Kitabı oku: «Postkoloniale Theologien», sayfa 8

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3 Machtbeziehungen

Wenn GramsciGramsci, Antonio den Staat als eine mit Zwang abgesicherte hegemoniale Herrschaft betrachtet, so können auch der Kolonialismus und die ihm folgenden postkolonialen Herrschaftsverhältnisse als diskursiv oder hegemonial gerechtfertigte und durch äußeren Zwang aufrechterhaltene Machtbeziehungen analysiert werden. Die kolonialen Machtbeziehungen, die meist militärisch und polizeilich gesichert wurden, transformierten sich dabei im Lauf der Zeit, insbesondere nach der jeweiligen formellen staatlichen Unabhängigkeit der Kolonialgebiete, in vielfältige andere Machtverhältnisse, die politischer und wirtschaftlicher Art, rassistisch oder geschlechtsbezogen waren. Auch kirchliche und missionarische Machtasymmetrien setzen bis in die Gegenwart die kolonialen Herrschaftsstrukturen fort.

Diese Machtbeziehungen werden nicht selten diskursiv verschleiert. In dieser Hinsicht bestehen selbstverständlich enge Beziehungen zwischen den Themen und Analysen dieses Kapitels und denen des vorangegangenen. Überschneidungen lassen sich daher nicht immer vermeiden. In diesem Kapitel stehen aber die äußeren, strukturellen, institutionellen und rechtlichen Aspekte der Kritik an postkolonialen Herrschaftsbeziehungen im Vordergrund. Postkoloniales Denken setzt sich eben – entgegen einem verbreiteten Vorwurf – nicht nur mit kulturellen und diskursiven Aspekten von Herrschaft auseinander, sondern zielt auch auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich eher auf einer strukturellen Ebene befinden. Das Zusammenwirken von Analysen auf struktureller und auf diskursiver Ebene verschafft den postkolonialen Studien hingegen einen Vorteil beim Aufdecken der komplexen und vielgestaltigen Herrschaftsformen, die der Kolonialismus herausgebildet, hinterlassen und weiterentwickelt hat.

Nach dem Ende des Kolonialismus haben diese Strukturen nicht einfach überlebt, sondern sich transformiert – gerade auch unter dem Einfluss des Widerstands und der Unabhängigkeitsbewegungen – und in vielfältiger Weise verformt. Die rein historische Erinnerung an die kolonialen Machtverhältnisse kann daher nur als ein Element ihrer Analyse dienen. Darüber hinaus nehmen die postkolonialen Studien auch weitere Methoden der Herrschaftsanalyse in Anspruch, um den komplexen und vielfach verschleierten Charakter der postkolonialen Machtstrukturen dekonstruieren zu können.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden in diesem Kapitel verschiedene Aspekte und Perspektiven struktureller Machtausübung in postkolonialen KontextenAspekte und Perspektiven struktureller Machtausübung in postkolonialen Kontexten vorgestellt. Sie werden dabei wieder – wie schon im letzten Kapitel – mit Beispielen aus postkolonial-theologischen Arbeiten illustriert, um die Auswirkungen dieser Analysen auf theologische Methoden und Inhalte zu dokumentieren. Zugleich wird auch der Beitrag sichtbar, den kritische, postkoloniale Theologien für die Analyse von Herrschaftsbeziehungen und zugleich für den Widerstand gegen sie leisten.

Neben offenen Herrschaftsbeziehungen, z. B. im politischen Bereich (3.1), finden sich strukturelle Abhängigkeiten auch in der Wirtschaft (3.2), in der Religion (3.3) und im Landbesitz (3.4). Fragen der Zugehörigkeit und der Exklusion weisen neben diskursiven auch strukturelle Aspekte auf (3.5). Weitere Perspektiven postkolonial-theologischer Analysen, die hier aufgezeigt werden, sind Gewalt gegen Frauen (3.6) und die Unsichtbarkeit in Unterdrückungsverhältnissen als Machtstrategie (3.7) Mit dem Begriff der Kolonialität der Macht (3.8) wird schließlich ein Zwischenfazit über die beiden eher analytisch und dekonstruktiv orientierten Kapitel 2 und 3 gezogen.

