Kitabı oku: «Stadtflucht», sayfa 2

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Kapitel 2 Mittagserwachen

Mit dem wenig fantasievollen Klingelton „Ring-Ring“ riss sein altehrwürdiges Nokia 105 Kommissar Sebastian Ulman aus seinem seichten Schlaf. Schon beim dritten „Ring“ zuckte er am Rücken liegend auf und tastete den Nachttisch nach dem bimmelnden Unruhestörer ab. Während er, geblendet von den wenigen Sonnenstrahlen, die sich zwischen Fensterrahmen und Jalousien, den Weg in sein mäßig verdunkeltes Schlafgemach bahnten, stieg der immer wilder werdende Drang in ihm hoch, dem ruhestörenden Geläut ein Ende zu bereiten. Ein Utensil nach dem anderen warf seine blind-tastende Hand vom Nachtisch, begleitet von einem lauten Geschrei. Der Schlaftrunkene erhob sich mit tobendem Gebrüll aus seinem Bett und malträtierte den Lichtschalter, nebst seiner Schlafstätte mit einem Faustschlag, so dass dieser von nun an das Zimmer hell auf erleuchtete. Bereits Taschentuchspender, Schlaftabletten und eine halbleere Flasche Bier lagen am Boden, bis Ulman endlich sein Mobiltelefon ergreifen und abnehmen konnte.

„Wissen Sie wie spät es ist?“, murmelte er mit seiner tiefen, kratzigen Reibbrettstimme in den Apparat.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung Herr Kommissar. Hier spricht die Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Ich weiß, Sie kommen aus der Nachtschicht und konnten nur wenige Stunden rasten“, entgegnete eine zittrige, eingeschüchterte Stimme am anderen Ende der Leitung.

Kommissar Ulman war von Haus aus kein Mann langer Konversationen und schon gar nicht über das von ihm verhasste Mobiltelefon. Daher versuchte er stets Fragen, welche eine Unterhaltung verlängern würden zu vermeiden und lieber eigenständig zwischen den Zeilen zu lesen oder das Gehörte in interpretative Kombination zu setzen.

„Ich hatte Sie gefragt wie spät es ist? Aber egal. So weiß ich es nun auch. Mahlzeit“, entgegnete er dem Anrufer mit einem leicht versöhnlicherem Ton.

„Herr Kommissar, Sie müssen unbedingt zu einem Tatort kommen. Ich sende Ihnen die Adresse per SMS. Ihre Hilfe wird dringend benötigt!“

Ulman beendete das Telefonat mit einem tiefen Seufzer und der kurz angebunden Antwort „Ja“, betätigte den roten Druckknopf seines Tastentelefons und warf es wieder auf den Nachttisch.

Für gewöhnlich tat er sich mit dem Wachwerden recht einfach, hatte er doch seit geraumer Zeit Probleme einzuschlafen und seine Arbeit war dadurch eine willkommene Abwechslung zu der tristen Einsamkeit in seiner kleinen Garconniere. Vielleicht war es genau diese Tätigkeit, die ihm den Schlaf raubte? Der alternde Ermittler war einer jener Menschen, die lebten um zu arbeiten und nicht arbeiteten um zu leben. Doch die stetigen Kopfschmerzen nach dem Erwachen, ließen ihn die natürliche Lust auf Schlafen vergehen. Seine spärliche Freizeit verbrachte er in Beisln, Kneipen, Spelunken, Bars und im Zusammenbau von Modelschiffen, welche die Regale und Stellagen seines engen Wohnraums zierten. Durch den von Schmutzwäsche, Zigarettenstummeln, Verpackungsrelikten, leeren Bierflaschen und Essensresten übersäten Laminatboden seiner Wohnung kämpfte er sich von seiner Schlafstätte, durch die kleine Küche, in das Badezimmer, welches nur aus einer schmalen Dusche und einem Waschbecken bestand, vor. Die im Stiegenhaus verortete Toilette durfte er sich mit seinen zwei Nachbarn teilen. Am putzigen Waschbecken des Minibadezimmers angekommen, welches sich seit dem letzten, lange zurückliegenden Putzganges, schon von weiß in ein leicht gräuliches Braun verwandelt hatte, wusch er sich sein Gesicht mit warmen Wasser ab und starrte für kurz in den darüber hängenden Spiegel. Kaum noch ein säuberliches Bild seines Benutzers gab dieser wieder, war er doch ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr von verkalktem Spritzwasser- und Haarfettresten befreit worden. Zumindest zurückgebliebene Zahnpaste-Reste konnten die Beobachtung seines Antlitzes optisch nicht einschränken, weil eine Spülung mit Mundwasser seinen Hygieneansprüchen einer Morgentoilette genügte. Zwar brachte ihm diese Herangehensweise bereits die Verluste von drei Backenzähnen und eines Schneidezahnes ein, doch dies kombinierte der Mittsechziger eher mit seinem Frühpensionsalter.

