Kitabı oku: «Rot und Schwarz», sayfa 9
Julian meldete sich beim Pfarrer Chélan, der ihm eine tüchtige Strafpredigt hielt und ihm eine Soutane und ein Chorhemd einhändigte. Er machte sich rasch zurecht und folgte Chélan zum Bischof von *******, dem jugendlichen Kardinal von Rohan. Der Monsignore war ein Neffe des Marquis von La Mole, ehedem napoleonischer Offizier und noch nicht lange in seinem Amte.
Der Bischof, der damit betraut war, Seiner Majestät die Reliquie zu zeigen, war aber nicht zu finden. Der Klerus ward unruhig. Man erwartete das Oberhaupt in dem düstern gotischen Kreuzgang der alten Abtei. Vierundzwanzig Geistliche waren vereint, um das ehemalige Domkapitel von Hohen-Bray darzustellen, das bis Anno 1789 aus vierundzwanzig Domherren bestanden hatte. Nachdem sie drei Viertelstunden lang ein Klagelied über die Jugendlichkeit des Bischofs angestimmt hatten, hielt man es für angebracht, den Dekan zu Seiner Eminenz zu schicken und ihm zu vermelden, dass Seine Majestät jeden Augenblick kommen müsse und es Zeit sei, sich in das Chor zu begeben. Chélan war seines hohen Alters wegen Dekan. Trotz seiner Verstimmung über Julian gab er ihm einen Wink, dass er ihm folge. Julian stand das Chorhemd vorzüglich. Unter Anwendung eines geistlichen Toilettengeheimnisses hatte er sich sein schönes welliges Haar ganz glatt gebürstet, indessen vergessen, die Sporen abzulegen, die unter den langen Falten seines Chorhemdes hervorblinkten, was den Zorn Chélans verdoppelte.
Im Vorzimmer des Bischofs angelangt, gab einer der baumlangen, in ihren Galaröcken herumstehenden Lakaien ziemlich ungnädig die Auskunft, Eminenz sei nicht zu sprechen. Als ihm der alte Pfarrer begreiflich zu machen begann, als Dekan des hochedlen Kapitels von Hohen-Bray habe er das Vorrecht, jederzeit Zutritt zum amtierenden Bischof zu verlangen, da lachte man ihn aus.
In seiner Stimmung war Julian über die Frechheit der Lakaien empört. Er durchschritt die einstigen Schlafsäle der Abtei und rüttelte an allen Türen, an denen er vorbeikam. Eine kleine Pforte sprang auf, und Julian stand in einer Zelle mitten unter einer Schar von bischöflichen Kammerdienern in schwarzer Livree, mit Ketten um den Hals. Da er so ungestüm eintrat, glaubten die Leute, er sei zu Monsignore befohlen und ließen ihn durch. Nach ein paar Schritten befand er sich in einem riesigen, überaus düsteren gotischen Saale, dessen Wände und Decke mit dunklem Eichenholz getäfelt waren. Die Spitzbogenfenster waren mit Ausnahme eines einzigen mit Ziegelsteinen vermauert. Dies rohe Werk bildete einen trübseligen Gegensatz zu dem prächtigen alten Getäfel. An den beiden Langseiten des Saales standen Reihen von reich geschnitzten Chorstühlen, auf denen man in buntem Holzmosaik sämtliche Mysterien der Apokalypse sehen konnte. Der Saal war unter den burgundischen Altertümern berühmt. Karl der Kühne hatte ihn um 1470 als Buße für irgendeine Sünde erbaut.
Der wehmütige Prunk dieses durch die nackten Ziegelsteine und ihren grellen Mörtel geschändeten weiten Raumes ergriff Julian. Stumm blieb er stehen. Mit einem Mal erblickte er am jenseitigen Ende des Saales, nahe dem einzigen unvermauerten Fenster, durch das helles Tageslicht fiel, einen drehbaren Spiegel in einem Mahagonirahmen. Drei Schritte davor stand ein junger Mann in violettem Messgewand und einem Chorrock mit Spitzen, ohne Kopfbedeckung. Der Spiegel gehörte offenbar nicht an diesen frommen Ort; zweifellos war er aus der Stadt hergeholt. Julian hatte den Eindruck, dass der junge Mann ein grämliches Gesicht machte. Eben erteilte er, mit der Rechten nach dem Spiegel, würdevoll seinen Segen.
Was soll das wohl bedeuten? dachte Julian. Hält der junge Geistliche da ein Art Generalprobe? Vielleicht ist es der Sekretär des Bischofs … ebenso unverschämt wie die Lakaien … meinetwegen … wir werden ja gleich sehen …
Er ging weiter, ziemlich langsam, und durchquerte den Saal seiner Länge nach, den Blick dem hellen Fenster zugewandt. Er sah, wie der junge Mann immer wieder seinen Segen spendete, gemächlich, aber in einem fort, ohne sich einen Augenblick Rast zu gönnen.
