Kitabı oku: «Herbstverwesung», sayfa 3
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Eleonora schlich langsam und behutsam die rutschigen, unebenen Treppen zum Schloss hinauf. Mit zittrigen Händen öffnete sie wie beim ersten Mal das schwere Eingangstor zum Innenhof. Sie war wie beim letzten Mal nicht verschlossen und ließ sich mit geringem Kraftaufwand nach innen aufdrücken. Eleonora sah sich aufgeregt um. Keine Misses Greenwood. Sie betrachtete die hohen Mauern. Irgendwo hier musste doch diese Kamera sein. Sie hing an der Dachrinne, über der Stalltür. Das bedeutete, sie filmte nur einen bestimmten Bereich auf dem großen Innenhof. Die Tür zum Wohnbereich von Misses Greenwood wurde nicht gefilmt. Eleonora atmete auf. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Wohnbereich. Der lange, finstere Gang schockte sie erneut. Der muffige, säuerliche Geruch stieg auf. Eleonora holte ihr Handy heraus und schaltete die Taschenlampe an. Das bläuliche Licht erhellte lange nicht den gesamten Gang, doch immerhin spendete es genügend Licht, um ein paar Schritte voraus sehen zu können. Hier die Garderobe. Eleonora überprüfte erneut die Schuhe. Diesmal waren keine Männerschuhe dabei. Das bedeutete, es war sicher niemand außer ihr auf Red Side.
Endlich erreichte sie den Wohnsalon. Hier gab es einen Lichtschalter, Eleonora drückte ihn und der Salon erhellte in dämmrigem Licht. Mein Gott, die Puppen. Da saßen sie. Zu fünft. Drei saßen auf dem Sofa und zwei standen auf dem Tisch. Isabell fehlte. Sie war wohl gerade im Cafe Fresh mit ihrer Großmutter. Und Mirabell fehlte auch. Wo sie aufbewahrt wurde, war wohl Elisabeth Greenwoods Geheimnis. Die Puppen saßen starr auf dem Sofa, es war, als würden ihre Glasaugen jede einzelne von Eleonoras Bewegungen verfolgen. Ihre Häute waren schneeweiß und makellos. Die beiden anderen standen auf dem kleinen Wohnzimmertisch. Direkt nebeneinander, das Gesicht nach vorne zu Eleonora gedreht.
Vorsichtig trat Eleonora an sie heran und setzte sich vor sie auf den Boden. Es war still hier im Wohnbereich, es herrschte auf ganz Red Side eine unheimliche, kühle Stille. Das einzige, was man hören konnte, war Eleonoras Atem, der laut war, aufgeregt und stockend. Ihr Blick wanderte erneut zu den Puppen. Sie waren so makellos, zu perfekt. Eleonora streckte die Hand aus, um ihr die schwarzen Haare aus dem Gesicht zu streichen und um ihre hellblauen Augen besser sehen zu können. „Du siehst gruselig aus, weißt du das?“, flüsterte sie und nahm sie auf ihren Arm. „Gruselig, und doch faszinierend.“ Andächtig strich sie über das rote Samtkleidchen.
Einen Moment lang versank Eleonora in den Augen der Puppe, der eingefrorene Blick fesselte sie. Dann schauderte sie, stellte sie schnell wieder zurück. Meine Güte. Hatte sie gerade wirklich mit der Puppe gesprochen? Sie zupfte das Kleid des Mädchens wieder zurecht. Plötzlich ertönte ein lauter Gong, Eleonora fuhr zusammen. Die große Uhr mit dem Pendel schlug zur vollen Stunde. Eleonora musste sich beeilen. Sie musste einen Keller finden.
Sie lief im Wohnbereich des Schlosses umher, doch es gab weder eine Kellertreppe, noch eine Leiter, die nach unten in den Boden führte. Eleonora war bereits im Badezimmer, in der Küche und im Wohnsalon gewesen. Die Räume waren alle miteinander verbunden, in jedem Zimmer gab es mehrere Türen, die in weitere Räume führten. Red Side war ein echter Irrgarten, und Eleonora musste sich konzentrieren. Die meisten Räume waren aber nicht bewohnt, sie waren vollgestellt mit Möbeln, über die Leinen gehängt worden waren, sie waren staubig, dunkel oder gar leer. Der Boden knarzte bei jedem Schritt unter den Füßen.
