Kitabı oku: «Die Welt von Gestern», sayfa 6
Diese ›gesellschaftliche Moral‹, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte, ›sich die Hörner abzulaufen‹, wie man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloss sie gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. Dass ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, musste sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Dass aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könne, dass die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der ›Heiligkeit der Frau‹ verstoßen. Es wurde also in der vorfreudianischen Zeit die Vereinbarung als Axiom durchgesetzt, dass ein weibliches Wesen keinerlei körperliches Verlangen habe, solange es nicht vom Manne geweckt werde, was aber selbstverständlich offiziell nur in der Ehe erlaubt war. Da aber die Luft – besonders in Wien – auch in jenen moralischen Zeiten voll gefährlicher erotischer Infektionsstoffe war, musste ein Mädchen aus gutem Hause von der Geburt bis zu dem Tage, da es mit seinem Gatten den Traualtar verließ, in einer völlig sterilisierten Atmosphäre leben. Um die jungen Mädchen zu schützen, ließ man sie nicht einen Augenblick allein. Sie bekamen eine Gouvernante, die dafür zu sorgen hatte, dass sie gottbewahre nicht einen Schritt unbehütet vor die Haustür traten, sie wurden zur Schule, zur Tanzstunde, zur Musikstunde gebracht und ebenso abgeholt. Jedes Buch, das sie lasen, wurde kontrolliert, und vor allem wurden die jungen Mädchen unablässig beschäftigt, um sie von möglichen gefährlichen Gedanken abzulenken. Sie mussten Klavier üben und Singen und Zeichnen und fremde Sprachen und Kunstgeschichte und Literaturgeschichte lernen, man bildete und überbildete sie. Aber während man versuchte, sie so gebildet und gesellschaftlich wohlerzogen wie nur denkbar zu machen, sorgte man gleichzeitig ängstlich dafür, dass sie über alle natürlichen Dinge in einer für uns heute unfassbaren Ahnungslosigkeit verblieben. Ein junges Mädchen aus guter Familie durfte keinerlei Vorstellungen haben, wie der männliche Körper geformt sei, nicht wissen, wie Kinder auf die Welt kommen, denn der Engel sollte ja nicht nur körperlich unberührt, sondern auch seelisch völlig ›rein‹ in die Ehe treten. ›Gut erzogen‹ galt damals bei einem jungen Mädchen für vollkommen identisch mit lebensfremd; und diese Lebensfremdheit ist den Frauen jener Zeit manchmal für ihr ganzes Leben geblieben. Noch heute amüsiert mich die groteske Geschichte einer Tante von mir, die in ihrer Hochzeitsnacht um ein Uhr morgens plötzlich wieder in der Wohnung ihrer Eltern erschien und Sturm läutete, sie wolle den grässlichen Menschen nie mehr sehen, mit dem man sie verheiratet habe, er sei ein Wahnsinniger und ein Unhold, denn er habe allen Ernstes versucht, sie zu entkleiden. Nur mit Mühe habe sie sich vor diesem sichtbar krankhaften Verlangen retten können.
