Kitabı oku: «Freie Republik Lich - 2023», sayfa 4
Seitdem schnitt meine Liebste die Leserbriefe aus und sammelte sie für Vanessa. Hin und wieder überflog ich die Ausschnitte und merkte, dass der weit überwiegende Teil der Zuschriften sich gegen das geplante Zentrum richtete. Eine Frau Birgit Winter schrieb: Egal ob 12 oder 20 Meter Höhe – das Logistikzentrum ist kaum mit Umwelt- und Klimaschutz vereinbar. Dass der innerstädtische Verkehr nicht betroffen sein wird, ist unrealistisch. Wir sollten alle gegen das Bauvorhaben protestieren. Die überall ausliegenden Unterschriftenlisten sind schon mal ein guter Anfang. Man muss aber auch auf die Straße gehen, sonst zieht der Bürgermeister das einfach durch und später heißt es, die Bürger hätten sich ja nicht gewehrt. Nach dem Motto: Stillschweigendes Einverständnis.
„Krieg der Leserbriefe!“, meinte Stella, aber ich fand, dass es eine völlig normale Sache sei und nichts mit Krieg zu tun habe.
„Wir sollten nicht immer die klotzigsten Begriffe wählen“, sagte ich. „Man verniedlicht sonst das wirklich Schreckliche, wenn alles gleich zum »Krieg« erklärt wird.“
Ein anderer Leser schrieb kurz und bündig:
Herr Carl weist in seinem Leserbrief vom 19. Juni darauf hin, dass nach Fertigstellung des Logistikzentrums mit bis zu 800 LKW-Bewegungen pro Tag zu rechnen sei. Dazu scheint mir als Kommentar das Poem des Dichters Robert Gernhardt (1937 – 2006) passend, das als aktuelles »Gedicht des Monats« in der Stadtbibliothek ausliegt:
Störung
Denk, wie diese Landschaft einstmals
Vielfach von Geräuschen schallte,
Wie das Muhen, Grunzen, Wiehern
Von den Hängen widerhallte –
Nein, ich will vom Ruf des Hahns nicht,
Nicht vom Schrei des Esels schwärmen.
Doch das waren noch Geräusche.
Was da heute tönt, ist Lärmen.
In diesem Sinne: Lassen wir die große Eselei nicht zu!
Wolfgang Woge, Lich
Anfang Juli war es besonders heiß. Am späten Nachmittag trafen sich Ben und ein paar Mitstreiter der Bürgerinitiative im Waldschwimmbad. „Picknick der Aktivisten“ nannte es Ben. Ein erfrischendes Bad, aber auch eine gute Portion Polit-Talk waren angesagt. Es galt, eine unüberhörbare Protest-Strategie zu entwickeln. Sie hatten das Gefühl, dass hinter dem Rücken der Bürger im Schnellverfahren eine gravierende Entscheidung zum Nachteil des Städtchens durchgeboxt wurde.
„Kein schönes Gefühl, wenn man sich so hilflos fühlt“, sagte Edith Neuer-Süß. Ich durfte sie neuerdings nur Edith nennen, was mir sehr gelegen kam. Wenn ich eines nicht ausstehen mag, dann sind es diese Doppelnamen. Obwohl ich mich natürlich als fortschrittlicher Mann verstehe. Und viel Verständnis für die – auch in der Namensgebung betonte – Emanzipation von Frauen aufbringe. Jedenfalls hatte mich Ben angerufen und gefragt, ob ich Zeit habe, um bei ihnen kurzfristig „vorbei zu schwimmen“.
Tatsächlich war ich am Schwimmen, denn inzwischen hatte ich wieder einen neuen Zeitreise-Roman in der Mangel, »Crazy Zeiten – 1975 etc.«. Ich stand unter Zeitdruck, denn der Drucktermin lag bereits fest. Immer wenn ich am Schreiben bin, stören mich externe Termine. Es fühlt sich dann so an, als müsse ich mein geliebtes Kind verlassen, um an irgendeinem belanglosen Kartenspiel von gelangweilten Erwachsenen mitzumischen.
„Wir müssen dafür sorgen, dass die Karten neu gemischt werden“, hatte Ben meinen Einwand aufgegriffen. Er hatte eine wortspielerische Art, um mich zu überzeugen. Also fuhr ich mit meinem Rad zu ihrer spontanen Versammlung. Wenn ehrenhafte Aktivisten einen rufen, sollte man zumindest bei ihnen vorbeischauen, um höflich zu fragen, wobei man denn behilflich sein könne. Und das genau war der Tag, ab dem ich Ediths Doppelnamen nicht mehr aussprechen musste. Allein deshalb hatte sich für mich der Tag gelohnt.
