttelte entschieden den Kopf.

„Hm, das hängt alles mit dem Klimawandel zusammen.“ Und dann diskutierte sie wieder mit den anderen über das zukünftige Vorgehen, um möglichst viele Mitbürger zum Mitmachen gegen den Moloch zu gewinnen.

Doch ich blieb, was diesen merkwürdigen Kinder Riegel über dem zukünftigen Moloch – wenn er denn wirklich je gebaut würde – betraf, skeptisch. Das war wirklich sehr ungewöhnlich.

Als Ben und ich gegen zehn Uhr nachhause gingen, war es bereits dunkel, aber wenn man genau hinschaute, war über der Langsdorfer Höhe ein aus der Dunkelheit hervorstechender hellerer Streifen zu erkennen.

Die Milchcreme, dachte ich, sagte es aber nicht laut. Ben würde mich wahrscheinlich für verrückt erklären.

Stella war noch wach und hörte Radio, HR3. Ich gab ihr einen Kuss und setzte mich neben sie, um abzuschalten. Das seltsame Wetterphänomen mochte ich nicht bei ihr erörtern. Stella mag keine abendlichen Aufregungen, und ich verstehe das absolut. Der Moderator kündigte irgendein Lied an, ich hörte nur noch „Sowieso von Mark Forster“ und dann lauschten wir aneinander gelehnt dem Song.

Ey stranges, kleines Leben

Verläuft auf Seitenwegen

Ich such‘ die Mitte,

doch mein Glück liegt meist daneben

So selten Flugrakete

Bin mehr so Zugverspätung

Doch die Ernte kommt immer, Mann!

Es ist gut gesät

Und ich hab kein‘ Stress mit warten

Geh‘ auch durch schlechte Phasen

Ich bin geduldig

Und nehme zum Schluss die besten Karten

Und fällt der Jenga-Turm

Egal, gibt eh Verlängerung

Halt neuer Plan dann, ey!

Leben ist Veränderung

Egal was kommt, es wird gut, sowieso

Immer geht ‘ne neue Tür auf, irgendwo

Auch wenn‘s grad nicht so läuft, wie gewohnt

Egal, es wird gut, sowieso

Verrückte, bunte Reise

Mal Tinnitus und mal leise

Der Bizeps wächst

Vom Steuerrad-Rumgereiße

So selten fitte Planung

Bin mehr so dritte Mahnung

Doch immer sicher im Gemetzel

Dank der schicken Tarnung

Ich schätze Wegbegleiter

Auch wenn alles seine Zeit hat

Mal elf Freunde

Dann doch One-on-One-Karatefighter

Und streikt der Sendeton

Bleibt immer die Erinnerung

Halt neuer Plan dann

Im Blick nach vorn steckt Linderung

Egal was kommt, es wird gut, sowieso

Immer geht ‘ne neue Tür auf, irgendwo

Auch wenn‘s grad nicht so läuft, wie gewohnt

Egal, es wird gut, sowieso

Und immer geht ‘ne neue Tür auf, irgendwo

Ich war todmüde und kurz vorm Einschlafen. Während ich mich mühsam auszog und mir danach in bewährter 3-Minuten-Routine die Zähne putzte, dachte ich über den Song nach. Egal was kommt, es wird gut, sowieso?

Es war nicht egal, was da kam, und es würde nicht alles gut gehen, was da geschah. Und ob immer irgendwo eine Tür aufgehen würde, hinge entscheidend davon ab, ob jemand den Türgriff drückte. Und dann wäre wichtig zu wissen, wohin die Tür den Weg eigentlich frei machen würde. Man braucht halt einen Plan – Halt neuer Plan dann. Und natürlich war da etwas dran: Im Blick nach vorn steckte tatsächlich eine gewisse Linderung.

Ich glaube im Nachhinein, dass dieser Song und meine damaligen Gedanken zu meinem späteren Engagement beigetragen haben. In der Nachbetrachtung interpretiert man jedoch gerne etwas in eine Sache hinein, um sich zu rechtfertigen oder zu bestätigen.

Eine Woche später konnte ich Bens Leserbrief im Licher Wochenanzeiger nachlesen.