Nun kann ich nicht verschweigen, dass diese Unwissenheit den jungen Mädchen von damals anderseits einen geheimnisvollen Reiz verlieh. Diese unflüggen Geschöpfe ahnten, dass es neben und hinter ihrer eigenen Welt eine andere gäbe, von der sie nichts wussten und nichts wissen durften, und das machte sie neugierig, sehnsüchtig, schwärmerisch und auf eine anziehende Weise verwirrt. Wenn man sie auf der Straße grüßte, erröteten sie – gibt es heute noch junge Mädchen, die erröten? Wenn sie miteinander allein waren, kicherten und tuschelten und lachten sie unablässig wie leicht Betrunkene. Voll Erwartung nach all dem Unbekannten, von dem sie ausgeschlossen waren, träumten sie sich das Leben romantisch aus, waren aber gleichzeitig voll Scham, dass jemand entdecken könnte, wie sehr ihr Körper nach Zärtlichkeiten verlangte, von denen sie nichts Deutliches wussten. Eine Art leiser Verwirrung irritierte unablässig ihr ganzes Gehaben. Sie gingen anders als die Mädchen von heute, deren Körper gestählt sind durch Sport, die sich unbefangen und leicht unter jungen Männern als ihresgleichen bewegen; schon auf tausend Schritte konnte man damals am Gang und am Gebaren ein junges Mädchen von einer Frau unterscheiden, die schon einen Mann gekannt. Sie waren mehr Mädchen, als die Mädchen es heute sind und weniger Frauen, in ihrem Wesen der exotischen Zartheit von Treibhauspflanzen ähnlich, die im Glashaus in einer künstlich überwärmten Atmosphäre und geschützt vor jedem bösen Windhauch aufgezogen werden: das kunstvoll gezüchtete Produkt einer bestimmten Erziehung und Kultur.
Aber so wollte die Gesellschaft von damals das junge Mädchen, töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu werden. Die Sitte schien sie zu behüten als das Sinnbild ihres geheimsten Ideals, als das Symbol der weiblichen Sittsamkeit, der Jungfräulichkeit, der Unirdischkeit. Aber welche Tragik dann, wenn eines dieser jungen Mädchen seine Zeit versäumte, wenn es mit fünfundzwanzig, mit dreißig Jahren noch nicht verheiratet war! Denn die Konvention verlangte erbarmungslos auch von dem dreißigjährigen Mädchen, dass es diesen Zustand der Unerfahrenheit, der Unbegehrlichkeit und Naivität, der ihrem Alter längst nicht mehr gemäß war, um der ›Familie‹ und der ›Sitte‹ willen unverbrüchlich aufrechterhielt. Aber dann verwandelte sich meist das zarte Bild in eine scharfe und grausame Karikatur. Das unverheiratete Mädchen wurde zum ›sitzengebliebenen‹ Mädchen, das sitzengebliebene Mädchen zur ›alten Jungfer‹, an der sich der schale Spott der Witzblätter unablässig übte. Wer heute einen alten Jahrgang der ›Fliegenden Blätter‹ oder eines der anderen humoristischen Organe jener Zeit aufschlägt, wird mit Grauen in jedem Heft die stupidesten Verspottungen alternder Mädchen finden, die, in ihren Nerven verstört, ihr doch natürliches Liebesverlangen nicht zu verbergen wissen. Statt die Tragödie zu erkennen, die sich in diesen geopferten Existenzen vollzog, die um der Familie und ihres guten Namens willen die Forderungen der Natur, das Verlangen nach Liebe und Mutterschaft, in sich unterdrücken mussten, verhöhnte man sie mit einem Unverständnis, das uns heute degoutiert. Aber immer ist eine Gesellschaft am grausamsten gegen jene, die ihr Geheimnis verraten und offenbar machen, wo sie durch Unaufrichtigkeit gegen die Natur einen Frevel begeht.