Auch den Machtbeziehungen, die in diesem Kapitel nun im Mittelpunkt stehen, ist – ähnlich den im vorausgegangenen Kapitel untersuchten kulturellen und diskursiven Formen der hegemonialen Herrschaft – eine gewisse Selbstverständlichkeit oder sogar ‚Gottgegebenheit‘ eigen. Da die christliche Missionierung in der Regel ein wichtiges Element postkolonialer Kulturen darstellt, werden die bestehenden Machtverhältnisse nicht selten als religiös legitimiert oder sogar determiniert aufgefasst. Wie andere kulturell sanktionierte Strukturen anerkennt man sie jedoch wenigstens als natürlich oder historisch notwendig. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit – sei sie religiös oder säkular begründet – stellt eine wichtige Herausforderung für die postkoloniale Analyse dar.

3.1 ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium

Der Begriff des Imperiums wird in postkolonialen Theologien gerne eingesetzt, weil er metaphorisch den sozialgeschichtlichen Kontext des Neuen Testaments und teilweise der Bibel insgesamt aufgreift. Die Auseinandersetzung der biblischen AutorInnen vor allem mit dem römischen Imperium hat deutliche Spuren in den Texten hinterlassen, die in postkolonialen Exegesen und biblisch orientierten theologischen Untersuchungen herausgearbeitet werden1. Trotz seiner neutestamentlichen Ursprünge, die ein Leiden unter dem Imperium und an der Praxis seiner Machtausübung widerspiegeln, zeigen postkoloniale Theologien auf, dass das Christentum in kolonialen und postkolonialen Kontexten sich häufig an der Seite der imperialen Macht befand und an ihr partizipierte. Christliche Legitimation von Herrschaft kann sich dabei auch in einer Glorifizierung göttlicher RegierungGlorifizierung göttlicher Regierung ausdrücken, wie in dem Liedzitat, das in der Überschrift dieses Abschnittes steht. Eine Übertragung dieser Verherrlichung auf säkulare Macht war und ist dabei häufig nicht ausgeschlossen.

Zugleich beziehen sich postkoloniale AutorInnen häufig mehr oder weniger explizit auch auf den Empire-Begriff von Michael HardtHardt, Michael und Antonio NegriNegri, Antonio2. Diese entwickeln die historische Konzeption des Imperiums, das mehr oder weniger immer auf zentralisierender Machtausübung beruhte, zu einer Vorstellung weiter, in der globale Machtansprüche insbesondere des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht mehr auf der Macht eines einzelnen Staates oder dessen unmittelbarem Herrschafts- oder Hegemoniebereich beruhen, sondern auf vielfältigen, teils widersprüchlichen und teils brüchigen Ordnungen, die flexibel und dynamisch auch auf Widerstände und Gegenbewegungen reagieren können, ohne dabei zentral gesteuert zu sein.

Der Imperiumsbegriff kann auch verwendet werden, um die aktuellen Konsequenzen der historischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus zu benennen. In diesem Sinn schreibt der chinesisch-nordamerikanische Exeget Benny LiewLiew, Benny Tat Siong:

„Der Unterschied zwischen Imperialismus und Kolonialismus erklärt beispielsweise, warum viele frühere Kolonien sich immer noch unter der indirekten oder informellen Herrschaft anderer befinden, [eine Herrschaft,] die frühere Kolonien einschließt, aber nicht auf diese beschränkt ist.“3

In diesem weiten Bedeutungsspektrum von biblischen, historischen und postmodernen Vorstellungen vom Imperium bewegen sich in der Regel auch postkoloniale theologische Reflexionen, in denen der Begriff eine Rolle spielt. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Vorstellungen, dass damit eine weltumspannende politische Herrschaft gemeint ist, die tiefgreifende Konsequenzen in wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen nach sich zieht.