Je näher Julian an ihn herankam, umso deutlicher erkannte er den griesgrämlichen Ausdruck seines Gesichts. Wenige Schritte vor dem Spiegel blieb Julian unwillkürlich stehen, betroffen über die prunkhaften Spitzen am Chorrocke des jungen Priesters.
»Es ist meine Pflicht, ihn anzureden«, sagte sich Julian schließlich. Aber die Schönheit des Saales hatte es ihm angetan, und darum empfand er im Voraus die Hässlichkeit der groben Worte, die er wohl als Antwort zu erwarten hatte. Da erblickte ihn der junge Mann im Spiegel und kehrte sich nach ihm um. Seine griesgrämliche Miene war mit einem Mal verschwunden. Im verbindlichsten Tone sagte er: »Nun, Verehrtester, ist sie endlich fertig?«
Julian war starr. Da sich der junge Mann umgewandt hatte, sah er das Bischofskreuz auf seiner Brust. Das war also der Bischof! »In der Tat: sehr jung!« sagte er sich. »Er ist höchstens sechs bis acht Jahre älter als ich.«
Jetzt schämte sich Julian seiner Sporen.
»Eure Eminenz«, begann er schüchtern, »der Herr Dekan des Kapitels, Herr Chélan, schickt mich …«
»Aha! Ein ausgezeichneter Mann, wie man mir gesagt hat«, erwiderte der Bischof in so überaus höflicher Weise, dass Julians Entzücken noch wuchs. »Aber entschuldigen Sie nur, Herr Abbé, ich hielt Sie versehentlich für die Person, die mir meine Mitra bringen soll. Man hat sie mir in Paris schlecht verpackt. Der Silberbrokat an der Spitze war schrecklich zerknüllt. Sie wird übel aussehen – und nun muss ich auch noch warten.«
»Monsignore«, sagte Julian, »wenn Eure Eminenz es gestatten, werde ich die Mitra holen.«
Julians schöne Augen taten das ihre.
»Tun Sie es, Herr Abbé!« antwortete der Bischof voll liebenswürdiger Artigkeit. »Ich muss sie sofort haben. Ich bin untröstlich, dass ich die Herren vom Kapitel warten lasse.«
Als Julian in der Mitte des Saales war, drehte er sich nach dem Bischof um und sah, dass er wieder beim Segnen war. »Was soll das?« fragte er sich. »Ohne Zweifel ist das eine Vorbereitung für die in Aussicht stehende Feierlichkeit.«
Beim Eintritt in die Zelle, in der sich die Diener aufhielten, bemerkte er die Mitra in ihren Händen. Widerwillig fügten sie sich dem Herrenblicke Julians und reichten ihm die Bischofsmütze.
Julian war stolz, dass er sie bringen durfte. Als er den Saal wieder durchquerte, ging er ganz langsam. Er trug sie voll frommer Scheu. Der Bischof hatte sich gesetzt, und zwar vor den Spiegel. Seine Rechte war müde geworden, aber hin und wieder teilte sie immer noch den Segen aus. Julian half ihm die Mitra aufsetzen. Sodann schüttelte der Bischof mehrmals mit dem Kopfe.
»So! Jetzt sitzt sie!« meinte er in zufriedenem Ton zu Julian. »Wollen Sie einmal ein wenig zur Seite gehen?«
Mit raschen Schritten ging er in die Mitte des Saales. Dann schritt er langsamen Ganges wieder auf den Spiegel zu, zog sein grämliches Gesicht von vorhin und erteilte würdevoll den Segen.
Julian rührte sich nicht vor Staunen. Er ahnte den Sinn des Vorganges, traute aber seiner Vermutung nicht recht. Der Bischof blieb stehen und schaute ihn an. Sein Gesicht verlor rasch den Ausdruck der Würde.
»Was sagen Sie zu meiner Mitra?« fragte er Julian. »Sitzt sie gut?«
»Sehr gut, Monsignore!«
»Sitzt sie nicht zu weit nach hinten? Das sähe töricht aus. Hinwiederum darf man sie auch nicht zu tief ins Gesicht drücken wie einen Offizierstschako.«
»Meiner Meinung nach sitzt sie vorzüglich!« wiederholte Julian.
»Majestät ist ehrwürdige und unbedingt ernste Geistliche gewöhnt. Ich möchte nicht kokett aussehen; gerade, weil ich jung bin, nicht.«
Dabei setzte sich der Kirchenfürst von neuem in Bewegung, wiederum Segen spendend.