Versuchte damals die bürgerliche Konvention krampfhaft die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass eine Frau aus ›guten Kreisen‹ keine Sexualität besitze und besitzen dürfe, solange sie nicht verheiratet sei – alles andere machte sie zu einer ›unmoralischen Person‹, zu einem Outcast der Familie –, so war man doch immerhin genötigt, bei einem jungen Mann das Vorhandensein solcher Triebe zuzugeben. Da man mannbar gewordene junge Leute erfahrungsgemäß nicht verhindern konnte, ihre vita sexualis auszuüben, beschränkte man sich auf den bescheidenen Wunsch, sie sollten ihre unwürdigen Vergnügungen extra muros der geheiligten Sitte erledigen. Wie die Städte unter den sauber gekehrten Straßen mit ihren schönen Luxusgeschäften und eleganten Promenaden unterirdische Kanalanlagen verbergen, in denen der Schmutz der Kloaken abgeleitet wird, sollte das ganze sexuelle Leben der Jugend sich unsichtbar unter der moralischen Oberfläche der ›Gesellschaft‹ abspielen. Welche Gefahren der junge Mensch sich dabei aussetzte und in welche Sphären er geriet, war gleichgültig, und Schule wie Familie verabsäumten ängstlich, den jungen Mann in dieser Hinsicht aufzuklären. Hie und da nur gab es in den letzten Jahren gewisse vorsorgliche oder, wie man damals sagte, ›aufgeklärt denkende‹ Väter, welche, sobald ihr Sohn die ersten Zeichen sprossenden Bartwuchses trug, ihm auf den richtigen Weg helfen wollten. Dann wurde der Hausarzt gerufen, der gelegentlich den jungen Menschen in ein Zimmer bat, umständlich seine Brille putzte, ehe er einen Vortrag über die Gefährlichkeit der Geschlechtskrankheiten begann und dem jungen Mann, der gewöhnlich zu diesem Zeitpunkte längst sich selbst belehrt hatte, nahelegte, mäßig zu sein und bestimmte Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht zu lassen. Andere Väter wandten ein noch sonderbareres Mittel an; sie engagierten für das Haus ein hübsches Dienstmädchen, dem die Aufgabe zufiel, den jungen Burschen praktisch zu belehren. Denn es schien ihnen besser, dass der junge Mensch diese lästige Sache unter ihrem eigenen Dache abtäte, wodurch nach außen hin das Dekorum gewahrt blieb und außerdem die Gefahr ausgeschaltet, dass er irgendeiner ›raffinierten Person‹ in die Hände fallen könnte. Eine Methode der Aufklärung blieb aber in allen Instanzen und Formen entschlossen verpönt: die öffentliche und aufrichtige.
Welche Möglichkeiten ergaben sich nun für einen jungen Menschen der bürgerlichen Welt? In allen anderen, in den sogenannten unteren Ständen war das Problem kein Problem. Auf dem Lande schlief der Knecht schon mit siebzehn Jahren mit einer Magd, und wenn das Verhältnis Folgen zeigte, so hatte das weiter keinen Belang; in den meisten unserer Alpendörfer überstieg die Zahl der unehelichen Kinder weitaus die der ehelichen. Im Proletariat wieder lebte der Arbeiter, ehe er heiraten konnte, mit einer Arbeiterin zusammen in ›wilder Ehe‹. Bei den orthodoxen Juden Galiziens wurde dem Siebenjährigen, also dem kaum mannbaren Jüngling, die Braut zugeführt, und mit vierzig Jahren konnte er bereits Großvater sein. Nur in unserer bürgerlichen Gesellschaft war das eigentliche Gegenmittel, die frühe Ehe, verpönt, weil kein Familienvater seine Tochter einem zweiundzwanzigjährigen oder zwanzigjährigen jungen Menschen anvertraut hätte, denn man hielt einen so ›jungen‹ Mann noch nicht für reif genug. Auch hier enthüllte sich wieder eine innere Unaufrichtigkeit, denn der bürgerliche Kalender stimmte keineswegs mit dem der Natur überein. Während für die Natur mit sechzehn oder siebzehn, wurde für die Gesellschaft ein junger Mann erst mannbar, wenn er sich eine ›soziale Position‹ geschaffen hatte, also kaum vor dem fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahr. So entstand ein künstliches Intervall von sechs, acht oder zehn Jahren zwischen der wirklichen Mannbarkeit und jener der Gesellschaft, innerhalb dessen sich der junge Mann um seine ›Gelegenheiten‹ oder ›Abenteuer‹ selber zu bekümmern hatte.