»Wer braucht so ein Monster? Niemand!«

Eine Klarstellung: Es ist auf diesem Riesenareal nicht nur mit 20 Meter hohen unansehnlichen Hallen zu rechnen, hinzu kommen noch Abstellplätze für 66 LKW und 342 PKW. Man plant mit rund 800 LKW-Bewegungen pro Tag. Eine unglaubliche Luft- und Verkehrsbelastung rollt damit auf uns zu. Für die Fahrer sind WCs und Duschanlagen vorgesehen. Es wird eine „1000-Mann-Hotelanlage auf Rädern“ mit entsprechenden Servicebetrieben und unabsehbaren Belastungen.

Nun zu den Kosten: Bisher gaben unsere Stadtväter 2,5 Millionen Euro aus, um die 20-ha-Ackerfläche für den Investor aufzukaufen, was einen qm-Preis von 12,50 ergibt. Das ist weit überzogen, normaler Weise liegt der Preis in vergleichbaren Gegenden bei 6,25 Euro. Ein Geschenk für die Vorbesitzer und für den Investor in Höhe von 1,25 Millionen! Man könnte auch von Veruntreuung sprechen. Schon jetzt sind die Bürger unserer Heimatstadt die Verlierer.

Öffentlich wird uns Bürgern zwar erklärt, die Stadt erwirtschafte durch den Verkauf der Langsdorfer Höhe einen Gewinn von 1,3 Millionen. Aber das ist heiße Luft. Wenn man den Haushaltsplan genau durchforstet, kommt man jetzt schon auf rund 1 Million Miese – ohne Folgekosten für das Monstrum!

Was den angeblichen Zugewinn aus Steuereinnahmen betrifft, so werden wir für dumm verkauft. Kein einziger nennenswerter Cent wird in die Stadtkasse fließen. Es wäre ein Wunder, wenn der Hallenmieter, über den man uns wohlweislich nichts wissen lässt – könnte ja die Argumente gegen das Monstrum untermauern! – in Lich seinen Hauptsitz hätte … und nicht in irgendeinem Steuerparadies. Denn nur dort, wo der Geschäftssitz ist, wird Gewerbesteuer fällig. Lich ginge dann leer aus.

Herr Gerald Alt wirft fleißig mit Nebelkerzen um sich, was einer Sachdiskussion nicht dienlich ist. Natürlich wird unser gesamtes Stadtgebiet durch den enormen Mehrverkehr belastet. Wer dies bezweifelt, sollte sich vergleichbare Zentren anschauen. Aber da bremsen entweder die Bequemlichkeit oder gar die im weitesten Sinne gekaufte Willfährigkeit gegenüber den dicken Kapitalinteressen.

Es gibt mehr Arbeitsplätze? Vielleicht ein- oder zweihundert prekäre Arbeitsplätze, die bei entsprechender Unterbezahlung vielleicht auch noch vom Landkreis mit Hartz-4-Leistungen aufgefüllt werden müssen?

Durch die großflächige Flächenversiegelung wird sich auch das Kleinklima in diesem Bereich stark verändern. Die aufgeheizten Flächen werden verhindern, dass es in unseren zunehmend heißeren Sommern nachts richtig abkühlt. Auch das Regenwasser, was normal versickert und dem Grundwasser zugutekommt, muss teuer aufgefangen und abgeleitet werden – im Übrigen auf Kosten von uns Bürgern.

Wer sich Gedanken zu den ökologischen, ökonomischen, gesundheitlichen und städtebaulichen Auswirkungen solcher Mammutprojekte macht, ist alles andere als ein »Ewiggestriger«. Im Gegenteil: Wer heute noch auf Wachstum um jeden Preis setzt und das Amazon-System unterstützt, aber die heimische Innenstadt dem Kahlschlag kampflos preisgibt, ist nicht nur von vorgestern, sondern schlichtweg verantwortungslos.

Was wir brauchen ist Nachhaltigkeit und Dezentralität. Amazon nachäffende rücksichtslose Großinvestoren sollten ihre Monsterprojekte genau in jenen Villenvierteln errichten, in denen sie wohnen.