»Es ist klar«, sagte sich Julian, der endlich zu verstehen wagte. »Er übt sich im Segnen.«
Nach einigen Augenblicken erklärte der Bischof: »Ich bin fertig. Gehen Sie voran, Herr Abbé, und geben Sie dem Herrn Dekan und den Herren vom Kapitel Bescheid!«
Alsbald trat der alte Chélan, gefolgt von den beiden nächstältesten Pfarrern, durch eine große, prächtig geschnitzte Pforte ein, die Julian bisher nicht bemerkt hatte. Seinem Rang entsprechend schloss er sich dem in den Saal dringenden Schwarm der Geistlichkeit als Allerletzter an und konnte den Bischof nur noch über die Schultern der andern sehen.
Der Bischof schritt ihnen langsam entgegen. Jetzt traten die Geistlichen zur Prozession an. Einen Augenblick lief alles durcheinander. Dann setzte sich der Zug unter Anstimmung eines Psalms in Bewegung. Der Bischof, zwischen dem Pfarrer Chélan und einem andern älteren Geistlichen, folgte dem Klerus. Dicht hinter dem Bischof schritt Julian als Subdiakon Chélans. Der Zug ging durch die langen Gänge der Abtei, die trotz des einfallenden Sonnenscheins düster und dumpfig waren. Endlich erreichte man die Vorhalle des Kreuzgangs.
Julian war tief ergriffen von der schönen Feier. Sein angesichts des jugendlichen Kirchenfürsten von neuem lodernder fantastischer Ehrgeiz und das feine vornehme Wesen des Kardinals stritten sich um sein Herz. Solche Urbanität war doch etwas andres als die Leutseligkeit des Herrn von Rênal, selbst wenn er seinen guten Tag hat. »Je höher man die Stufenleiter der Gesellschaft emporsteigt, desto mehr findet man so entzückende Manieren«, sagte sich Julian.
Die Prozession zog durch ein Seitenportal in die Kirche. Plötzlich durchhallte das altertümliche Gewölbe ein fürchterlicher Lärm. Julian wähnte, es stürze ein. Wiederum war es die alte Kanone, die draußen, von acht Pferden gezogen, eben im Galopp in Stellung gegangen war und auch schon durch die Kanoniere von Leipzig abgeprotzt worden war. Sie gab ihre fünf Schuss in der Minute ab, als stünden drüben die Preußen.
Der wunderschöne Salutdonner machte aber keinen Eindruck mehr auf Julian. Napoleon und Soldatenruhm waren vergessen. »So jung!« schwärmte er. »Und schon Bischof von *******! Was mag ihm die Stelle einbringen? Wohl zwei- oder dreimal hunderttausend Franken!«
Die Lakaien des Bischofs erschienen mit einem prachtvollen Thronhimmel. Der Pfarrer Chélan ergriff eine der Tragestangen, aber in Wahrheit war Julian der Träger. Der Bischof stellte sich darunter. Es war ihm wirklich gelungen, alt auszusehen. Julians Bewunderung kannte keine Grenzen mehr. Was bringt man mit Geschicklichkeit nicht alles fertig! dachte er.
Der König trat ein. Julian hatte das Glück, ihn ganz aus der Nähe betrachten zu können. Der Kirchenfürst hielt eine weihevolle Ansprache, wobei er nicht vergaß, einen Anflug ehrfürchtiger Befangenheit vor der Majestät zu simulieren. Aus der Rede des Bischofs erfuhr Julian unter anderem, dass der König von Karl dem Kühnen abstammte.
Eine genaue Schilderung der Hohen-Brayer Feierlichkeit ist nicht vonnöten. Vierzehn Tage lang waren die Spalten der sämtlichen Provinzzeitungen voll davon. Julian hatte später die Kostenberechnung des ganzen Empfanges aufzustellen. Der Marquis von La Mole, der seinem Neffen das Bistum verschafft hatte, erwies ihm obendrein die Höflichkeit, sämtliche Kosten der kirchlichen Zeremonie zu bestreiten, die allein dreitausendachthundert Franken betrugen.
Nach der Rede des Bischofs und den Erwiderungsworten des Königs trat Seine Majestät unter den Thronhimmel und kniete andachtsvoll auf einem Kissen nahe dem Altar nieder. Rings im Chor standen Lehnstühle, zwei Stufen über den Steinfliesen. Auf der untersten Stufe nahm Julian Platz, zu Chélans Füßen, wie in der Sixtinischen Kapelle in Rom die Schleppenträger der Kardinale. Das Tedeum begann. Qualmende Weihrauchfässer wurden geschwenkt. Und draußen donnerten schier endlose Kanonen- und Flintenschüsse. Die Bauern waren trunken vor Frömmigkeit und Überschwang. Ein solcher Tag macht die Wühlerei von hundert Nummern der sozialistischen Zeitungen zunichte.