Dafür gab die damalige Zeit ihm nicht allzu viele Möglichkeiten. Nur ganz wenige, besonders reiche junge Leute konnten sich den Luxus leisten, eine Mätresse ›auszuhalten‹, das heißt, ihr eine Wohnung zu nehmen und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Ebenso erfüllte sich nur einigen besonders Glücklichen das damalige literarische Liebesideal – das einzige, das in Romanen geschildert werden durfte –, das Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Die andern halfen sich meist mit Ladenmädchen und Kellnerinnen aus, was wenig innere Befriedigung bot. Denn in jener Zeit vor der Emanzipation der Frau und ihrer tätigen selbstständigen Teilnahme am öffentlichen Leben verfügten nur Mädchen aus allerärmster proletarischer Herkunft über einerseits genug Unbedenklichkeit, anderseits genug Freiheit für solche flüchtigen Beziehungen ohne ernste Heiratsabsichten. Schlecht gekleidet, abgemüdet nach einem zwölfstündigen, jämmerlich bezahlten Tagewerk, ungepflegt (ein Badezimmer war in jenen Zeiten noch das Privileg reicher Familien), und in einem engen Lebenskreise aufgewachsen, standen diese armen Wesen so tief unter dem Niveau ihrer Liebhaber, dass diese sich meist selbst scheuten, öffentlich mit ihnen gesehen zu werden. Zwar hatte für diese Peinlichkeit die vorsorgliche Konvention ihre besonderen Maßnahmen erfunden, die sogenannten Chambres Separees, wo man mit einem Mädchen ungesehen zu Abend essen konnte, und alles andere erledigte sich in den kleinen Hotels der dunklen Seitenstraßen, die ausschließlich auf diesen Betrieb eingerichtet waren. Aber all diese Begegnungen mussten flüchtig und ohne eigentliche Schönheit bleiben, mehr Sexualität als Eros, weil immer nur hastig und heimlich wie eine verbotene Sache getan. Dann gab es allenfalls noch die Möglichkeit der Beziehung zu einem jener amphibischen Wesen, die halb außerhalb, halb innerhalb der Gesellschaft standen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Künstlerinnen, den einzig ›emanzipierten‹ Frauen jener Zeit. Aber im allgemeinen blieb das Fundament des damaligen erotischen Lebens außerhalb der Ehe die Prostitution; sie stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob.
Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferde auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, dass es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden. Dazu kamen noch die zahlreichen ›geschlossenen Häuser‹, die Nachtlokale, die Kabaretts, die Tanzdielen mit ihren Tänzerinnen und Sängerinnen, die Bars mit ihren Animiermädchen. In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebenso wenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung. Nichts scheint mir die größere Ehrlichkeit und Natürlichkeit der gegenwärtigen Lebens- und Liebesformen so sehr zu bekräftigen, wie dass es der Jugend von heute möglich und fast selbstverständlich geworden ist, diese einst unentbehrliche Institution zu entbehren, und dass es nicht die Polizei, nicht die Gesetze gewesen, welche die Prostitution aus unserer Welt zurückgedrängt haben, sondern dass sich dieses tragische Produkt einer Pseudomoral bis auf spärliche Reste durch verminderte Nachfrage selbst erledigt hat.
Die offizielle Stellung des Staates und seiner Moral gegenüber dieser dunklen Angelegenheit war nun niemals recht behaglich. Vom sittlichen Standpunkt aus wagte man einer Frau das Recht zum Selbstverkauf nicht offen zuzuerkennen, vom hygienischen Standpunkt aus konnte man wiederum die Prostitution, da sie die lästige außereheliche Sexualität kanalisierte, nicht entbehren. So suchten sich die Autoritäten mit einer Zweideutigkeit zu helfen, indem sie eine Teilung machten zwischen geheimer Prostitution, die der Staat als unmoralisch und gefährlich bekämpfte, und einer erlaubten Prostitution, die mit einer Art Gewerbeschein versehen und vom Staat besteuert war. Ein Mädchen, das sich entschlossen hatte, Prostituierte zu werden, bekam von der Polizei eine besondere Konzession und als Berechtigungsschein ein eigenes Buch. Indem sie sich polizeilicher Kontrolle unterstellte und der Pflicht genügte, sich zweimal in der Woche ärztlich untersuchen zu lassen, hatte sie das Gewerberecht erworben, ihren Körper zu jedem ihr richtig dünkenden Preise zu vermieten. Sie war anerkannt als Beruf innerhalb aller anderen Berufe, aber – hier kam der Pferdefuß der Moral – doch nicht vollkommen anerkannt. So konnte zum Beispiel eine Prostituierte, wenn sie ihre Ware, das heißt, ihren Körper, an einen Mann verkauft hatte und er nachher die vereinbarte Bezahlung verweigerte, nicht gegen ihn Klage führen. Dann war mit einmal ihre Forderung – ob turpem causam, wie das Gesetz motivierte – plötzlich eine unmoralische geworden, die nicht den Schutz der Obrigkeit fand.