Jetzt fehlte nur noch das Schlafzimmer. Doch auch hier gab es keine Treppe, die in einen Keller führte. Genervt verdrehte sie die Augen. Eleonora wurde müde, dieses kleine Abenteuer kostete sie viel Kraft, sie fühlte sich unwohl und war unzufrieden, weil sie einfach nicht das fand, wonach sie suchte. Sie nahm sich einen kurzen Moment für sich, um einen klaren Kopf fassen zu können und erlaubte sich, sich kurz auf das alte Himmelbett von Elisabeth Greenwood zu setzen. Die unheimliche Stille wurde durch einen plötzlichen Knall durchbrochen. Erschrocken zuckte Eleonora zusammen. Es war ein dumpfes Geräusch, als hätte jemand eine Türe zugeschlagen. Es war nicht von draußen, es war nicht weit fort, kam aus dem Wohnsalon. Eleonora sprang auf. Elisabeth Greenwood musste zurück sein. Vorsichtig steckte Eleonora ihren Kopf durch die Tür. Niemand war zu sehen. Der ganze Wohnsalon war ruhig. Erleichtert atmete Eleonora auf. Das Geräusch war wohl doch von draußen gekommen. Sie setzte sich erneut auf das alte, schwere Bett und ließ den Kopf in die Hände sinken. Sie hatte nicht das gefunden, was sie gesucht hatte.
Womöglich hatte Frank Harris Recht gehabt. Es hatte weder einen Einbruch noch einen Ausbruch auf Red Side gegeben und die alte Greenwood war einfach nur eine Verrückte, die sich vermutlich mehr einbildete und ausdachte, als sie tatsächlich noch raffte.
Sie lehnte sich zurück auf das alte, muffige Kissen. Doch sie fuhr sofort erschrocken hoch, denn etwas drückte sie in den Nacken. Vorsichtig hob Eleonora das schwere Kissen in die Höhe. Im Schatten des Hirschkopfes über dem Bett lag ein kleiner Gegenstand. Verwirrt musterte Eleonora ihren Fund. Was lag da unter dem Kopfkissen? Es war ein Schlüssel. Ein rostiger, verzierter Schlüssel mit Schnörkel. Eleonora hob ihn auf und ließ ihn durch ihre kalten Finger gleiten. Er war groß, schwer. Es war keineswegs ein Schlüssel für einen Schrank oder eine Truhe. Mit diesem Schlüssel sollte eine Türe oder ein Tor geöffnet werden, ein Verließ oder ein Gitter. Und was auch immer man mit diesem Schlüssel aufschließen konnte, Misses Greenwood wollte nicht, dass es jemals so weit kommt. Denn er war gewiss nicht ohne Grund unter ihrem Schlafkissen versteckt.
Ein leises Knarzen ertönte auf einmal. Ein Keuchen. „Was hast du denn hier zu suchen?“, krächzte plötzlich eine Stimme, laut und nah.
Eleonora fuhr erschrocken zusammen, drehte sich augenblicklich um. Und da stand sie, am Fußende des Bettes, als hätte die Teufelshand sie gemalt: Elisabeth Greenwood. Im dämmerigen Licht blitzte ihr Glasauge unheimlich aus dem grauen, faden Gesicht, die Warze prankte auf der Wange, ihre trockenen Lippen zu einem schmalen Strich des puren Zorns gezogen. Das Kopftuch schütze ihre grauen, feinen Haare, die wie die Weben einer Spinne an ihrem Kopf umherflogen, die Kleider zerfetzt, alt und muffig. Eleonora schluckte, wich ängstlich zurück und erhob sich erstarrt von dem Bett.
„Misses Greenwood, Sie haben mich erschreckt“, flüsterte sie, der Atem stockte.
Die Alte tat wortlos ein paar zitternde Schritte auf sie zu, kam immer näher, langsam, grummelnd.
Mit ihren weißlichen Augen hatte sie Eleonora fixiert wie eine Schlange eine kleine, zitternde Maus, die sie gleich mit einem Bissen töten und verschlingen würde. Eleonora griff instinktiv in ihre Manteltasche, fühlte nach dem Küchenmesser. Sie spürte es in der Brusttasche und ihre Finger umgriffen es so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden.
„Du bist erneut in mein Schloss eingedrungen, ohne Einladung“, murrte Misses Greenwood. „Was hast du hier zu suchen, Eleonora?“ Den Namen sprach sie so gehässig aus, zischte ihn durch ihre vergoldeten Zähne.