Julian stand sechs Schritte vom König entfernt, der wirklich mit Andacht betete. Zum ersten Mal fiel sein Blick auf einen kleinen Herrn mit klugen Augen, dessen Rock beinahe unbestickt war. Als einzigen Schmuck trug er ein breites himmelblaues Ordensband über der Brust. Der so einfach Gekleidete stand näher bei Seiner Majestät als die meisten andern Herren, deren Röcke derart von Gold strotzten, dass Julian kaum das Tuch zu erblicken vermeinte. Ein paar Augenblicke später erfuhr er, dass dies Herr von La Mole war. Es schien ihm, als habe der Marquis ein hochmütiges, fast arrogantes Aussehen.
»Dieser Grandseigneur«, dachte Julian, »ist gewiss nicht so urban wie mein koketter Bischof. Ja, der geistliche Stand macht mild und weise … Der König ist doch gekommen, um die Reliquie anzubeten. Ich sehe aber keine. Wo steckt denn der heilige Clemens?«
Sein Nachbar, ein Chorknabe, belehrte ihn, dass sich die heilige Reliquie in einem erleuchteten Katafalk befände, in einem höher gelegenen Räume des Gebäudes.
»Was ist das«, fragte sich Julian, »ein erleuchteter Katafalk?« Er mochte nicht danach fragen; nur seine Neugier ward umso größer.
Wenn ein regierender Fürst eine Reliquie besucht, so will es die Etikette, dass die Geistlichen den Bischof nicht begleiten. Als man sich nach dem Katafalk zu gehen anschickte, winkte der Bischof demungeachtet den alten Chélan heran. Julian wagte sich anzuschließen.
Es ging eine lange Treppe hinauf, bis man vor eine auffallend kleine Tür gelangte, deren gotischer Zierrat prunkvoll vergoldet war. Die Vergoldung war offenbar neu. An dieser Tür knieten vierundzwanzig junge Mädchen aus den besten Familien von Verrières. Ehe der Bischof durch die Tür schritt, kniete er mitten unter den Jungfrauen nieder. Es waren lauter hübsche Mädchen. Während er mit lauter Stimme betete, bewunderten sie seine schönen Spitzen, sein zierliches Wesen und sein jugendliches, sanftes Gesicht immer wieder von neuem. Vor dieser Szene verlor Julian den Rest seines Verstandes. In diesem Augenblick hätte er sich mit voller Überzeugung für die Inquisition geschlagen.
Plötzlich tat sich die kleine Pforte auf. Eine Flut von Licht drang aus der kleinen Kapelle. Drinnen auf dem Altar brannten mehr denn tausend Kerzen, zu acht Reihen geordnet; dazwischen standen Blumensträuße. Der süße Duft reinsten Weihrauchs drang aus dem Heiligtum. Die Kapelle, deren Vergoldung man erneuert hatte, war ziemlich klein, aber hoch. Julian schätzte die Kerzen auf dem Altar höher als zwei Meter. Die jungen Mädchen wurden zu einem Schrei der Bewunderung hingerissen. Außer den vierundzwanzig Jungfrauen befanden sich im Vorraum der Kapelle nur die beiden Priester und ihr Gefolgsmann.
Alsbald erschien Seine Majestät, nur vom Marquis von La Mole und seinem Oberhofmarschall begleitet. Alle andern, selbst die Ehrenwache unter präsentiertem Gewehr, blieben draußen auf den Knien.
Der König sank, oder vielmehr er stürzte in den Betstuhl. In diesem Moment erblickte Julian, der dicht an der goldnen Pforte kniete, über den bloßen Arm eines der jungen Mädchen hinweg den schimmernden Leib des heiligen Clemens. In der Tracht eines jungen römischen Kriegers lag er unter dem Altar. Am Hals hatte er eine weite Wunde, aus der Blut zu tropfen schien. Der Verfertiger der Statue war ein großer Realist. Die halbgeschlossenen, brechenden Augen des Heiligen leuchteten in überirdischem Glanz, ein keimendes Bärtchen schmückte seinen schönen Mund, der, ein wenig geöffnet, aussah, als flüstere er ein letztes Gebet. Bei diesem Anblick begann eine der Jungfrauen, Julians Nachbarin, zu weinen, und eine ihrer Tränen fiel ihm auf die Hand.
Einen Augenblick betete alles in tiefstem Schweigen, das nur durch das ferne Glockengeläut aus allen Dörfern in der Runde unterbrochen wurde. Danach bat der Bischof den König, seine Predigt beginnen zu dürfen. Es war eine kurze, sehr rührsame Rede, die mit ein paar schlichten Worten schloss, die starken Eindruck machten.