Schon an solchen Einzelheiten spürte man die Zwiespältigkeit einer Auffassung, die einerseits diese Frauen einordnete in ein staatlich erlaubtes Gewerbe, sie aber persönlich als Outcasts außerhalb des allgemeinen Rechts stellte. Aber die eigentliche Unwahrhaftigkeit bestand in der Handhabung, dass alle diese Beschränkungen nur für die ärmeren Klassen galten. Eine Balletttänzerin, die für zweihundert Kronen in Wien ebenso zu jeder Stunde und für jeden Mann zu haben war wie das Straßenmädchen für zwei Kronen, brauchte selbstverständlich keinen Gewerbeschein; die großen Demimondaines wurden sogar in der Zeitung in dem Bericht über das Trabrennen oder Derby unter den prominenten Anwesenden genannt, weil sie eben schon selbst zur ›Gesellschaft‹ gehörten. Ebenso standen einige der vornehmsten Vermittlerinnen, die den Hof, die Aristokratie und die reiche Bürgerschaft mit Luxusware versorgten, jenseits des Gesetzes, das sonst Kuppelei mit schweren Gefängnisstrafen belegte. Die strenge Disziplin, die mitleidslose Überwachung und die soziale Ächtung hatten nur Geltung innerhalb der Armee der Tausende und Tausende, welche mit ihrem Körper und ihrer gedemütigten Seele eine alte und längst unterhöhlte Moralauffassung gegen freie und natürliche Liebesformen verteidigen sollte.
Diese ungeheure Armee der Prostitution war – ebenso wie die wirkliche Armee in einzelne Heeresteile, Kavallerie, Artillerie, Infanterie, Festungsartillerie – in einzelne Gattungen aufgeteilt. Der Festungsartillerie entsprach in der Prostitution am ehesten jene Gruppe, die bestimmte Straßen der Stadt als ihr Quartier völlig besetzt hielt. Es waren meist jene Gegenden, wo früher im Mittelalter der Galgen gestanden hatte oder ein Leprosenspital oder ein Kirchhof, wo die Freimänner, die Henker und die anderen sozial Geächteten Unterschlupf gefunden, Gegenden also, welche die Bürgerschaft schon seit Jahrhunderten als Wohnsitz lieber mied. Dort wurden von den Behörden einige Gassen als Liebesmarkt freigegeben: Tür an Tür saßen wie im Yoshiwara Japans oder am Fischmarkt in Kairo noch im zwanzigsten Jahrhundert zweihundert oder fünfhundert Frauen, eine neben der andern, an den Fenstern ihrer ebenerdigen Wohnungen zur Schau, billige Ware, die in zwei Schichten, Tagschicht und Nachtschicht, arbeitete.