Ben Carl, Lich

*

Stella schloss das Geschäft ab. Mittagspause. Mit Vanessa, ihrer etwas jüngeren Kollegin, ging sie hinüber zum kleinen Griechen. Er hatte einen Biergarten, in dem man auch im Halbschatten oder unter einem Schirm sitzen konnte. Im »Moustaki« bestellten sie sich wie immer den überbackenen Hirtenkäse, und wie immer tauschten sie Erfahrungen aus. War ihre Kundschaft zufrieden? Kam die Werbeaktion gut an? War jemand wieder besonders schwierig oder besonders nett oder besonders witzig gewesen?

„Heute war Bademeister Schmidt gesprächig wie nie“, sagte Stella. Ein kleine erfrischende Böe wehte ihre Serviette vom Tisch. Sie hatten unter einem der großen Sonnenschirme Platz genommen.

Vanessa hob die Serviette auf und legte sie auf den Stuhl neben sich. „Unser lieber Herr Schmidt redet doch immer ganz gerne und unterhaltsam.“ Vanessa rollte ihre blauen Augen.

„… und viel“, ergänzte Stella. „Ja, ja. Aber heute regte er sich über unseren anderen Kunden auf, den Herrn Alt.“

„Kennen die sich?“ Vanessa strich sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine weitere Böe strich durch den Biergarten und blies erneut die Serviette vom Stuhl.

„So wie es klang, kennen die sich aus irgendeinem Verein.“

„Und was sagt er über ihn?“

„Schmidt findet Alts Leserbrief völlig daneben. Dann hat er folgenden Witz über ihn erzählt: Herr Alt wird in einem Flugzeug neben ein kleines Mädchen gesetzt. Alt wendet sich ihr zu und sagt: »Wollen wir uns ein wenig unterhalten? Ich habe gehört, dass Flüge schneller vorüber gehen, wenn man sich mit anderen Passagieren unterhält.«

Das kleine Mädchen, das eben sein Buch geöffnet hatte, schloss es langsam und sagte zu dem neben ihr sitzenden Opa: »Über was möchten Sie sich denn unterhalten?«

»Oh, ich weiß nicht«, antwortete Alt. »Wie wär’s mit der These, warum es keine echten ökologischen Probleme und keinen Klimawandel gibt?«

»Okay«, sagte das Mädchen, »dies wäre ein interessantes Thema! Ich bin da zwar anderer Meinung, aber erlauben Sie mir zunächst noch eine Frage: Ein Pferd, eine Kuh und ein Reh essen alle dasselbe Zeug: Gras. Doch das Reh scheidet kleine Kügelchen aus, die Kuh einen flachen Fladen und das Pferd produziert Klumpen getrockneten Grases. Warum, denken Sie, dass dies so ist?«

»Nun, ich habe keine Idee.«

Darauf antwortet das kleine Mädchen: »Fühlen Sie sich wirklich kompetent genug über Ökologie und Klimawandel zu reden, wenn Sie beim Thema Scheiße schon überfordert sind?«

Danach lachte sich unser Bademeister über seinen Witz halbtot, aber ich musste natürlich auch lachen, denn irgendwo trifft es ja auch zu. Die Alten machen sich über die Zukunft der Jungen zu wenige Gedanken.“

„Nicht alle Alten!“, warf Vanessa ein. „Viele ältere Bürger ziehen mit uns Jungen an einem Strick!“

„Wenn ihnen da mal nicht ein Strick daraus gedreht wird!“

Der Wind wurde kräftiger und Stella sprach über das seltsame Wetterphänomen, das wir beobachtet hatten. Vanessa konnte eine irgendwie geartete Veränderung der Wettersituation bestätigen. Auch sie hatte bemerkt, dass mit dem Klimawandel bisher unbekannte Wettererscheinungen zunahmen. Aber die Sache über der Langsdorfer Höhe war ihr nicht aufgefallen.

Stella und Vanessa waren in den letzten sieben Jahren ihrer gemeinsamen Betriebszugehörigkeit gute Freundinnen geworden. Vanessa las keine Zeitungen mehr, erzählte mir Stella. Das sei alles ein Einheitsbrei, sie informiere sich lieber unabhängig im Internet. Stella hatte gemeint, dass es da aber gewiss ebenso viel Müll wie in den alten Medien gebe. Jedenfalls bat Stellas Arbeitskollegin darum, ihr über die Meinung der Bürgerschaft, wie sie sich in den immer zahlreicheren Leserbriefen ausdrückte, gelegentlich zu berichten.