»Junge Christinnen, vergesst nie, dass ihr einen der größten Könige der Erde vor einem Diener Gottes des Allmächtigen auf den Knien erblickt habt, vor einem jener schwachen Diener des Herrn, die hienieden verfolgt und gemordet worden, jetzt aber triumphierend an Gottes Thron sitzen. Einer von ihnen ist der heilige Clemens, dessen Wunde ihr hier bluten seht! Gelobt mir, meine jungen Christinnen, nie in eurem Leben dieses Tages zu vergessen! Ihr werdet den Unglauben verabscheuen und immerdar treu bleiben dem Herrn, dessen Rache so fürchterlich und dessen Güte so groß ist.«
Der Bischof richtete sich würdevoll auf.
»Nicht wahr, ihr gelobt es mir?« fuhr er fort, indem er die Rechte erhob und wie in gottseliger Weihe ausstreckte.
»Wir geloben es!« lispelten die jungen Mädchen, in Tränen zerfließend.
»Im Namen Gottes des Herrn«, schloss der Prälat mit Donnerstimme, »nehme ich euer Gelübde an.«
Damit war die Feierlichkeit zu Ende. Selbst der König weinte.
Erst lange nachher kam Julian soweit zur Besinnung, dass er sich erkundigte, wo denn eigentlich die Gebeine wären, die Philipp der Großmütige, Herzog von Burgund, aus Rom mitgebracht hatte. Man sagte ihm, sie seien in der schönen Wachsfigur eingeschlossen.
Seine Majestät geruhte, den jungen Mädchen, die ihn in die Kapelle begleitet hatten, das Tragen eines roten Bandes mit der eingestickten Devise:
Hass dem Unglauben in ewiger Anbetung!
allergnädigst zu erlauben
Der Marquis von La Mole ließ zehntausend Flaschen Wein unter die Bauern verteilen. Die Liberalen benutzten den Anlass, abends hundertmal schöner zu illuminieren als die Royalisten. Vor seiner Abfahrt stattete der König Herrn von Moirod einen Besuch ab.
19. Kapitel
Als sich Julian in dem Zimmer umsah, das der Marquis von La Mole innegehabt hatte, fand er einen viermal gebrochenen Bogen starken Kanzleipapiers, auf dessen erster Seite folgendes zu lesen war:
An den
Kammerherrn Seiner Majestät des Königs, Pair von Frankreich,
Ritter höchster Orden,
Herrn Marquis von La Mole,
Exzellenz.
Es war ein Bittgesuch in ungelenker Köchinnenhandschrift:
Hochwohlgeborener Herr Marquis!
Ich habe mein Leben lang religiöse Grundsätze gehabt, ich war in Laon zur Zeit der Belagerung, 1793 schrecklichen Angedenkens, unter den Bomben der Jakobiner. Ich gehe zur Kommunion und jeden Sonntag zur Messe in die Pfarrkirche. Ich habe nie meine Osterpflicht versäumt, selbst nicht im Jahre 1793 schrecklichen Angedenkens. Meine Köchin, nur vor der Revolution hielt ich mir Diener, meine Köchin kocht jeden Freitag Fastenspeisen. Ich erfreue mich in Verrières der allgemeinen und, ich darf wohl sagen; verdienten Achtung. Ich gehe bei Prozessionen unter dem Baldachin, neben Herrn Pfarrer und neben Herrn Bürgermeister. Ich trage an den hoben Festen eine große Kerze auf meine eigenen Kosten. Über alles das liegen amtlich beglaubigte Bescheinigungen in Paris im Königlichen Ministerium des Innern. Eure Exzellenz bitte ich untertänigst um die Lotteriekollektion zu Verrières, die auf die oder jene Weise demnächst frei werden dürfte, da der jetzige Inhaber sehr krank ist und überdies bei den Wahlen schlecht stimmt … usw.
Eurer Exzellenz alleruntertänigsterCholin.
Auf der freien Hälfte der Bittschrift stand, von Moirod unterzeichnet, folgende Befürwortung:
Eurer Exzellenz beehre ich mich im Anschluss an das gestern mündlich Vorgebrachte den Gesuchsteller nochmals als guten Untertanen ganz gehorsamst zu empfehlen … usw.