Der Kavallerie oder Infanterie entsprach die ambulante Prostitution, die zahllosen käuflichen Mädchen, die sich Kunden auf der Straße suchten. In Wien wurden sie allgemein ›Strichmädchen‹ genannt, weil ihnen von der Polizei mit einem unsichtbaren Strich das Trottoir abgegrenzt war, das sie für ihre Werbezwecke benutzen durften; bei Tag und Nacht bis tief ins Morgengrauen schleppten sie eine mühsam erkaufte, falsche Eleganz auch bei Eis und Regen über die Straßen, immer wieder für jeden Vorübergehenden das schon müde gewordene, schlecht geschminkte Gesicht zu einem verlockenden Lächeln zwingend. Und alle Städte erscheinen mir heute schöner und humaner, seit diese Scharen hungriger, unfroher Frauen nicht mehr die Straßen bevölkern, die ohne Lust Lust feilboten und bei ihrem endlosen Wandern von einer Ecke zur andern schließlich doch alle denselben unvermeidlichen Weg gingen: den Weg ins Spital.
Aber auch diese Massen genügten noch nicht für den ständigen Konsum. Manche wollten es noch bequemer und diskreter haben, als auf der Straße diesen flatternden Fledermäusen oder traurigen Paradiesvögeln nachzujagen. Sie wollten die Liebe behaglicher: mit Licht und Wärme, mit Musik und Tanz und einem Schein von Luxus. Für diese Klienten gab es die ›geschlossenen Häuser‹, die Bordelle. Dort versammelten sich in einem sogenannten, mit falschem Luxus eingerichteten ›Salon‹ die Mädchen in teils damenhaften Toiletten, teils schon unzweideutigen Negligés. Ein Klavierspieler sorgte für musikalische Unterhaltung, es wurde getrunken und getanzt und geplaudert, ehe sich die Paare diskret in ein Schlafzimmer zurückzogen; in manchen der vornehmeren Häuser, besonders in Paris und in Mailand, die eine gewisse internationale Berühmtheit hatten, konnte ein naives Gemüt der Illusion anheimfallen, in ein Privathaus mit etwas übermütigen Gesellschaftsdamen eingeladen zu sein. Äußerlich hatten es die Mädchen in diesen Häusern besser im Vergleich zu den ambulanten Straßenmädchen. Sie mussten nicht in Wind und Regen durch Kot und Gassen wandern, sie saßen im warmen Raum, bekamen gute Kleider, reichlich zu essen und insbesondere reichlich zu trinken. Dafür waren sie in Wahrheit Gefangene ihrer Wirtinnen, welche die Kleider, die sie trugen, ihnen zu Wucherpreisen aufzwangen und mit dem Pensionspreis solche rechnerischen Kunststücke trieben, dass auch das fleißigste und ausdauerndste Mädchen in einer Art Schuldhaft blieb und nie nach seinem freien Willen das Haus verlassen konnte.
Die geheime Geschichte mancher dieser Häuser zu schreiben, wäre spannend und auch dokumentarisch wesentlich für die Kultur jener Zeit, denn sie bargen die sonderbarsten, den sonst so strengen Behörden selbstverständlich wohlbekannten Heimlichkeiten. Da waren Geheimtüren und eine besondere Treppe, durch die Mitglieder der allerhöchsten Gesellschaft – und wie man munkelte, selbst des Hofes Besuch machen konnten, ohne von den anderen Sterblichen gesehen zu werden. Da waren Spiegelzimmer und solche, die geheimen Zublick in nachbarliche Zimmer boten, in denen sich Paare ahnungslos vergnügten. Da waren die sonderbarsten Kostümverkleidungen, vom Nonnengewand bis zum Ballerinenkleid, in Laden und Truhen für besondere Fetischisten verschlossen. Und es war dieselbe Stadt, dieselbe Gesellschaft, dieselbe Moral, die sich entrüstete, wenn junge Mädchen Zweirad fuhren, die es als eine Schändung der Würde der Wissenschaft erklärten, wenn Freud in seiner ruhigen, klaren und durchdringenden Weise Wahrheiten feststellte, die sie nicht wahrhaben wollten. Dieselbe Welt, die so pathetisch die Reinheit der Frau verteidigte, duldete diesen grauenhaften Selbstverkauf, organisierte ihn und profitierte sogar daran.