Ein aufschlussreiches Beispiel für eine solche theologische Imperiumskritik bietet die vergleichende historische Studie über die Geschichte der Christologien durch die Jahrhunderte aus der Perspektive ihrer Wechselwirkungen mit den jeweiligen Imperien von → Jörg RiegerRieger, Jörg4. Einerseits wird nach seiner Analyse die Christologie von den jeweils bestimmenden Herrschaftsideologien beeinflusst und übernimmt Elemente daraus für die Bestimmung der theologischen Bedeutung JesuJesus Christi. Andererseits zeigt Rieger, wie Christologien immer auch zur Legitimation imperialer HerrschaftLegitimation imperialer Herrschaftsinteressen missbraucht wurden. Schließlich verweist er jedoch auch auf die Macht des Widerstands, die den Christologien immer eigen ist, und die vom jeweiligen Imperium nicht vollständig absorbiert und kontrolliert werden kann.

RiegerRieger, Jörg stellt zu diesem Zweck zunächst dar, inwiefern die ersten Christologien imperiumskritisch waren: PaulusPaulus und andere neutestamentliche AutorInnen gaben dem Auferstandenen den Herrschaftstitel „Kyrios“ oder „Herr“, der – damals mehr noch als heute – mit patriarchaler Machtausübung korrelierte, aber in direkter Konkurrenz zu den Herrschaftsansprüchen zeitgenössischer ‚Herren‘ oder ‚Kyrioi‘ konzipiert war: Wer sich zum ‚Herrn‘ JesusJesus Christus und dessen ohnmächtiger Form der Machtausübung bekannte, leistete dem Kyrios des römischen Reiches, dem Kaiser oder anderen regionalen, lokalen und familiären Herren unmittelbaren Widerstand. Paulus und zahlreiche frühe ChristInnen wurden dementsprechend als Staatsfeinde behandelt5.

Spätere Etappen der christologischen Entwicklung – seit dem ersten Konzil unter Kaiser Konstantin im Jahr 325 n. Chr. und dem späteren Aufstieg des Christentums zur Religion des römischen Staates – partizipierten jedoch in starker Wechselwirkung an den weltlichen, imperialen Machtbeziehungen. RiegerRieger, Jörg macht dennoch bei jeder Etappe dieser Entwicklung darauf aufmerksam, wie die Christologie, trotz ihrer Einbindung in politische Hierarchien, durch die lebendige Erinnerung an die historische Figur JesuJesus immer wieder Kraft zum Widerstand entwickelte, etwa mitten im kolonialzeitlichen Missbrauch der christlichen Religion durch Figuren wie Bartolomé de las CasasLas Casas, Bartolomé de6.

Für die Christologie ergibt sich aus dieser Analyse die wichtige Herausforderung, sich in jeder Etappe ihrer Entwicklung neu an den vom Imperium verdrängten Menschen und ihren Erfahrungen zu orientieren. Auf diese Weise kann sie ihr widerständiges Potenzial aktivieren. Ansonsten läuft sie Gefahr, sich in die imperialen Herrschaftsstrukturen einzufügen und sie zu stützen. Zugleich muss sie sich immer wieder selbstkritisch mit den vielfältigen Verflechtungen zwischen der christologischen Glorifizierung der Herrschaft Jesu Christi und der Legitimierung der imperialen Macht auseinandersetzen.

Der nordamerikanische indigene Theologe George E. TinkerTinker, George kritisiert in ähnlicher Weise den Gebrauch christologischer Titel, die sich mit imperialen und kolonialen Konzepten verbinden. Der Kyrios-Titel erinnert in seiner englischen Übersetzung ‚Lord‘ bis in die Gegenwart an die Unterwerfung der nordamerikanischen IndianerInnen durch englische und US-amerikanische ‚Herren‘:

„JesusJesus als Herrn anzurufen, bedeutet, der kolonialen Wirklichkeit neuer hierarchischer Sozialstrukturen nachzugeben; es bedeutet, die Eroberung als endgültig zu akzeptieren und sich zum Komplizen unseres eigenen Todes zu machen, das heißt, des fortwährenden Genozids an unseren Völkern.“7

Für TinkerTinker, George ist es daher unabdingbar, dass die Theologie, „wenn sie irgendeinen legitimen Anspruch auf Universalität erheben will“8, die Begrenzungen der europäischen Kultur überschreiten und mit Kulturen in Dialog treten muss, die radikal anders denken und sprechen.