„Warum fühlst du dich eigentlich hilflos?“, griff ich jetzt ihre Bemerkung auf und legte meine Sonnenbrille zur Seite. Mit verspiegeltem Glas ein Gespräch zu führen, finde ich unhöflich.
„Weil wir keine Informationen bekommen. Da ist doch etwas oberfaul. Da wird so ein riesiges Ding angeschoben und man erfährt nichts! Nichts Exaktes. Gegen Baurecht wird verstoßen, gegen Naturschutz, gegen eine ganze Menge – aber die Behörden schweigen einfach. Furchtbar!“
„Und diese schweigenden Heimlichtuer und Akteure bieten tatsächlich ein paar wenige, aber lautstarke Unterstützer auf – wie diesen ominösen Herrn Alt“, erregte sich Bernd, Ediths Ehegatte, der bis vor kurzem noch als Kommunalbeamter in der Stadtverwaltung für das Funktionieren der Kindergärten, für die Pflege und Aufsicht über den Friedwald und den städtischen Friedhof zuständig gewesen war. Übrigens kehrte er später, in unserer Republik, auf Bitte des Staatschefs auf seinen alten Posten zurück. Natürlich hegte ich keinen einzigen Gedanken hierzu, denn die Zukunft lag in ferner Zukunft.
Ich sah Bernd Neuer fragend an.
„Dieser Mensch hat wieder mal den Vogel mit seinem neuesten Leserbrief abgeschossen!“ Bernd zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Ich nickte, denn es war tatsächlich so: dieser dubiose Herr Alt steuerte kein einziges Argument bei, das unsere Sorgen hätte entkräften können.
Die Runde diskutierte dann noch eine Weile darüber, ob man Herrn Alt ernst nehmen solle, weil er inzwischen in einem weiteren Leserbrief ihre Argumente verdreht und aus dem Zusammenhang gerissen habe und mit Unterstellungen arbeite. So habe er prognostiziert, dass der Schwerkraftverkehr gar kein Problem sei. Das sei „hundertprozentig erwiesen“. Und die LKW würden auch nicht durch die Innenstadt geführt.
„Was auch niemand von uns je behauptet hat“, warf Lothar Balser ein.
„Alles durcheinandergewürfelter Unsinn“, sagte Ben. „Der Mann heißt nicht nur Alt, er ist es auch. Ich schätze er ist über 80, aber von Altersweisheit keine Spur.“
„Der ist ein ehemaliger Verkäufer, seit zwanzig Jahren frühverrentet, und kennt sich offensichtlich aber zumindest mit Rhetorik und propagandistischen Floskeln aus“, sagte Edith. „Jedenfalls ist er ganz schön persönlich geworden und hat über mich ziemlich dreiste Behauptungen aufgestellt. Sogar Schmierereien an einem Gebäude würden auf mein Konto gehen. Da überlege ich mir glatt, ob ich nicht wegen Verleumdung aktiv werden sollte.“
„Lass den alten Mann“, meinte Ludwig Henrich, der selbst vor zwei Jahren die Achtzig überschritten hatte. „Es bringt nichts, sich gegenseitig persönlich anzugehen. Das wirft nur ein schlechtes Licht auf unser berechtigtes Anliegen. Wenn du ihn anzeigst, wird er Trara machen und überall in die Welt setzen, dass du nicht argumentieren, sondern nur mit dem Staatsanwalt drohen kannst.“
„Du hast Recht, Ludwig“, sagte Bernd Neuer, aber da hörte ich schon nicht mehr zu, denn ich hatte meine Sonnenbrille wieder aufgesetzt und hoch in den strahlend blauen Himmel geschaut. In der Ferne, am Horizont, tauchte gerade ein Kinder Riegel auf, der sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit aufplusterte und sich uns näherte. Und dann begann auch schon jener heftige Wind, der einem Gewittersturm vorausgeht.
Am Rande bekam ich noch mit, dass allgemein die Meinung bestand, man müsse eine Demo organisieren, um dem Protest Nachdruck zu verleihen. Und man wolle die Bürger über ihre Mitwirkungs- und Einspruchsrechte aufklären – wenn sich schon die Stadtpolitiker dieser Informationspflicht entzogen.