„Ich… Ich wollte Sie nur besuchen“, zitterte Eleonora. Misses Greenwood kam immer näher auf sie zu, Eleonora stand bereits mit dem Rücken an die Wand gedrückt. „Und… Und ihre siebte Puppe kennen lernen!“, fiel ihr da ein. Die Puppen waren für die Alte bisher immer ein gutes Thema gewesen, Eleonora betete, flehte im Stillen, dass sie sie damit ablenken konnte. „Wissen Sie noch, Misses Greenwood, sie haben mir vor ein paar Tagen Isabell vorgestellt und ihre Freundinnen. Aber die Schwester habe ich noch nicht kennen gelernt. Wie hieß sie noch? Annabell?“, stockte Eleonora und die alte Frau blieb stehen.
„Ihr Name ist Mirabell.“, antwortete sie ohne ihren ungebetenen Gast aus den Augen zu lassen.
„Du bist nun schon zum zweiten Mal unerlaubt in meinem Schloss“, krächzte sie weiter. „Und bevor du mich das erste Mal besucht hast, wurde mir ein Ring gestohlen, Eleonora“, die Alte legte ihren Kopf schief und grinste unheimlich. Meine Güte, Elisabeth Greenwood hielt Eleonora für den Einbrecher. Sie dachte, sie hätte den Ring gestohlen.
„Misses Greenwood, ich habe mit dem Einbruch in jener Nacht nichts zu tun“, wimmerte Eleonora, immer noch das Messer fest umgriffen.
Misses Greenwood nickte und schwieg. „Du bist zu einem Raub nicht fähig“, raunte sie. „Du hast Angst. Angst wie eine kleine Maus.“
Jetzt war es Eleonora, die stumm nickte.
„Du willst nur die Puppen kennen lernen, damit du dein Buch schreiben kannst“, fuhr die Alte fort.
„Genauso ist es“, antwortete Eleonora und ließ endlich das Messer los. Ihr Herz raste wie verrückt.
„Mirabell ist verletzt. Der Einbrecher hat sie zerstört. Sie ist im Wohnsalon. Komm mit, Kindchen.“
Misses Greenwood drehte sich langsam auf ihren dünnen Beinen um und verließ das Schlafzimmer. Eleonora atmete auf. Diese Frau kann einem wirklich Angst machen, dachte sie verstört und folgte ihr in den Wohnsalon.
Misses Greenwood stand vor dem einzigen Schrank im Wohnsalon, er war groß, schwer und aus massivem Holz gefertigt. Sie öffnete mit ihren dürren, knochigen Fingern die quietschende Schranktür und holte eine Schatulle heraus.
„Hier ist sie“, nun lächelte Misses Greenwood und überreichte Eleonora feierlich die rote Schatulle, die über und über mit Muscheln beklebt war. Eleonora hob den Deckel an, dessen Schatten sich langsam von dem Gesicht der Puppe abhob. Eleonora schrie entsetzt auf, wollte die Schatulle am liebsten sofort wieder verschließen. „Das ist Mirabell, meine andere Enkelin“, nickte Elisabeth Greenwood.
Die Porzellanpuppe war das Ebenbild des absoluten Grauens. Schneeweiße, eiskalte Haut. Blonde Engelshaare, makellos frisiert und ein weißes, glänzendes Kleid. Oben auf dem Kopf saß eine rote Schleife, fein drapiert auf dem blonden Haar.
„Sie war einst wunderschön und perfekt, doch jetzt ist sie zerstört von der Hand des Einbrechers, von der Hand, der sie töten wollte und mir meinen Ring gestohlen hat. Du erkennst ganz klar das zerbrochene Gesicht, welches zwischen den Augen vollständig aufgerissen ist. Sie hat bei dem Unfall ihr linkes Auge verloren. Ich wollte ihr dort eine Murmel einsetzen, habe aber noch nicht die passende gefunden“, seufzte die alte Frau.