Juan Bosco MonroyMonroy, Juan Bosco, Theologe und Bibelwissenschaftler aus Peru, macht an einem anderen Beispiel deutlich, wie ein solcher imperiumskritischer Zugang auch die Interpretation von Bibeltexten grundlegend verändern kann: In einem traditionellen Verständnis der Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9Gen 11,1-9 )9 wird der Abbruch der Bauarbeiten am Turm, die Verwirrung der Sprachen und die Zerstreuung der Menschen häufig als Strafe Gottes für die Hybris der Menschen betrachtet.

Aus postkolonialer Perspektive untersucht MonroyMonroy, Juan Bosco jedoch in diesem Fall zunächst den Entstehungskontext der biblischen Geschichte: ‚Babel‘ zeigt sich hier in seiner Analyse als Symbol für den Anspruch einer imperialen Weltherrschaft, in der u.a. durch die Durchsetzung einer Einheitssprache Herrschaft optimiert und durch Zwangsarbeit (Ziegelherstellung) Großprojekte durchgeführt werden. Die Ziegel erinnern zudem in einem biblisch-intertextuellen Bezug an die Knechtschaft des Volkes Israel in Ägypten (vgl. Ex 1,13Ex 1,13 ). Gottes Eingreifen wird so von den Unterdrückten als Befreiung, nicht als Strafe erfahren: Das Imperium wird gebrochen, sein Mega-Bauprojekt zerstört und die Zwangsarbeit beendet.

Auf diese Weise eröffnet sich ein veränderter Blick auf den Text, der auch neue, herausfordernde Verbindungen zur Gegenwart sichtbar macht: Die Sprachenvielfalt als BereicherungVielfalt der Sprachen kann dann sogar als Bereicherung und nicht als Strafe gesehen werden, sowohl vor wie auch nach der Verwirrung der Sprache in Babel. Denn die unmittelbar vorausgehende Völkertafel ordnet die Menschen in allen Bereichen der Welt „nach ihren Sprachen in ihren Ländern, nach ihren Völkern“ (Gen 10,31Gen 10,31 ). In dieser Vielfalt werden die Menschen im Text gesegnet. Ebenso wie die globale Vereinheitlichung von Kultur und Sprache dienen auch imperiale Großprojekte bis heute noch mittels Ausbeutung und Zwangsarbeit der Förderung und Sicherung der Macht der Herrschenden. Der Text kann so in der Gegenwart als Symbol der Hoffnung auf kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche Unabhängigkeit und politische Befreiung gelesen werden.

MonroyMonroy, Juan Bosco verknüpft so eine veränderte Sichtweise auf die Bibel mit der kritischen Analyse heutiger Machtstrategien des Imperiums, seinen Homogenisierungsbestrebungen in Sprache und Kultur, der schweren und entfremdenden Arbeit und lässt den Gott der Turmbaugeschichte als Befreier von imperialen Machtansprüchen erkennbar werden. In vergleichbarer Form stellen auch andere postkoloniale TheologInnen die enge Verknüpfung von Christentum und Machtausübung in Frage und lesen bekannte Texte aus Bibel und Tradition neu, um sie aus den Perspektiven der Subalternen als Gute Nachrichten der Befreiung und Ermächtigung interpretieren zu können.

3.2 Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung

Die Unabhängigkeitserklärungen kolonisierter Staaten brachten in aller Regel keine echte wirtschaftliche Unabhängigkeit mit sich. Im Gegenteil setzten sich gerade im ökonomischen Bereich die Strukturen der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen, die Exportabhängigkeit und die ungerechte Konzentration von Besitz in den Händen weniger bisweilen nahtlos fort. Dabei wechselten in der Regel nur die Eigentumsverhältnisse von europäischen auf einheimische Eliten, wobei diese oftmals selbst ebenfalls europäischer Abstammung waren.