Ich schaute immer noch gebannt zum Horizont. Die anderen waren so sehr in ihre Diskussion vertieft, dass sie den enorm schnellen Wetterwechsel erst bemerkten, als der Wind stärker und ihre ausgelegten Handtücher auf der Wiese nass wurden. Der Regen kam völlig überraschend. Überraschend deshalb, weil keine einzige Wolke über uns zu sehen war. Und wieder – wie schon früher – verharrte das Wolkenband in Höhe des Langsdorfer Baugebietes. Über uns war der Himmel noch immer unbewölkt und zeigte sich in einem jungfräulichen Rosa-blau. Und dennoch regnete es. Der einzige, der diesen Widerspruch zu bemerken schien, war ich.
Die anderen rollten schnell ihre Handtücher zusammen, packten ihre Badetaschen und flüchteten unter die überdachte Pergola des Schwimmbad-Imbisses. Ich legte mich auf das feuchte Handtuch und ließ mich nassregnen. Es war erfrischend.
Ich muss kurz eingeschlafen sein, denn mich überfiel ein Kurztraum. In diesem Traum sah ich Gott über die Langsdorfer Höhe gehen, an der die neubenannte Arturo-Groß-Allee vorbeiführte. Ich sah einen Gott, der so riesig war, dass ER von der Taille aufwärts in einem düster-blauen Himmel verschwand. Im Traum hörte ich das Splittern und Krachen von Ampeln, Lastwagen und Bäumen, die unter SEINEN Schritten wie Grashalme umknickten. ER umkreiste das Baugebiet und kam mit Riesenschritten auf das Rathaus zu. ER kam auf uns zu, und alle Läden, Einkaufsmärkte, Häuser und Hochhäuser gingen blitzartig in purpur-weißen Flammen auf, und bald verhüllte der Rauch alles. Der Rauch verhüllte alles – wie Nebel.
*
Das erste Halbjahr war vergangen und Ben hatte mir einiges berichtet, was ich bis dahin noch nicht erfahren hatte. Anfang Februar hatte er nach einer – wie er fand – absichtlichen Hinhalte-Taktik endlich einen Besprechungstermin bei Bürgermeister Groß erhalten. Bereits Mitte Dezember des Vorjahres hatte Ben seine Bedenken in einem ausführlichen Schreiben an Arturo Groß geäußert. Es ging um die nicht korrekte Verfahrensweise und um Baurecht, um Verkehrsrecht und vieles andere.
„Die andere Seite wollte Zeit schinden und uns, die Bürger, um deren Interessen es doch angeblich geht, dadurch unter Druck setzen“, sagte Ben, als wir gemeinsam bei »Peter Pan« zu Mittag aßen. Er hatte Cordon Bleu gewählt und ich das Wiener Schnitzel, ganz klassisch.
„Unter Druck setzen?“, fragte ich.
„Na ja, indem man Fakten schafft. Einspruchsfristen sollten verfallen.“
„Habt ihr damals nicht versucht, wenigstens die Presse über die Risiken dieser Industrieansiedlung zu informieren, damit zumindest die Vierte Gewalt die Interessen der Bürger unvoreingenommen hätte formulieren und vortragen können?“
Ben lachte laut auf und dann stieß er so etwas wie einen lauten Seufzer aus: „Ach, die Vierte Gewalt! Dass ich nicht lache! Du meinst wohl die Siebenschläfer. Oder besser gesagt die Schreibschläfer. Vergiss es!“
„Ben, du weißt, ich war selbst Journalist, und es gibt weiß Gott in jedem Beruf gute und schlechte Mitarbeiter.“
„Es geht nicht hauptsächlich um qualifiziert oder unqualifiziert. Bei Wirtschaftsprojekten geht es um Haltung oder Nichthaltung, um unabhängige Meinung oder um vorauseilenden Gehorsam, um kritische Durchleuchtung der scheinbar unanfechtbaren Sachzwänge oder um bedingungslose Wirtschaftsgläubigkeit. Und immer geht es bei den kleinen Dorfjournalisten um ihre persönliche Verbindung zu den kleinen Dorfkönigen, zu Honoratioren, zu Bürgermeistern, Landräten, Ausschussvorsitzenden. Zu deinen Zeiten mag das ja vielleicht noch solide gelaufen sein …“
„Nein, das war schon immer das gleiche Dilemma. Aber der Charakter der Menschen war nicht so leicht zu verbiegen. Man war nicht gleich in seiner Existenz bedroht, wenn man dem Chefredakteur widersprach. Heute wirst du ruckzuck durch einen Praktikanten ersetzt. Es gab ordentliche Arbeitsverträge und Gewerkschaften, an denen sich die Verlagsleitung nicht vorbeidrücken konnte.“