„Sie sieht tatsächlich genauso aus wie Isabell“, stellte Eleonora fest. „Wo haben sie die beiden gekauft?“
„Nun, Kindchen, man kann die Mädchen nicht kaufen, man kann sie lediglich adoptieren. Mirabell habe ich schon seit ich selbst noch jung war. Ich habe sie in einem Antiquitätenladen hier in London gekauft. Der Händler meinte, sie sei ein absolutes Einzelstück aus Japan, ein echtes Unikat. Und vor einigen Jahren geschah das Unfassbare: Hier in London, am Rande des Gloomy Forest gab es einen Zirkus. Den Zirkus Magic. Ich ging jeden Sonntag in eine Vorstellung. Es gab Clowns, Artisten, wilde Tiere und eine Puppenspielerin. Ich habe die Shows geliebt. Doch dann ist der Zirkus pleite gegangen… Und die Besitzer veranstalten einen Flohmarkt. Ich habe viele Dinge dort gekauft, weil mich die Shows so begeistert hatten und mich so verzaubert hatten, ich wollte nie wieder ohne diesen Zirkus leben. Unter anderem habe ich auch eine Puppe gekauft. Isabell. Und sie sieht ganz genauso aus wie ihre Schwester, Mirabell. Und ich habe sie beide gefunden, hier in London. Oder besser gesagt, sie haben mich gefunden. Was für ein Zufall das war!“ Misses Greenwood hatte sich mittlerweile auf das Sofa gesetzt, sie saß da, mit einem Lächeln, versunken in ihre Geschichte. „Wie konnten Sie die beiden Puppen auseinanderhalten?“
„Nun, ich habe Isabell eine blaue Haarschleife ins Haar gebunden. Und Mirabell eine Rote. Nur so konnte ich sie all die Jahre unterscheiden. Doch nun ist es ein Kinderspiel, die beiden zu identifizieren. Mirabell hat ein Glasauge und ein gespaltenes Gesicht. Und Blut am Rücken.“
Blut am Rücken? Eleonora hob das kaputte Mädchen aus der Schatulle und drehte sie vorsichtig um. Das weiße Kleidchen war am Rücken dunkelrot.
Eleonora verzog angewidert das Gesicht und sah hilfesuchend zu Misses Greenwood. Sie nickte traurig. „Ja, mein Schätzchen hat sehr viel Blut verloren, als der Einbrecher hier war und ihr Gott weiß was antun wollte.“
Ein paar quälende Minuten der Stille verstrichen. Eleonora spürte den Ekel in sich aufsteigen, ihr Magen schien sich umzudrehen. Das hier war sicher alles nur Einbildung oder ein böser Albtraum. Gleich würde sie aufwachen und dann würde alles wieder gut werden.
„Die Wahrheit ist… Sie braucht eine neue Mami. Ich habe sieben Mädchen in meinem Schloss um die ich mich kümmern muss. Da bleibt keine Zeit mehr für ein Mädchen mit Behinderungen. Sie sieht kaum noch, kann ihren Kopf nicht bewegen. Ich habe sie in diese Schatulle gelegt, damit ihr nichts passiert. Eleonora, ich möchte, dass du sie an dich nimmst und dich um sie kümmerst“, Misses Greenwood lächelte.
Die Puppe mit nach Hause nehmen? Niemals, dachte Eleonora entschlossen. Unter keinen Umständen.
„Das ist wirklich sehr nett, Misses Greenwood, doch ich habe keine Zeit für … ein Baby“, stotterte Eleonora und versuchte ein Lächeln.
„Ich bestehe darauf, Eleonora! Es hat sich selten jemand so für die Mädchen interessiert wie du. Du wärst eine gute Mami für meine Mirabell. Nimm sie mit und kümmere dich um sie!“, Elisabeth Greenwood war laut geworden, ihr Ton streng. Sie war fest davon überzeugt, ihr die Puppe zu schenken. Eleonora nickte brav und zauberte ein künstliches Lächeln. Sie würde die Puppe einfach mitnehmen und zu Hause in den Keller räumen. Auf keinen Fall würde sie diese grauenvolle, kaputte Puppe mit Blut am Rücken und einer Murmel in der leeren Augenhöhle bei sich zu Hause aufs Sofa setzen und mit ihr Tee trinken.
Elisabeth Greenwood machte die Schatulle behutsam zu und überreichte sie feierlich der entsetzten Eleonora, die sich daraufhin verabschiedete und sich schon überlegte, die Puppe doch lieber gleich weg zu werfen.
Als Eleonora die Wohnungstüre hinter sich schloss, blieb sie erst einmal einen Moment im Hof stehen. Sie atmete tief durch, ihre Beine waren noch ein wenig zittrig. „Verrückte alte Hexe!“, murmelte sie. Ihr Blick wanderte durch den Red Side Hof, dessen Boden schon ganz schlammig war vom vielen Regen. Die große Uhr im Turm gongte laut und schallte durch die gesamten Mauern des Schlosses. Da wanderten Eleonoras Augen am Turm entlang. Dort gab es ein winziges Fenster. Eleonora musste genau hinsehen, sie erschrak, als sie dort einen Menschen entdeckte. Einen Mann. Sein Blick wanderte wachsam über den Hof, erspähte Eleonora und wich sofort vom Fenster zurück. Eleonora zuckte, überlegte nicht lang, nahm die Beine in die Hand und rannte augenblicklich auf den Turm zu. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War es ein gefangener Sohn? Oder stand da oben der Polizist Frank Harris, der doch noch ein paar Dinge überprüfte? Oder war es gar der Einbrecher, der nur auf seine nächste Chance von hier oben aus lauerte? Eleonora rannte die hölzerne Treppe nach oben, ganz nach oben. Irgendwo hier musste der Mann doch sein. Der Glockenschlag wurde lauter, Eleonoras Puls erhöhte sich, die Treppenstufen knarzten unter ihren Füßen, die sich schnell und zielsicher nach oben bewegten. Vorbei an dem Fenster, sie lief so schnell sie konnte. Keuchend kam sie oben an, genau in dem Moment, als die Glocke ihren letzten Gong läutete. Der Schall war ungeheuer laut und drang noch Sekunden später unangenehm in Eleonoras Ohren nach. Und da stand er, tatsächlich. Ein fremder Mann. Gut gebaut, mittlernen Alters. Er lehnte an der Turmmauer mit dem Gesicht zu Eleonora.