Nachdenklich sagte sich Julian: »Also, sogar ein Schwachkopf wie dieser Cholin zeigt einem, wie man es machen muss!«
Noch acht Tage nach der Durchreise des Königs hielt in Verrières eine Tatsache alle Gemüter mehr in Spannung als die unzähligen Lügen, einfältigen Auslegungen und lächerlichen Erörterungen, die der Reihe nach dem Landesherrn, dem Bischof von *******, dem Marquis von La Mole, den zehntausend Flaschen Wein und dem Herunterfall des armen Moirod gewidmet wurden. (Letzterer ließ sich übrigens erst vier Wochen nach seinem Malheur wieder vor der Öffentlichkeit blicken.) Dies war die unerhörte Taktlosigkeit, dass Julian Sorel, der Müllerssohn, in die Ehrenwache hineinbugsiert worden war. Über dieses Thema musste man die reichen Bunte-Leinwand-Fabrikanten hören, die sich von früh bis abends im Kaffeehaus über die soziale Gleichheit heiser redeten. Da hieß es, die eingebildete Frau Bürgermeister sei die Anstifterin dieser Schandtat. In den schönen Augen und den roten Backen des Herrn Hauslehrers habe man den nötigen Kommentar.
Kurz nach der Rückkehr nach Vergy bekam Stanislaus-Xaver, der jüngste Knabe, Fieber. Frau von Rênal ward von grässlichen Gewissensbissen befallen. Zum ersten Mal machte sie sich ob ihrer Liebe alle möglichen Vorwürfe. Wie durch ein Wunder gingen ihr plötzlich die Augen auf. Sie erkannte die ganze Größe der Schuld, zu der sie sich hatte verführen lassen. Trotz ihrer tiefen Religiosität war es ihr bisher nicht zum Bewusstsein gekommen, dass sie vor Gott ungeheuerlich gesündigt hatte.
Einstmals, im Herz-Jesu-Kloster, hatte sie Gott inbrünstig geliebt. Jetzt empfand sie im gleichen Maße Furcht vor ihm. Die Kämpfe, die in ihrer Seele entbrannten, waren umso schrecklicher, als sie vor Angst der Vernunft kein Gehör schenkte. Julian sah, dass er die arme Frau nicht beruhigte, sondern nur quälte, wenn er ihr vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes zuredete. Seine Worte klangen ihr wie Einflüsterungen der Hölle.
Da Julian den kleinen Stanislaus in sein Herz geschlossen hatte, so sprach er selber schließlich in einem fort von der Krankheit, die mehr und mehr einen ernsten Charakter annahm. Die fortwährende Gewissenspein brachte die Mutter um jedweden Schlaf. Sie wurde schweigsam und grüblerisch. Hätte sie den Mund aufgetan, so wäre es nur gewesen, um sich vor Gott und den Menschen anzuklagen.
»Ich beschwöre dich«, bat Julian, sobald sie allein waren, »sprich zu niemandem! Lass mich den einzigen Vertrauten deines Leids sein! Wenn du mich noch liebhast, dann rede nicht! Geständnisse machen unsern Stanislaus nicht fieberfrei.«
Sein Zuspruch hatte keine Wirkung. Allerdings wusste Julian nicht, dass sich Frau von Rênal in den Kopf gesetzt hatte, der eifersüchtige Herrgott fordere in seinem Zorne, dass sie entweder den Geliebten hasse oder ihren Sohn durch den Tod verliere. Julian hassen, das war ihr unmöglich. Und deshalb war sie so namenlos unglücklich.
»Geh von mir! Fliehe!« flüsterte sie ihm einmal zu. »Im Namen Gottes, verlass mein Haus! Deine Gegenwart mordet mein Kind!« Und dumpf setzte sie hinzu: »Der Allmächtige straft mich. Und mit Recht. Ich bete seine Gerechtigkeit an. Meine Sünde ist zu schändlich. Nicht einmal Reue empfand ich. Ein Beweis, dass ich bereits von Gott verlassen war. Nun muss ich doppelt büßen.«
Julian war tiefgerührt. Er vermochte in ihren Selbstvorwürfen weder Heuchelei noch Übertreibung zu erkennen. »Sie ist des Glaubens«, sagte er sich, »ihren Sohn zu morden, wenn sie mich liebt. Und doch liebt mich die Unglückselige mehr als ihren eigenen Sohn. Ich darf nicht zweifeln: die Reue tötet sie. Wahrlich, das ist Gefühlsgröße! Wunderbar, dass ich armer, ungeschliffener, dummer, mitunter roher Bauernjunge eine solche Liebe zu erwecken fähig war!«
Eines Nachts stand es mit dem Kinde besonders schlimm. Gegen zwei Uhr kam Herr von Rênal, um nach ihm zu sehen. Der Knabe lag in hohem Fieber, sah scharlachrot aus und erkannte den Vater nicht. Da warf sich Frau von Rênal ihrem Manne plötzlich zu Füßen. Julian, der mit bei dem Kinde wachte, sah sofort, dass sie alles gestehen wollte: zu ihrem ewigen Verderben. Zum Glück missfiel dem Hausherrn dies seltsame Gebaren.