Die Orientierung der Produktion in den nun ehemaligen Kolonien an den Interessen der Märkte in den europäischen Staaten blieb dabei jedoch in aller Regel bestehen, ebenso wie landwirtschaftliche Monokulturen, auf denen Baumwolle oder Nahrungsmittel für den Export und nicht so sehr für den Eigenbedarf angebaut wurden, und der exzessive Bergbau, um unverarbeitete Rohstoffe wie Holz, Edelmetalle, Erdöl und Mineralien in die Industriestaaten zu exportieren. Die Erlöse aus diesen exportorientierten Produktionsverhältnissen verblieben (und verbleiben bis in die Gegenwart) oft direkt oder indirekt in den Industriestaaten.

Aus diesen Gründen – die hier nur sehr vereinfacht dargestellt werden können – erhebt sich in sehr vielen postkolonialen Staaten der Protest über eine in wirtschaftlicher Hinsicht nicht wirklich erreichte Unabhängigkeit der Kolonien. Mit Begriffen wie Neokolonialismus und „internem Kolonialismus“1 charakterisiert man externe und interne Faktoren der fortdauernden Abhängigkeit und Ausbeutung, von denen die ehemaligen Kolonien und besonders einzelne Regionen in ihnen betroffen sind.

In Lateinamerika hat die Theologie der Befreiung bereits seit den 1960er Jahren auf diese wirtschaftlichen Abhängigkeiten aufmerksam gemacht und sie auch theologisch reflektiert, ohne dabei in der Regel eine ausdrückliche Verbindung zum ehemals kolonialen Status des Kontinents zu ziehen2.

Gustavo GutiérrezGutiérrez, Gustavo, der mit seinem gleichnamigen Werk 1971 als einer der Begründer der Theologie der Befreiung gilt, formuliert ganz im Sinn der Dependenz-theoriedamals in den kritischen Sozialwissenschaften neu entstehenden Dependenztheorie: „Die Unterentwicklung der armen Völker als globaler sozialer Tatbestand […] ist ein geschichtliches Subprodukt der Entwicklung anderer Länder“3. Die Entwicklung der Industriestaaten wird in dieser Dependenztheorie als eine wesentliche Ursache der Verarmung der Kolonien und der postkolonialen Staaten beschrieben.

In dieser Situation stellt sich für GutiérrezGutiérrez, Gustavo als zentrale theologische Herausforderung die Frage: „Welche Beziehung besteht zwischen der Erlösung und dem Prozeß der Befreiung des Menschen im Lauf der Geschichte?“4 Aus dieser Frage entsteht in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die vielfältige Bewegung der Befreiungstheologie, die bis heute von weltweitem Einfluss ist5. In ihr wird das Schaffen und Nichtbeseitigen von Armut nicht nur als „Übel und […] Skandal“, sondern als „Ausdruck von Sünde“6 theologisch gekennzeichnet. Diese Sünde besitzt eine strukturelle Macht, die über das schlechte Handeln Einzelner hinausgeht. Wirtschaftliche Ungerechtigkeit wird in der Befreiungstheologie auch als Götzendienst gebrandmarkt, dem Widerstand geleistet werden muss7.

In den letzten Jahren vertieft sich ein Dialog zwischen Befreiungstheologien und postkolonialen und dekolonialen Studien, in dem die theologische Bewertung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Unterdrückung mit anderen Fortentwicklungen kolonialer Machtausübung in Beziehung gesetzt wird8.

Auch in anderen Regionen der Welt wird die postkoloniale wirtschaftliche Abhängigkeit von den Industriestaaten theologischer Kritik unterzogen. So schreibt der Historiker und Religionswissenschaftler Ezra ChitanoChitano, Ezra aus Zimbabwe:

„Globale wirtschaftliche Akteure sind nur an Afrika interessiert, um ihre eigenen Bedürfnisse und Launen zu befriedigen. Obwohl Afrika sehr gut mit Öl, Mineralien, bebaubarem Land und anderen Ressourcen ausgestattet ist, taumelt der Kontinent immer noch von deren Ausbeutung durch gierige und gerissene externe Akteure, die Hand in Hand mit skrupellosen internen Eliten arbeiten.“9