„Wir hatten schon lange keinen Besuch mehr hier auf Red Side“, meinte er, als der Gongschlag der Glocke vollständig verstummt war.
„Ich habe Misses Greenwood vor einigen Wochen kennen gelernt“, schnaufte Eleonora, brannte darauf, ihm unendlich viele Fragen zu stellen und so schoss es ihr zeitgleich mit dem Mann aus dem Mund: „Wer sind Sie?“ Der Mann schmunzelte. Sein Gesicht wirkte freundlich, braunes Haar, einen Dreitagebart.
„Richard Walker, der Sohn von Elisabeth Greenwood“, er tat ein paar Schritte auf die verdutzte Eleonora zu und reichte ihr höflich die Hand. Der Sohn? Eleonora konnte es nicht fassen. „Ich bin Eleonora Bianchi und ich habe unglaublich viele Fragen an Sie, Mister Walker“, antwortete sie und lehnte sich an die Mauer. Sie war immer noch völlig erschöpft.
„Nenn mich Richard, Eleonora. Und natürlich, du darfst mir gerne ein paar Fragen stellen. Das würden vermutlich gerne mehrere Leute tun“, zwinkerte er. „Doch vielleicht tun wir das irgendwo, wo es nicht ganz so ungemütlich ist.“
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Dieses Mal gab es im Cafe Fresh keine Cupcakes für Eleonora, sondern einen Teller mit Sandwiches und Pommes. Sie hatte unglaublichen Hunger, dieser Tag war schon viel zu lang, viel zu verrückt und viel zu anstrengend. Am Morgen hätte sie nie gedacht, dass sie am Nachmittag noch mit Richard Walker, dem Sohn von Misses Greenwood, der alten Red Side Hexe, ein paar Pommes im Cafe Fresh futtern würde. London steckte eben voller Überraschungen.
„Darf ich jetzt mit meinem Verhör beginnen?“, lachte Eleonora. Am liebsten hätte sie einen Notizblock herausgeholt und alles festgehalten und zusätzlich noch mit einem Diktiergerät aufgenommen. Die beiden hatten sich einen schönen Zweiertisch am Fenster gesucht.
„Du darfst. Aber für jede Frage die du mir stellst, darf ich auch etwas fragen“, meinte Richard und klaute sich Pommes von Eleonoras Teller. Er selbst hatte sich nur einen Kaffee bestellt.
„Das klingt fair“, Eleonora nickte und steckte sich ebenso Pommes in den Mund. „Also, meine erste Frage ist, wohnst du auf Red Side?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und schluckte seine Pommes runter. „Ich wohne schon seit vielen Jahren mit meiner Frau und meinen zwei Kindern und meinen zwei Katzen in einem schönen Apartment hier in London.“ Er lächelte, als er von seiner Familie erzählte.
Das war eine sehr mustergültige Antwort, fand Eleonora. Elisabeth Greenwood lebte wohl tatsächlich ganz alleine in ihrem riesigen Schloss. Naja, ganz alleine ist sie ja nicht, dachte Eleonora. Immerhin hat sie ja stets ihre Puppen bei sich.
„Ich bin dran“, grinste Richard sofort und wackelte mit den Augenbrauen. Auch er schien neugierig zu sein und hatte wohl schon einige Fragen parat, die er Eleonora stellen wollte. „Wieso warst du bei Mutter im Schloss? Du weißt hoffentlich, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?“, er verdrehte theatralisch die Augen. „Auf Red Side gibt es eigentlich nie Besucher.“
„Weiß ich“, kicherte Eleonora. „Aber ich habe von dem Einbruch erfahren. Und dass ein Ring geklaut wurde. Das hat mich neugierig gemacht“, erklärte Eleonora.