Man lasse sich also nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen jener Epoche irreführen; es war für die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte. Unbefangene, ehrliche Beziehungen, also gerade was der Jugend nach dem Gesetz der Natur hätte Beglückung und Beseligung bedeuten sollen, waren nur den allerwenigsten gegönnt. Und wer von jener Generation sich redlich seiner allerersten Begegnungen mit Frauen erinnern will, wird wenige Episoden finden, deren er wirklich mit ungetrübter Freude gedenken kann. Denn außer der gesellschaftlichen Bedrückung, die ständig zur Vorsicht und Verheimlichung zwang, überschattete damals noch ein anderes Element die Seele nach und selbst in den zärtlichsten Augenblicken: die Angst vor der Infektion. Auch hier war die Jugend von damals benachteiligt im Vergleich zu jener von heute, denn es darf nicht vergessen werden, dass vor vierzig Jahren die sexuellen Seuchen hundertfach mehr verbreitet waren als heute und vor allem hundertfach gefährlicher und schrecklicher sich auswirkten, weil die damalige Praxis ihnen klinisch noch nicht beizukommen wusste. Noch bestand keine wissenschaftliche Möglichkeit, sie wie heute derart rasch und radikal zu beseitigen, dass sie kaum mehr als eine Episode bilden. Während heutzutage an den Kliniken kleinerer und mittlerer Universitäten dank der Therapie Paul Ehrlich oft Wochen vergehen, ohne dass der Ordinarius seinen Studenten einen frisch infizierten Fall von Syphilis zeigen kann, ergab damals die Statistik beim Militär und in den Großstädten, dass unter zehn jungen Leuten mindestens einer oder zwei schon Infektionen zum Opfer gefallen waren. Unablässig wurde die Jugend damals an die Gefahr gemahnt; wenn man in Wien durch die Straßen ging, konnte man an jedem sechsten oder siebenten Haus die Tafel ›Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten‹ lesen, und zu der Angst vor der Infektion kam noch das Grauen vor der widrigen und entwürdigenden Form der damaligen Kuren, von denen gleichfalls die Welt von heute nichts mehr weiß. Durch Wochen und Wochen wurde der ganze Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was wiederum zur Folge hatte, dass die Zähne ausfielen und sonstige Gesundheitsschädigungen eintraten; das unglückliche Opfer eines schlimmen Zufalls fühlte sich also nicht nur seelisch, sondern auch physisch beschmutzt, und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene lebenslang nicht gewiß sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom Rückenmark aus die Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend. Kein Wunder darum, dass damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose gestellt wurde, zum Revolver griffen, weil sie das Gefühl, sich selbst und ihren nächsten Verwandten als unheilbar verdächtig zu sein, unerträglich fanden. Dazu kamen noch die anderen Sorgen einer immer nur heimlich ausgeübten vita sexualis. Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blass und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete, der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen, der vierte, weil er nicht wusste, wie die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen worden war und er nicht wagte, Anzeige zu machen. Viel dramatischer und anderseits unsauberer, viel spannungshafter und gleichzeitig bedrückender war also die Jugend in jener pseudo-moralischen Zeit, als sie die Romane und Theaterstücke ihrer Hofdichter schildern. Wie in Schule und Haus war auch in der Sphäre des Eros der Jugend fast nie die Freiheit und das Glück gewährt, zu dem sie ihr Lebensalter bestimmte.