Diese Gier angesichts der Rohstoffe der Regionen des Globalen Südens beschreibt nicht nur das Verhältnis zwischen Europa und seinen Kolonien, sondern gilt in der Erfahrung Chitanos gerade auch für die Wirtschaftsbeziehungen in den postkolonialen Zeiten der Globalisierung10. ChitanoChitano, Ezra stellt der kapitalistischen Ausbeutung, durch die fremdes Eigentum zur käuflichen Ware gemacht wird, eine biblische Erinnerung entgegen: In der Erzählung von Nabots Weinberg (1 Kön 21,1-191 Kön 21,1-19 ) werde deutlich, dass es möglich sei, sich auf die Bibel, und damit ein grundlegendes Dokument der Tradition der Kolonialstaaten, zu beziehen, um den Respekt vor dem Erbe der Vorfahren und vor Gott gegen die koloniale Ausbeutung in Anspruch zu nehmen: „Nabot war überzeugt, dass sein Erbteil nicht zur Ware gemacht und weggegeben werden konnte“11.

ChitanoChitano, Ezra führt noch ein weiteres Beispiel für eine befreiende postkoloniale Bibelinterpretation an:

„Die Lektüre der Erzählung in Joh 5,1-9Joh 5,1-9 , von dem Menschen, der heil werden wollte und eine strategische Position bei dem Teich von Betesda einnahm, kann sehr ermächtigend wirken. Der Mensch war ‚so nah und doch so fern‘. Ähnlich haben wir AfrikanerInnen unsere Ressourcen ganz in unserer Reichweite, aber wir kämpfen darum, an sie heranzukommen und zu unserem besten Nutzen einzusetzen.“12

Angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von reicheren Staaten und internationalen Korporationen geht es also auch darum, dass die Ausgebeuteten selbst zu AkteurInnen werden können und sich nicht in eine selbst oder fremd zugeschriebene Opferrolle drängen lassen. Biblische Erzählungen wie die vom kranken Menschen am Teich Betesda lassen sich aus dieser Perspektive dahingehend interpretieren.

Die deutsche Theologin Marion GrauGrau, Marion, die in Norwegen lehrt, zeigt, wie sich in postkolonialen Theologien Motive aus der kapitalistischen Ökonomie mit klassischen theologischen Narrativen zu einer widerständigen und sogar ironischen neuen Gestalt verschmelzen lassen. Sie greift ein Bild Gregors von NyssaGregor von Nyssa auf, der im 4. Jahrhundert die von Christus am Kreuz bewirkte Erlösung als vorsätzlichen Betrug interpretiert: Gott habe den Teufel mit Falschgeld bezahlt, denn der Preis, den Gott für die Rettung der Menschheit, d.h. den Tod Christi, gezahlt habe, war eine Täuschung, da Christus später auferstanden sei: Gott als „Trickster“Gott als „Trickster“13, der sich über den betrogenen Teufel noch lustig macht.

Dieses Narrativ kann in einer Welt kapitalistischer Abhängigkeiten als Ausnahme von einer gültigen Regel interpretiert werden, deren Übertretung Gott im Kampf gegen den Teufel (und zum Spott über ihn) zugestanden wird, aber in ihrer Gültigkeit für menschliche Wirtschaftsbeziehungen nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Es kann aber auch das Potential entwickeln, Trickster, Fälscher und andere ÜbertreterInnen kapitalistischer Regelungen zum Vorbild für die Befreiung derjenigen zu nehmen, die von diesen Regeln unterdrückt und entmenschlicht werden. Das klassische soteriologische Bild des Loskaufs kann so zu einer politischen Antwort auf die befreiungstheologische Grundfrage nach der Beziehung zwischen der Erlösung und der Befreiung des Menschen führen.

Postkoloniale Theologien machen – wie diese Beispiele zeigen – durch ihre kreativen Weiterentwicklungen biblischer und traditioneller Narrative nicht nur auf die Tatsache der wirtschaftlichen Unterdrückung in ihren Kontexten aufmerksam und verbinden sie mit theologischen Fragestellungen. Sie decken auch die Komplizenschaft traditioneller Theologien mit kolonialen Wirtschaftsbeziehungen auf und begründen aus der Praxis des antikolonialen und antikapitalistischen Widerstands neue theologische Diskurse, in denen die erlösende und befreiende Kraft des Glaubens auch auf Machtstrukturen ökonomischer Abhängigkeiten angewendet werden kann.

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