„Früher war alles besser – läuft es darauf hinaus?“
„Nicht unbedingt“, antwortete ich, „manches war gewiss fortschrittlicher als heutzutage. Heute zum Beispiel sind die Arbeitsverhältnisse in der Medienbranche krass geteilt – so wie die gesamte Gesellschaft. Oben verdienen die Wenigen viel zu viel und unten strampelt sich der kleine Reporter ab und man nutzt unter dem enormen Zeitdruck bei den wenigen Festangestellten vorgefertigte Einheitsbrei-Texte aus großen Presseagenturen, die alle das Gleiche schreiben, weil alle Agenturen den Gleichen gehören.“
„Okay, nun traf das aber nicht unbedingt auf die Reporterin vom Mittelhessischen Anzeiger zu, mit der Edith und ich eine Besprechung hatten. Frau Jochbein hörte uns zwar mit einer gewissen Ungeduld zu, aber immerhin hörte sie zu.“
„Aber hattet ihr nicht Ärger mit ihr?“
„Das nicht direkt“, sagte Ben, „aber wir ärgerten uns im Nachhinein über sie, weil sie uns ebenso wie der Bürgermeister einfach wochenlang hängen ließ.“
„Hattet ihr eure Rechercheergebnisse damals an sie übergeben?“
„Natürlich. Wir haben ihr auch alles in einem einstündigen Gespräch erläutert. Aber sie blieb einfach untätig. Dann vertröstete sie mich einige Male, als ich anrief, um schließlich irgendwann, Wochen später, lapidar telefonisch mitzuteilen, dass unsere Recherchen nicht zu berücksichtigen seien. Sie dürfe sich nur auf die Aussagen des Bürgermeisters verlassen, denn er sei schließlich eine Amtsperson, dessen Informationen natürlich mehr ins Gewicht fallen würden als unsere Aussagen.“
„Was ein Pech aber auch, dass ihr keine Amtspersonen ward. Vielleicht hättet ihr euch wie jener hochstapelnde Ex-Postbeamte, mit Namen Gerd Postel, als Ministerialbeamter aus Wiesbaden ausgeben sollen, dann hätte sie euch alles von den Lippen abgelesen.“
„Schön, dass du noch deinen Humor bewahrt hast“, sagte Ben.
Aber all das war jetzt bereits ein halbes Jahr her.
Was nun ab Mitte des Jahres geschah, geschah gewissermaßen im Schnelldurchlauf. Daniela Demuth erhielt von Bürgermeister Groß ein Versetzungsschreiben und überaus süße Worte dazu. Sie durfte ab nun in der gleichen Besoldungsgruppe im Bürgerbüro für gute Stimmung sorgen. Er benötige sie dort dringend, da sie die einzige geeignete Person sei, die glaubwürdig den Bürgern versichern könne, dass alles, was das Logistikzentrum betraf, kein Sündenfall, sondern ein himmlischer Segen für Lich sei.
„Sie übernehmen dort im Prinzip meine Aufgabe. Sie sind jetzt die wichtigste Person im Rathaus.“
„Neben Ihnen, Herr Bürgermeister“, sagte sie beflissen, und er nickte gönnerisch.
„Sie übernehmen auch die Position der Pressesprecherin. Ihnen glaubt man. Sie haben den richtigen Biss und zugleich sind Sie diplomatisch“, sagte er und warf ihr einen wichtigtuerischen Blick zu.
Damit war die Kuh vom Eis.
Daniela fühlte sich geehrt. Ihr Mann sah das anders, er war ein nüchterner Typ, aber nun war kein Grund mehr zur Eifersucht gegeben und so schwieg er und dachte sich seinen Teil. Er hatte den Trick des Bürgermeisters wohl erkannt. Aber was nutzte es?
Eine neue, unbedeutende Person rückte auf Danielas bisherige Stelle nach.
Groß hatte seine von Dr. Wüst empfohlene To-do-Liste längst abgearbeitet. Er hatte alle auf seine Seite gebracht. Als erstes und am mühelosesten den Fraktionsvorsitzenden seiner Partei, Jonas Cäsar; ihm dachte er eine Doppelrolle zu, und als Belohnung sollte Cäsar ihn in seinem Amt beerben. Dann hatte er den Vorsitzenden der Freien Wähler, Joseph Brendler, und die Erste Stadträtin, Ingrid Steegher, von der CDU mit drei einfachen Argumenten überzeugen können: Mehr Steuereinnahmen, größere Kaufkraft und damit mehr Konsum – alles zum Wohl der kleinen und mittleren Gewerbebetriebe.