»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« sagte er und schickte sich an zu gehen.
»Ach, höre mich doch an!« rief sie, noch immer auf den Knien.
»Du sollst alles wahrheitsgetreu erfahren. Ich bin die Mörderin deines Sohnes! Ich, die ich ihm das Leben gegeben, ich nehme es ihm. Das ist die Strafe des Himmels. Vor Gott bin ich Mörderin. Ich muss mich selber verderben und demütigen. Vielleicht macht diese Sühne den lieben Gott gnädig …«
Hätte Herr von Rênal genug Einbildungskraft besessen, so hätte er den Sinn dieser Worte verstanden.
»Überspannter Blödsinn!« brummte er und wehrte seine Frau ab, die seine Knie zu umarmen suchte. »Überspannter Blödsinn! Genug! Julian, lassen Sie bei Tagesanbruch den Doktor holen!«
Damit entfernte er sich, um sich wieder zu Bett zu legen. Julian versuchte Frau von Rênal aufzurichten. Halb von Sinnen, fiel sie von neuem auf die Knie und stieß ihn mit einer krampfhaften Bewegung von sich.
Julian stand voll Erstaunen da.
»So ist also der Ehebruch!« dachte er bei sich. »Am Ende haben die Pfaffen, diese Halunken, die selber die größten Sünder sind, das Vorrecht, das innere Triebwerk der Sünde am besten zu kennen? Seltsam!«
Herr von Rênal war schon eine Viertelstunde aus dem Zimmer, und noch immer sah Julian die geliebte Frau, ihr Haupt an das Bett des Kindes gelehnt, unbeweglich und ohne rechte Besinnung auf dem Teppich liegen. »Das ist keine Durchschnittsfrau, die zugrunde gehen will, weil sie Ehebrecherin ist!« sagte er sich.
Eine Stunde nach der andern verging. Julian grübelte darüber nach: »Was kann ich für sie tun? Ich muss einen Entschluss fassen. Hier handelt es sich nicht mehr um mich. Was gehen mich die Leute an und ihre Narrenspossen? Was kann ich für sie tun? Sie verlassen? Nein, dann ist sie einsam und allein mit ihrer grässlichen Herzensnot. Dieser Automat von Mann schadet ihr eher, als dass er ihr hilft. Grob, wie er ist, wird er ihr harte Worte sagen. Sie kann verrückt werden und sich zum Fenster hinunterstürzen. Wenn ich sie verlasse, wenn ich nicht mehr über sie wache, wird sie ihm alles gestehen. Wer weiß, ob er nicht trotz der Erbschaft, die sie ihm einbringen soll, doch Skandal macht? Auch könnte sie diesem gottverdammten Abbé Maslon beichten. Er benutzt die Krankheit eines sechsjährigen kleinen Jungen, um sich hier im Hause einzunisten. Dabei hat er natürlich seine Absichten. In ihrem Schmerz und aus Furcht vor Gott vergisst sie alles, was sie über diesen Menschen Übles weiß. Sie sieht in ihm nur den Priester …«
»Geh! Geh!« rief in diesem Augenblick Frau von Rênal, indem sie die Augen aufschlug.
»Tausendmal gebe ich mein Leben hin«, beteuerte Julian, »wenn man mir dafür sagt, was für dich das beste ist! Ich liebe dich mehr denn je, mein Engel, meine Fee. Glaube mir, erst in dieser Stunde beginne ich dich so anzubeten, wie du es verdienst! Was soll aus mir werden, wenn ich, dir fern, immer daran denken muss, du seiest unglücklich durch mich? Aber was gilt mein Leid? Ich will ja gehen, Geliebteste. Ach, wenn ich dich verlassen habe, wenn ich nicht mehr über dich wache und nicht mehr zwischen dir und deinem Manne stehe, dann wirst du ihm alles sagen und dich zugrunde richten. Denke daran, dass er dich mit Schimpf und Schande aus seinem Hause jagen wird! Ganz Verrières, ganz Besançon wird von diesem Skandale reden. Man wird dir alles in die Schuhe schieben, und nie wirst du diese Schmach überwinden können …«
»Das will ich ja gerade!« unterbrach sie ihn fast schreiend, indem sie sich aufrichtete. »Wenn ich leide, umso besser!«
»Durch solch einen schauderhaften Skandal bringst du auch deinen Mann ins Unglück!«