Richard nickte stumm. Passte es ihm nicht, dass Eleonora von dem Juwelenring wusste? Vorsichtig fuhr Eleonora fort: „Ich habe vor kurzem den Detective Frank Harris kennen gelernt… Es scheint mir, als ob er deine Mutter als verrückt abgestempelt hat und jetzt nichts mehr unternehmen will. Das finde ich nicht fair. Also bin ich selbst zum Schloss… Ich wollte einfach noch ein paar Dinge überprüfen, verstehst du?“ Eleonora hoffte, nicht zu aufdringlich zu klingen. Unsicher lächelte sie und malte mit einem Pommes Linien durchs Ketchup auf ihrem Teller.
Richard schien sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben. Entspannt zupfte er sein dunkelblaues Hemd zurecht. „Der Einbruch hat uns alle schockiert. Schon komisch, dass der Detective nichts weiter unternimmt. Der Ring ist schon seit mehreren Generationen in Familienbesitz… Ich hoffe sehr, dass er wieder auftaucht…“
„Das kann ich gut verstehen. Dieser Frank Harris kam mir sowieso schon die ganze Zeit komisch vor“, lachte Eleonora und zuckte die Schultern. Doch sie wollte nicht vom Wesentlichen abkommen, sie hatte noch so viele Fragen an diesen Richard Walker.
„Und wo leben deine Brüder? Und wie viele sind es?“, bohrte sie deshalb weiter. Gespannt legte sie ihr Sandwich auf den Teller. Sie brannte auf die Antwort. Ob die Gerüchte der sieben Söhne auf Red Side stimmten?
„Ich habe sechs Brüder. Ich bin der Älteste. Und sie sind alle ausgezogen von zu Hause. Manche leben in London, manche sind weiter weggezogen. Momentan ist mein Bruder Moby in der Gegend, er möchte Mama besuchen. Ich komme gelegentlich vorbei. Aber meine Besuche verringern sich. Es ist nicht schön, zu sehen, wie es mit Mutter bergab geht.“ An den Gerüchten schien also doch etwas Wahres dran zu sein. Es gab tatsächlich sieben Söhne, die Misses Greenwood hatte. Und Richard war der Älteste. Doch man erzählte sich, dass die anderen sechs Söhne in einem Gefängnis auf Red Side versteckt gehalten werden. Eleonora rümpfte die Nase. Diese Schauergeschichten waren doch bestimmt nur erfunden worden, um Elisabeth Greenwood zu verspotten. Eleonora beschloss, Richards Erzählungen zu glauben.
„Heute war ich nur kurz da, um mich zu vergewissern, dass sonst nichts von Red Side gestohlen wurde. Dass der Saphir Ring weg ist, ist schon ein Jammer. Das Ding ist so viel wert wie mein ganzes Apartment“, fuhr Richard fort und verzog den Mund. „Jetzt habe ich noch eine letzte Frage an dich, liebe Eleonora. Was schleppst du da mit dir rum?“ Er deutete auf die Schatulle. Die Schatulle, die mit Muscheln besetzt war und in der die grausige Mirabell lag. Eleonora schämte sich plötzlich sehr und hatte Angst, Richard die Wahrheit zu sagen. Ob sie lieber eine kleine Notlüge erfinden sollte, damit er sie nicht für gestört hielt? Eleonora holte tief Luft. Sie würde ihm die Wahrheit sagen. Immerhin war er auch ehrlich zu ihr und gab ihr alle Antworten, die sie wissen wollte. Richard war ein sympathischer Mann, der vertrauenswürdig zu sein schien.
„Deine Mama sammelt Puppen“, begann sie.
„Das weiß ich…“, Richard verzog das Gesicht. Er schien im Gegensatz zu seiner Mutter keine Leidenschaft für die Porzellanpuppen zu hegen.
„Wie viele hat sie denn mittlerweile?“, fragte Richard besorgt. Er schien die Sammlung seiner Mutter offensichtlich gar nicht zu unterstützen.
„Sieben. Eine hat sie immer mit dabei. Die, mit der blauen Schleife im Haar. Sie heißt Isabell. Sie sagt, es sei ihre Enkelin.“
„Ich weiß. Die hat sie schon sehr lange. Aber früher waren es nur zwei. Isabell und Mirabell.“
„Die Wahrheit ist… In der Schatulle da liegt Mirabell. Deine Mutter hat sie mir gegeben.“ Eleonora griff nach der Schatulle und legte sie auf den Tisch. Vorsichtig schob sie ihren Teller zur Seite, hob den Deckel der Schatulle. Vorsichtig warf Richard einen Blick hinein.