All dies musste notwendig betont werden in einem ehrlichen Bilde der Zeit. Denn oft, wenn ich mich mit jüngeren Kameraden der Nachkriegsgeneration unterhalte, muss ich sie fast gewaltsam überzeugen, dass unsere Jugend im Vergleich mit der ihren keineswegs eine bevorzugte gewesen. Gewiss, wir haben mehr Freiheit im staatsbürgerlichen Sinne genossen als das heutige Geschlecht, das zum Militärdienst, zum Arbeitsdienst, in vielen Ländern zu einer Massenideologie genötigt und eigentlich in allem der Willkür stupider Weltpolitik ausgeliefert ist. Wir konnten ungestörter unserer Kunst, unseren geistigen Neigungen uns hingeben, die private Existenz individueller, persönlicher ausformen. Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen. Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion. Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermesslich mehr individuelle Freiheit und haben sie nicht nur geliebt, sondern auch genutzt. Aber wie Friedrich Hebbel einmal schön sagt: »Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« Selten ist ein und derselben Generation beides gegeben; lässt die Sitte dem Menschen Freiheit, so zwängt ihn der Staat ein. Lässt ihm der Staat seine Freiheit, so versucht die Sitte ihn zu kneten. Wir haben besser und mehr die Welt erlebt, die Jugend von heute aber lebt mehr und erlebt bewusster ihre eigene Jugend. Sehe ich heute die jungen Menschen aus ihren Schulen, aus ihren Colleges mit heller, erhobener Stirn, mit heiteren Gesichtern kommen, sehe ich sie beisammen, Burschen und Mädchen, in freier, unbekümmerter Kameradschaft, ohne falsche Scheu und Scham in Studium, Sport und Spiel, auf Skiern über den Schnee sausend, im Schwimmbad antikisch frei miteinander wetteifernd, im Auto zu zweit durch das Land sausend, in allen Formen gesunden, unbekümmerten Lebens ohne jede innere und äußere Belastung verschwistert, dann scheint mir jedes Mal, als stünden nicht vierzig, sondern tausend Jahre zwischen ihnen und uns, die wir, um Liebe zu gewähren, Liebe zu empfangen, immer Schatten suchen mussten und Versteck. Redlich erfreuten Blicks werde ich gewahr, welch ungeheure Revolution der Sitte sich zugunsten der Jugend vollzogen hat, wieviel Freiheit in Liebe und Leben sie zurückgewonnen hat und wie sehr sie körperlich und seelisch an dieser neuen Freiheit gesundet ist; die Frauen scheinen mir schöner, seit ihnen erlaubt ist, ihre Formen frei zu zeigen, ihr Gang aufrechter, ihre Augen heller, ihr Gespräch unkünstlicher. Welch eine andere Sicherheit ist dieser neuen Jugend zu eigen, die niemandem sonst Rechenschaft geben muss über ihr Tun und Lassen als sich selbst und ihrer inneren Verantwortung, die der Kontrolle sich entrungen hat von Müttern und Vätern und Tanten und Lehrern und längst nichts mehr ahnt von all den Hemmungen, Verschüchterungen und Spannungen, mit denen man unsere Entwicklung belastet hat; die nichts mehr weiß von den Umwegen und Heimlichkeiten, mit denen wir uns als ein Verbotenes erschleichen mussten, was sie mit Recht als ihr Recht empfindet. Glücklich genießt sie ihr Lebensalter mit dem Elan, der Frische, der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit, die diesem Alter gemäß ist. Aber das schönste Glück in diesem Glück erscheint mir, dass sie nicht lügen muss vor den andern, sondern ehrlich sein darf zu sich selbst, ehrlich zu ihrem natürlichen Fühlen und Begehren. Mag sein, dass durch die Unbekümmertheit, mit der die jungen Menschen von heute durch das Leben gehen, ihnen etwas von jener Ehrfurcht vor den geistigen Dingen fehlt, die unsere Jugend beseelte. Mag sein, dass durch die Selbstverständlichkeit des leichten Nehmens und Gebens manches in der Liebe ihnen verloren gegangen ist, was uns besonders kostbar und reizvoll schien, manche geheimnisvolle Hemmung von Scheu und Scham, manche Zartheit in der Zärtlichkeit. Vielleicht sogar, dass sie gar nicht ahnen, wie gerade der Schauer des Verbotenen und Versagten den Genuss geheimnisvoll steigert. Aber all dies scheint mir gering gegenüber der einen und erlösenden Wandlung, dass die Jugend von heute frei ist von Angst und Gedrücktheit und voll genießt, was uns in jenen Jahren versagt war: das Gefühl der Unbefangenheit und Selbstsicherheit.