Er hatte unter vier Augen mit der Landrätin, Annika Tänzer, gesprochen und ihr von der großen Chance für den Landkreis vorgeschwärmt. Sie vertraute ihm, er vertraute ihr, und so sicherte sie ihm zu, das stets aufsässige Naturschutzressort vorübergehend umzustrukturieren. Immerhin war dieses naturgemäß aufsässige Ressort mit einem eigenen Veto-Recht ausgestattet. Es konnte beim Baubewilligungsverfahren alles zum Stoppen zwingen. Also unterstellte die Landrätin die Naturschutzbehörde ihrem verehrten Parteifreund und Arbeitskollegen aus gemeinsamen Zeiten, Rüdiger Halbersach. Das war zwar außergewöhnlich und äußerst brisant, aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
„Äußerst brisant?“, hatte ich Ben gefragt.
„Brisant deshalb“, hatte er geantwortet, „weil Halbersach als Chef der Bauaufsicht des Landkreises zuständig für die Baubewilligung ist. Der Baubewilligung aber kann die Naturschutzbehörde total dazwischen grätschen. Wenn man so ein Szenario verhindern will, dann eben legt man beide Behörden in eine einzige bewilligende Hand. Und dies war die gesegnete Hand des Langsdorfer Parteifreundes von Groß.“
„Geschickt“, sagte ich.
„Geschickt getrickst“, hatte Ben geantwortet und hinzugefügt: „Wahrscheinlich unzulässig, aber formaljuristisch interpretationsfähig. Kaugummidemokratie.“
Dann hatten wir darüber gesprochen, wie die Demokratie und ihre moralischen Werte in einem Meer der Gleichgültigkeit und stillen Tränen oder auch in einem tobenden Ozean der Verzweiflung untergehen. Und wie Korruption und Ignoranz um sich griffen und das gesellschaftliche Klima vergifteten.
Ich erwähnte es schon: Das Geschehen nahm rasant Fahrt auf. Der Verein »Licherleben« schloss sich dem Protest der Bürgerinitiative an, ebenso der Naturschutzbund NABU. Dessen Gutachten stellte artenschutzrelevante Fauna und Flora fest. Verschiedene Politaktivisten hatten sich unterdessen die Baupläne und die von der Wüst AG bestellten Gutachten besorgt, gelesen und für schlecht, für sehr schlecht, befunden. Ihre Analysen ergaben jede Menge Schwachpunkte in dem angelaufenen Verfahren. Doch ihre Widersprüche und Eingaben verhallten in den Hallen lokalpolitischer Macht. Es machte die informierten Bürger nicht nur hilfloser, auch machte es sie wütender.
Es regnete weiter Leserbriefe, in denen gefragt wurde, warum dort auf dem geplanten Industrieparkgelände nicht dringend benötigte Wohnungen gebaut würden. Eine Dame schrieb: „Wenn alle Argumente der Industriebefürworter nicht mehr glaubwürdig sind, fallen plötzlich hunderte Arbeitsplätze und Sterntaler vom Himmel. Immer wieder geschehen bundesweit die gleichen Wunder. Sehr erstaunlich – insbesondere, wenn später nichts von alledem eintrifft. Mal eine andere Frage: Für wie blöd oder vergesslich hält man uns eigentlich?“
Eine Susi Jakobi bemängelte, dass die vor Jahren mühsam – mit voller Bürgerunterstützung – erarbeitete »Lokale Agenda 21« ad absurdum geführt würde und Lich sich nach dem Bau des Monsters als Tagungs- und Seminarort lächerlich mache. Die Agenda 21 verpflichte zur Nachhaltigkeit – damit sei es ja dann wohl vorbei:
„Ratter, ratter, LKW, womöglich Tag und Nacht von Montag bis Samstag. Das Leitbild der Stadt formuliert das Ziel, dass sich Bürger mit ihrer Stadt identifizieren und die politischen Vertreter/innen die Chance eines aktiven Bürgerengagements nutzen. Wir nannten das immer »gelebte Demokratie«. Gerade aber sieht es so aus, als wolle man alles andere, nur keine engagierten Bürger, die kritische Nachfragen stellen oder gar vorwärtsgewandte Alternativvorschläge unterbreiten! Kein Wunder, wenn sich immer mehr Bürger von der etablierten Politik abwenden. »Vertreten die Volksparteien wirklich noch das Volk?«, fragte mich kürzlich meine vierzehnjährige Enkelin. Sie hat die Auseinandersetzung einiger weniger Stadtväter (und -mütter) gegen die eigene Stadtbevölkerung mitbekommen. Weiß jemand, was ich ihr antworten soll?“