Seine genicklangen, schwarzen Haare hingen in sein faltiges Gesicht und verdeckten seine tiefliegenden, rehbraunen Augen, die bei jedem ersten Kennenlernen seinem Gegenüber einen vertrauten Eindruck hinterließen, aber auch nur, wenn der Lichteinfall für den Betrachter der richtige war und diese nicht durch seine ausgeprägte Augenbrauenpartie beschattet wurden.

Ulman öffnete ein kleines Kästchen nebst des Spiegels und kramte einen schwarzen Kamm hervor, der ihm seit Jahrzenten gute Dienste leistete, legte ihn auf das Waschbecken und presste einen dicken Patzen Haargel darauf. Alle Bewegungen liefen in Zeitlupe ab, um seinen, von Kopfschmerzen geplagten Kopf, so wenig wie möglich zu bewegen. Die genicklangen Haare frisch nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, roch er an seiner Vortagskleidung, die über den Duschtürrahmen hing. Dem Genuss von gut zwanzig Zigaretten während der letzten Nachtschicht, sowie ein frühmorgendlicher Besuch in seiner Stammkneipe, bevor er sich in sein einsames Bett windete, war es zu verdanken, wollte er das gelb-braun-grün gestreifte Hemd und die graue Stoffhose, wie gewöhnlich noch zumindest einmal tragen, dass er das Gewand vom verrauchten Gestank des Vortages befreien musste. Hierzu warf er beide Kleidungsstücke in die Dusche und deckte sie mit einer großen Gaswolke voll Deodorant ein. Obwohl seine, einst weiße Unterwäsche, ebenfalls schon die Farbe des Waschbeckens angenommen hatte, streifte er Hemd und Hose über diese und trappte zur Eingangstüre der Garconniere, wo er Dienstwaffe, Marke und seine billige Armbanduhr, dessen Lederband bereits spröde und ausgeleiert war, anlegte.

„Heute mal Frühstücken?“, überlegte sich der großstädtische Ermittler, „ja, heute nehme ich mir die Zeit.“

Vorbei an seiner mit ungewaschenem Geschirr zugepflasterten Küchenarbeitsfläche, kämpfte sich die hagere und knöchrige Gestalt nochmals über den, am Boden befindlichen Unrat, zu einer Kommode, welche die einzige in dem Wohnraum war, die nicht mit Modellschiffen, übervollen Aschenbechern oder eingegangenen Topfpflanzen bestückt war. Sein rechter Zeigefinger streifte über eine Aneinanderreihung von sorgfältig angeordneten Glasflaschen. Der großstädtische Ermittler war sich unschlüssig: „Rum, Whisky, Wodka oder doch Gin?“ Seine Frühstücksmusterung endete bei einer Flasche ´Don Papas´-Rum, den er sich friedlos in ein schmutziges Glas leerte und hinunterschlang.