„Igitt! Die hat ja der Teufel geholt“, lachte er. Doch dann verfinsterte sich sein Gesicht. „Diese Puppen haben meine Mutter wahnsinnig gemacht. Ich möchte ehrlich zu dir sein, Eleonora… Ich habe manchmal das Gefühl, dass mit denen irgendwas nicht stimmt. Gruselig, oder?“, sein Ton klang besorgniserregend. Sein Blick schien sich nicht mehr von dem kleinen Mädchen lösen zu können. Ihr Blick war starr nach oben gerichtet. Ihr Lächeln eingefroren, die Haut kalt wie Eis. Die leere Augenhöhle schien unendlich tief ins Innere ihres Kopfes zu gehen. „Ich weiß genau, was du meinst. Deine Mama sagt, sie werden nachts lebendig.“ Eleonora schluckte.
„Na, dann würde ich die hier ganz schnell in den nächsten Müllcontainer schmeißen“, witzelte Richard und Eleonora musste mitlachen. Sie mochte Richards ironische, direkte Art und sie mochte es, dass er so offen und ehrlich mit ihr sprach. Eleonora legte vorsichtig den Deckel auf Mirabells Schatulle und ließ sie unter dem Esstisch verschwinden.
Richard nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee und sah auf seine protzige Armbanduhr. „So spät ist es schon? Liebste Eleonora, ich muss jetzt leider zu meiner Frau und zu meinen Kindern. Heute wollen wir nämlich einen Filmeabend machen und ich muss noch die Chips besorgen“, er stand auf und klaute sich noch ein Pommes vom Teller.
„Kein Problem, danke dass du dir so viel Zeit genommen hast“, lächelte Eleonora.
„Darf ich dich noch nach Hause bringen?“, fragte Richard. Eleonora sah aus dem Fenster. Draußen regnete es und es schien windig zu sein. „Das wäre nett“, antwortete sie deshalb. „Kein Problem. Und vergiss die Puppe nicht“, meinte Richard und deutete grinsend unter den Tisch.
Dann fuhr er Eleonora in seinem kleinen Sportwagen durch den Londoner Regen nach Hause zu ihrer Wohnung, wo bestimmt Lorenzo schon auf sie wartete.
„Liebste Eleonora, es war schön, dich kennen lernen zu dürfen. Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen passiert. Melde dich doch, wenn du mal wieder Lust hast, jemanden auszuquetschen“, zwinkerte er und gab ihr seine Visitenkarte.
„Das mache ich bestimmt“, lachte Eleonora und stieg aus. Richard war ein richtiger Charmeur. Nicht zu aufdringlich, dennoch aufmerksam. Sie blieb so lange im Regen stehen, bis die roten Lichter des Sportwagens in der Dunkelheit verschwunden waren.
Eleonora trottete die vielen Stufen nach oben in ihre Wohnung. Sie hatte den ganzen Nachmittag über im Cafe Fresh vergessen, dass sich in ihrer Manteltasche noch das Küchenmesser befand. Das Küchenmesser, und noch etwas. Der Schlüssel aus Misses Greenwoods Schlafzimmer, dessen Zugehörigkeit noch ein Geheimnis seiner Eigentümerin war. Die Wohnung war noch leer, Lorenzo war wie so oft noch nicht zu Hause. Eleonora war genervt. Bis er die Wohnung betreten würde, war sie vermutlich schon längst im Bett und schlief. Den mysteriösen Schlüssel würde sie erst einmal in der Manteltasche lassen. Lorenzo musste immerhin nicht alles wissen.
„Und nun zu dir, Mirabell“, meinte Eleonora angeekelt und nahm die Schatulle. Wo sollte sie die nur hintun? In den Keller wollte sie jetzt auch nicht mehr, es war schon spät und es war dunkel. Dort unten gab es meist kein Licht und von dunklen Räumen hatte sie nach dem heutigen Tag wirklich mehr als genug. Sie ging ins Schlafzimmer und hob die Schatulle auf den Schrank. Lorenzo sollte nichts von der Puppe erfahren. Sie würde sie gleich morgen in den Keller hinunterbringen.