Conny Kornmann schrieb: „Der Klimawandel ist in vollem Gange, Extrem-Wetterereignisse nehmen zu, unsere Wälder vertrocknen und selbst in der Arktis brennt es seit April. Und wir versiegeln fleißig weiter unsere begrenzten Flächen und lassen Logistikmonstren zu, deren Auswirkungen nicht nur die kaufmännische Verödung unserer Innenstädte beschleunigt, sondern auch die Verödung und Versteppung unserer Kultur, unserer Umwelt und unserer Lebensqualität und Lebensfreude.“
Gerald Alt ließ sich nicht lumpen und schrieb darauf: „Die Menschen sind selbst schuld daran, wenn sie nur noch per Mausklick einkaufen. Keiner zwingt sie dazu.“
Frau Kornmann antwortete: „Aha, der kleine Verbraucher ist für die Preisgestaltung, für unnütze Produkte und Pannen zuständig. Nur den Profit fahren andere ein. Ihr Argument, Herr Alt, ist so alt wie abgestandener Wein. Wenn die Schlachttierhaltung unter aller Sau ist, soll man dann individuell in den totalen Hungerstreik treten? Oder sollte nicht vielmehr der Staat, als unser organisiertes Allgemeininteresse, solche Schweinereien unterbinden? Wenn das Getreide verpestet ist, soll man dann auf Teigwaren verzichten? Oder sollte man den Ausgangszustand gesetzlich regeln? Pestizidverbot ging doch auch, oder? Wenn das Benzin aus dem von einer Weltmacht gestohlenen syrischen Rohöl stammt, soll ich dann mein Auto mit Limonade tanken?
Und noch einmal ein kräftiges Aha: Natürlich hat »keiner die Absicht ein Logistikzentrum mit einer Mauer und einem hässlichen, ritterlich-tiefen, Ansturm-sicheren Wassergraben drumherum zu bauen«, es sei denn die Käufer stimmen per Mausklick dafür. Ist es wirklich so einfach? Ist der Käufer von Produkten der wahre Schuldige? Oder ist solche Art Logik nur eines: ziemlich pervers?“
Daraufhin meldete sich ein Unterstützer von Gerald Alt: „Die Lokalpolitik braucht keine Fake News von wegen Ausverkauf der Natur, Verschandelung des historischen Stadtbildes und drohender Verkehrslawine. Das ist alles an den Haaren herbeigezogen. Natürlich kann jeder seine Meinung frei äußern, wir leben ja in einem freien Land und sind freie Bürger. Natürlich kann sich jeder etwas Schöneres vorstellen als ein Logistikzentrum. Aber unsere Stadt darf nicht Schulden machen, und wer dies vorschlägt, hat keine Ahnung von Lokalpolitik.
Denn von nichts kommt nichts. Kita-Gebühren und steigende Löhne und Preise belasten den städtischen Haushalt. Sollen etwa die Grundsteuer und die Kita-Gebühren erhöht, freiwillige Leistungen an Vereine eingeschränkt und notwendige Infrastrukturmaßnahmen aufgeschoben werden? Noch einmal: Von nichts kommt nichts!
Peter Hartbusch-Niebergall, Lich“
„Was soll man darauf eigentlich noch antworten?“, fragte mich Edith, als ich sie im RUWE-Markt traf und wir im dort angesiedelten Café Kinkel einen Cappuccino tranken. „So viel Blödsinn auf einmal in so wenigen Zeilen, das ist schon ein Kunststück.“
Ich lud Edith natürlich ein, aber sie lehnte ab und sagte lachend: „Ich bin doch nicht bestechlich!“
„Wozu könnte ich dich denn bestechen?“
Edith neigte ihren Kopf etwas zur Seite und sah mich schelmisch an. „Wozu weiß ich nicht genau, aber womit, da hätte ich eine Idee.“ Dann sagte sie: „Vielleicht mit einem Stück Apfelstrudel, der ist im Angebot.“
Wir mussten beide lachen, und ich bestellte uns jedem ein Stück davon. Aber insgeheim dachte ich, dass ich zur Bestechung in jeglicher Hinsicht bereit wäre, wenn sie mich zwingen würde, ihren Doppelnamen jedes Mal aufs Neue in den Mund zu nehmen.