»Was geht mich das an? Wenn ich mich selbst erniedrige, mich in den Staub werfe, so rette ich vielleicht mein Kind. Demütigung vor aller Augen ist für mich vielleicht die rechte Buße. Wäre das nicht, soweit ich mich in meiner Schwachheit zu verstehen vermag, das größte Opfer, das ich Gott bringen kann? Vielleicht nimmt er meine Selbsterniedrigung gnädig an und lässt mir meinen Sohn. Zeige mir eine andre schwere Sühne! Ich will mich ihrer auf der Stelle unterziehen.«
»Lass mich die Strafe tragen!« bat Julian. »Ich bin der Mitschuldige. Sag, soll ich in das Trappistenkloster gehen? Das strenge Leben dort wird deinen Gott versöhnen … Allmächtiger, warum kann ich nicht des Kindes Krankheit auf mich nehmen!«
»Du liebst ihn, du!« rief Frau von Rênal. Sie sprang auf und fiel Julian um den Hals. Aber schon im nämlichen Augenblick stieß sie ihn voll Abscheu wieder von sich. »Ich glaub es dir! Ich glaub es dir!«
Von neuem sank sie zu Boden. »Einzigster Freund! Warum bist nicht du der Vater meines Stanislaus! Dann wäre es keine schreckliche Sünde, dich mehr zu lieben als deinen Sohn!«
»Willst du mir erlauben, dass ich hierbleibe und dich fortan liebe wie ein Bruder seine Schwester? Wäre das nicht die allervernünftigste Sühne? Das muss Gottes Grimm besänftigen!«
»Ich!« rief sie aus, indem sie abermals aufstand, Julians Kopf in ihre Hände nahm und ihn dicht vor ihre Augen hielt. »Ich soll dich wie einen Bruder lieben? Vermag ein Weib den Geliebten zu ihrem Bruder zu machen? Ich kann es nicht!«
Julian brach in Tränen aus.
»Ich werde dir gehorchen«, gelobte er und fiel ihr zu Füßen. »Ich werde gehorsam tun, was du mir auch befiehlst. Das ist alles, was ich noch tun kann. Mein Geist ist mit Blindheit geschlagen. Ich sehe nirgends einen Ausweg. Wenn ich dich verlasse, gestehst du deinem Manne alles. Dann bist du verloren und er auch. Nach dieser Blamage wird er niemals Abgeordneter. Bleibe ich aber, so hältst du mich für die Ursache, falls dein Kind stirbt. Und du stirbst vor Gram auch. Willst du erproben, wie es ist, wenn ich dich verlasse? Willst du, dass ich auf acht Tage fortgehe? Es soll eine Strafe meiner Sünde sein. Ich werde diese Zeit in der Abtei Hohen-Bray verbringen oder wo du willst. Aber schwöre mir, dass du während meiner Abwesenheit deinem Manne nichts eingestehst! Bedenke, dass ich dann nie wieder hierherkommen könnte!«
Frau von Rênal versprach es, und Julian reiste ab. Aber bereits nach zwei Tagen ward er zurückgerufen.
»Es ist mir unmöglich«, erklärte sie ihm, »meinen Eid zu halten, wenn du nicht immer bei mir bist. Wenn mir deine Augen nicht Stillschweigen gebieten, sag ich meinem Manne am Ende alles. Jede einzelne Stunde dieses abscheulichen Lebens kommt mir vor wie ein ganzer Tag.«
Endlich hatte der Himmel Erbarmen mit der unglücklichen Mutter. Bald war Stanislaus außer Gefahr. Aber damit war nicht alles beim alten. Frau von Rênal waren die Augen vor ihrer eigenen Sünde aufgegangen. Ihre innere Harmonie war dahin. Ihre Gewissensnot dauerte an; sie wuchs, wie das in einem so lauteren Gemüt nicht anders sein konnte. Ihr Dasein war Himmel und Hölle zugleich: Hölle, wenn sie Julian nicht sah, und Himmel, wenn sie zu seinen Füßen saß. Selbst in den Augenblicken, wo sie sich ganz in ihrer Leidenschaft verlor, sagte sie oft: »Ich mache mir keine Hoffnung mehr. Ich bin verdammt. Rettungslos verdammt. Du bist jung. Du hast meiner Verführung gewillfahrt. Dir kann der Himmel wohl verzeihen. Aber ich bin verloren. Ich erkenne das an einem untrüglichen Zeichen. Ich habe Angst. Wer hätte keine Angst, die Hölle vor Augen? Aber dabei empfinde ich keine Reue. Ich würde sündigen, wenn ich nicht schon gesündigt hätte! Wenn mich Gott nicht schon hienieden an meinen Kindern straft, so ist das mehr Gnade, als ich verdiene.« Und dann wiederum fragte sie: »Aber du, mein lieber Julian, bist du denn wenigstens glücklich? Sag, liebe ich dich genug?«
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