Nach einer heißen Dusche, unter der Eleonora all die Geschehnisse des Tages noch einmal revue passieren ließ, schlüpfte sie todmüde ins Bett. Alleine, wie so oft. Er hätte wenigstens anrufen können. Oder eine kurze Nachricht schreiben können, dachte Eleonora wütend. Ihr Blick wanderte durch das Schlafzimmer. Immer, wenn Eleonora alleine einschlafen musste, zündete sie zuvor ein paar Kerzen an. Denn wenn es ganz dunkel war, konnte sie nicht einschlafen. Sie beobachtete die flackernden Lichter, die beruhigend warm zu ihr herüber schienen. Ihr Blick fiel auf die Schneiderpuppe, die neben der Tür stand. Diese war aktuell stolzer Träger ihres Hochzeitskleides. Es war so schön. Es war strahlend weiß und im sanften Kerzenlicht schimmerten die vielen kleinen Swarowski-Steinchen noch mehr als bei Tageslicht. Dann sah sie auf den Schrank hinauf zur Schatulle. Da lag also eine Puppe oben. Mirabell. Eingebettet wie in einem Sarg. Warum nur war ihr das so unangenehm? Eleonora drehte sich von einer Seite auf die andere. Was, wenn dieses Ding wirklich nachts auf eine gewisse Art und Weise lebendig wurde? Nein, völliger Unsinn.
„Mio dio! Jetzt reiß dich mal zusammen!“, schimpfte Eleonora sich selbst.
Hoffentlich würde Lorenzo bald nach Hause kommen. Bald würde er da sein und sich neben sie legen und auf sie aufpassen.
Nein, Eleonora konnte nicht einschlafen. Sie stand auf, knipste das Licht an und holte diese verdammte Schatulle vom Schrank. Aus dem Wohnzimmer holte sie schnell dickes, stabiles Paketband. Sie umwickelte die gesamte Schatulle damit, als wäre eine Bombe darin. Kreuz und quer, Hauptsache sie war irgendwie verschlossen.
„Principessa?“, hörte sie da Lorenzo rufen. „Eleonora? Bist du zu Hause?“
Mist. Er kam jetzt wirklich zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
„Im Schlafzimmer!“, rief sie und schob die verschlossene Schatulle in ihrer Not schnell unter Lorenzos Bett. Gerade noch rechtzeitig, denn Lorenzo kam gerade ins Schlafzimmer gestiefelt.
„Wie war dein Tag? Bist du in dem Schloss gewesen?“, fragte er und ließ sich aufs Bett plumpsen.
„Ja, ich bin im Schloss gewesen“, antwortete Eleonora und setzte sich auf seinen Schoß. Hoffentlich würde er keine weiteren Fragen stellen. Ihm würde es weder gefallen, dass sie eine entstellte Puppe mit nach Hause gebracht und unter dem Ehebett versteckt hatte, noch dass sie den Nachmittag im Cafe Fresh mit Richard Walker, einem fremden, attraktiven Mann verbracht hatte. Lorenzo war ein sehr liebevoller Mensch, kümmerte sich stets um alles, worum ihn seine Prinzessin bat und hatte einen wirklich gutmütigen Charakter. Doch er konnte sehr besitzergreifend sein, sehr stur und wenn es um Eleonora ging, die sich in ein gefährliches Abenteuer ritt, würde er keinerlei Verständnis zeigen können. Das junge Paar war sehr temperamentvoll, beide konnten sehr dickköpfig sein, und wenn es zwischen den beiden mal zum Streit kam, dann flogen die Fetzen so richtig. Eleonora strich ihrem Verlobten durch die schwarzen, dichten Haare.
„Wie war die Arbeit?“, fragte sie, um ihn davon abzuhalten, weiter nach ihrem Tag zu fragen.
Lorenzo lag am Morgen noch im Bett, als seine Prinzessin schon am Herd stand und Spiegeleier briet. Sie sah müde auf die Uhr. Fünf Uhr morgens. Sie wollte ein richtig schönes Frühstück für ihren Schatz zaubern, und ausgiebig mit ihm frühstücken. Er fehlte ihr so, nie hatte er Zeit. Und wenn er eben abends keine Zeit mehr für ein gemeinsames Essen hatte, dann würde er sich ab sofort in aller Früh mit ihr an einen Tisch setzen müssen und mit ihr frühstücken müssen. Und wenn das bedeutete, sie musste um fünf Uhr morgens aufstehen. Außerdem war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, und heute war es besonders wichtig, gut gestärkt in den Tag zu starten. Lorenzo hatte eine Konferenz und auch Eleonora hatte Pläne: Heute würde sie endlich beginnen, ihr Buch zu schreiben. Sie hatte von der Greenwood so viele Informationen bekommen, und Richard Walker hatte ihr gestern die noch fehlenden Puzzleteile auf einem Silbertablett serviert. Sie musste sich nur noch an ihren Bürotisch setzen und starten.
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