„Du schmunzelst – wegen meiner Naschsucht?“
„Nein“, log ich sie an, denn meine Schwierigkeit mit Doppelnamen würde ich sie ungern wissen lassen: „Ich denke immer noch an den Leserbrief dieses Herrn Hartbusch-Niebergall. Er verzapft ein unglaublich allgemeines Blabla mit der üblichen Drohkulisse, ganz nach dem gereimten Motto: Wer nicht macht, was ich ihm sag, den trifft dann die Gebührenplag!“
Der RUWE-Chef kam vorbei und grüßte verhalten zu uns herüber. Als er außer Sicht- und Hörweite war, sagte Edith: „Herr Müller hat ein soziales Herz, er ist ein guter Mann, aber was unsere Herzenssache betrifft, so hat er eine etwas verquere Meinung. Das ist schade, weil er für die Freien Wähler im Stadtparlament sitzt und jede Stimme zählt.“
„Ich kenne ihn nicht“, sagte ich. „Aber sein Laden ist absolut in Schuss und alle Mitarbeiter sind überaus freundlich. Sein Sortiment ist breit gefächert und dennoch alles sehr übersichtlich sortiert. Der Mann kann organisieren.“ Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht wissen, wie wichtig gerade deshalb zwei Jahre später der RUWE-Chef für unsere neue Republik werden würde.
„Wenn er selbst auch nur so gut sortiert wäre.“ Edith nahm einen Schluck Cappuccino und flüsterte: „Früher wäre er hier an unseren Tisch gekommen und hätte mich herzlich begrüßt – aber jetzt …“ Sie probierte vom Apfelstrudel. „Lecker!“
„Aber jetzt? – was ist jetzt mit Herrn Müller?“
„Er glaubt wahrscheinlich, wir würden ihm das zukünftige Geschäft verderben, ich weiß nicht. Vielleicht verspricht er sich irgendeinen Umsatzrekord von diesem Monster und von diesen angeblich hunderten von neuen Mitbewohnern Lichs.“
„Meinst du wirklich?“
„Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass er sich nicht gegen das Monster positioniert. Alles andere ist Spekulation.“
„Frage ihn doch einfach mal.“
„Liebend gerne, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Aber wie gesagt, neuerdings weicht er mir aus, seit er weiß, dass ich zur BfL gehöre.“
In den folgenden Tagen kam ich nicht mehr zum Einkaufen, aber Stella war am Wochenende dort gewesen, und sie hatte am Rande eine Schimpfkanonade einer Kundin anhören müssen.
„Worum ging es denn?“, fragte ich neugierig.
„Natürlich wieder um das Logistikzentrum. Sie schimpfte bei der Kassiererin über den RUWE-Chef, weil er angeblich zu hundert Prozent für den Bebauungsplan sei. Wenn das so bleibe, kaufe sie nicht mehr dort ein. Sie hoffe, dass viele Kunden RUWE boykottieren würden. Geld sei die einzige Sprache, die heutzutage noch verstanden werde und so weiter immer heiter.“
„Puh, das geht aber gar nicht“, sagte ich. „Die Frau hätte das direkte Gespräch mit Herrn Müller suchen müssen. Das ist extrem unfair. Und in welch unangenehme Situation bringt sie die Kassiererin, die naturgemäß loyal zu ihrem Arbeitgeber steht. Die arme Frau an der Kasse hat doch nicht die politischen Attitüden ihres Chefs zu verantworten. Sie hat sie auch nicht gegenüber der Kundin zu bewerten. Also, das war unanständig!“
Die Leserbriefflut türmte sich auf zu einem Tsunami der Entrüsteten. Anfang August erschienen in den Lokalzeitungen gleichlautende Artikel unter einer Überschrift, die aus dem Kernsatz meines Freundes Ben bestand: »Die Wut der Bürger ist groß!«
Man hatte 2.130 Unterschriften gegen das Bauprojekt gesammelt. Sie wurden von Ben Carl und Edith Neuer-Süß rechtzeitig zum Beschwerdeeingabe-Termin an die Stadträtin und den Fachbereichsleiter Bauservice übergeben. Der Bürgermeister und die Erste Stadträtin waren verhindert. Wie das nun mal so ist, wenn man seinem Nichtrespekt Ausdruck verleihen möchte.
Als Ben mir davon berichtete, konnte ich aus meiner Verwaltungserfahrung heraus mit einer Menge solcher despektierlichen Beispiele aufwarten.
„Herr Groß war in Urlaub, und Frau Steegher war krank“, sagte Ben.
„Aber du hattest sie vom bevorstehenden Übergabetermin informiert?“
„Na sicher doch, eine Woche zuvor.“
„Zum Ablauf einer solch wichtigen Frist, sollte man sich als Rathauschef nicht unbedingt in den Urlaub flüchten. Es ist erbärmlich“, sagte ich. Aber ich kannte solche Beispiele zur Genüge. Ich sage nur: mangelnder Respekt vor den Bürgern, mangelhaftes Verständnis von Demokratie.
Am Abend machte ich einen Spaziergang. Vor mir lag das ins Auge gefasste östlich gelegene Bebauungsgebiet. Bisher war der Himmel blau gewesen und die Hochsommersonne strahlte im Westen immer noch kräftig. Sie heizte selbst um sieben Uhr noch die Luft auf. Plötzlich aber kroch dieser merkwürdig dunkle Schokoladenstreifen am östlichen Firmament empor. Es dauerte keine zehn Minuten und er war mir bis auf zwei Kilometer entgegen gekommen. Kurz darauf bildete sich die Milchcreme unterhalb der Schokoladenseite, und nun sah ich es viel genauer als beim letzten Mal. Es regnete dicken Nebel, wenn man bei Nebel von »regnen« sprechen kann.
Ich machte kehrt, denn ich hatte keine Lust, Opfer eines unvorhersehbaren Wetterereignisses zu werden. Doch als ich mich kurz vor Stellas Wohnung umdrehte, war der Himmel frei. Frei wie die Meinung, die wir Bürger bedenkenlos äußern durften. Frei wie die Entscheidungen der Stadtverordneten. Frei wie der Wille des Dr. Wüst und frei wie das Handeln des Arturo Groß.
*
Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich im Moment wie ein billiger Reporter, aber nicht wie ein märchenhafter Erzähler fühle. Es mag dies dem Umstand geschuldet sein, dass ich Wahlkämpfen aufgrund der tonnenweisen hohlen Versprechungen nicht mehr genügend Beachtung und Achtung schenke. Ich versuche nun mein Bestes und krame in meiner Erinnerung, um Ihnen das, was folgt, verständlich zu machen. Denn alles hat mit unserer späteren Freien Republik Lich zu tun.
Es war Mitte August, mitten im Wahlkampf. Die nächste Bürgermeisterwahl stand an. Der Wechsel auf dem Stadtthron würde vier Monate später, im Januar 2020, erfolgen. Ein Kandidat namens Jonas Cäsar, bisher Fraktionsvorsitzender und enger Vertrauter des Bürgermeisters, trat für die Sozialdemokraten an. Die CDU schickte Herbert Will ins Rennen, und ein sich unabhängig gebärdender SPD-naher Ex-Schulleiter namens Rossini, Onkel eines Fernsehkochs, komplettierte das Trio.
Wie Ben mir berichtete, hatten alle drei Kandidaten einen Bürgerentscheid vorgeschlagen. Cäsar preschte vor und verkündete lauthals: „Wir müssen jetzt für Transparenz sorgen. Ein neuer Wind muss wehen. Wir wollen die Bürger auf unserem Weg mitnehmen.“
Also wurde parteiübergreifend eine Bürgerbefragung als Richtungsentscheid ins Spiel gebracht. Ob es dazu kam, sollte aber zuerst einmal in einer offenen Informations- und Diskussionsveranstaltung geklärt werden
Wenn man von Lich kommend an der östlich gelegenen Langsdorfer Höhe vorbeifährt und das westlich gelegene Birklar rechts liegen lässt, befindet man sich auf der L 457, wo man nach sechs Kilometern abzweigen und zu dem Licher Ortsteil namens Langsdorf gelangen kann. Ich möchte Sie bitten, nicht voreilig dieses Örtchen zum Schuldigen zu erklären. Auch wenn dort jener überaus auf Eile bedachte Bauaufsichts-Beamte beheimatet ist, dem die Landrätin der Genehmigungsbeschleunigung zuliebe gleich noch die Naturschutzbehörde unterstellte. Sie erinnern sich. Sie erinnern sich gewiss auch des Sprichworts »Den Bock zum Gärtner machen«? Ich hoffe, ich kann mich auf Ihre Erinnerung verlassen.