War Sebastian Ulman vielleicht nicht der gesprächigste, best-gekleidete oder Körperhygiene hochachtungsvollste Kommissar des Morddezernats, er hielt jedoch viel von hochwertigem Hochprozentigen. Und entgegen seiner Kneipenbesuche, die er mal gesprächig am Tresen, mal leise trinkend in einer dunklen Ecke verbrachte, bis er kein Glas mehr halten konnte, genoss er es, dass zumindest ein etwas anspruchsvolles Zuhause auf ihn wartete. Es konnte auch schon einmal vorkommen, dass ihn seine Spirituosensammlung sogar hie und da dazu verleitete eines von zwei Fenstern seines Wohnraums zu öffnen und mit einem guten Glas in der Hand, das darunter befindliche, städtische Parktreiben zu beobachten.

Sicherlich war es auch sein Alter von Anfang sechzig, das seiner Meinung nach die tiefen Falten auf seiner Stirn und seinen hohlwangigen Wangen mit sich brachte, doch diese Art von Frühstück trug sicher einen großen Teil dazu bei, dass die tiefblauen Augenringe, welche sein Gesicht markant zierten, seinen genetisch, vorbestimmten Zellverfallsprozess deutlich beschleunigte. Sein Spiegel vermochte ihm keinen genauen Anblick seiner selbst zulassen und tief in seinem Inneren wusste er auch wohl, warum der nächste Wohnungs-Putzgang schon seit zwei Monaten auf sich warten ließ, denn wie er es auch hasste von anderen belogen zu werden, so belog er sich selbst täglich am meisten. Keine fünf Sekunden dauerte es, da war des Modellbauers Frühstück auch schon Geschichte. Und weg waren die Kopfschmerzen. Er surfte wieder auf seiner Welle.

Gekonnt platzierte er das gebrauchte Glas auf dem Geschirrberg in der Küche, ohne dass dieser aus dem Gleichgewicht kam. Das verhasste Mobiltelefon eingesteckt und nur mit einer dünnen Frühlingsjacke bekleidet, verließ er seine Festung der deprimierenden Einsamkeit in Richtung Tatort.

In seinem himmelblauen Citroen AX sitzend, die Standheizung voll aufgedreht, machte sich der alternde Ermittler daran, die von der Polizei-Leitstelle per SMS zugsandte Adresse nachzulesen. Wie er zum wiederholten Male die falsche Tastenkombination seines Nokia 105 drückte und noch immer nicht in das gewünschte Sub-Menü vorstoßen konnte, schleuderte er es mit einem lauten Schrei auf die Innenseite der Beifahrertür, so dass es auf dem Beifahrersitz zum Liegen kam. Der Grobmotoriker aus einem anderen Jahrzehnt hatte keine Nerven für diesen technischen Firlefanz und stieg aus seinem Auto aus, um dem Beisel auf der anderen Straßenseite einen kurzen Besuch abzustatten. Während sich sein, in die Jahre gekommenes Fortbewegungsmittel, noch immer unverschlossen auf offener Straße per Standheizung aufwärmte, trat Ulman in die, ihm gut bekannte, Spelunke ein und bat um Benützung des Festnetztelefons.

„Guten Morgen Basti!“, begrüßte ihn der verwunderte Wirt, der gerade mit Gläsern abtrocknen beschäftigt schien, „schon wieder im Dienst nach der harten Nacht?“

Die wenigen Gäste, die aufgeteilt auf dem Tresen und den gut zehn Bistrotischen des dunklen Etablissements saßen, blickten alle auf den wiederkehrend Eintretenden und erwarteten in ihrer nichtstuerischen Neugier eine Antwort.

„Das Verbrechen schläft nie. So wie ich. Was ist nun mit dem Telefonat?“, entgegnete, der in Eile geratene Kommissar.

Der exzentrische Wirt presste seine Lippen zu einem Kussmund zusammen und deutete zum Standort des gewünschten Apparates, um dann die so oft gestellte Frage aller Fragen in Richtung des immer wiederkehrenden Gastes zu stellen: „Und was darf es zum Trinken sein, Rum?“

„Nein. Heute nicht“, lehnte Ulman dankend ab, während er die Telefonnummer der Leitstelle skoptisch eintippte. Nach dem ersten Wählton fuhr er dann doch mit seiner Ausführung fort: „Heute nehme ich einen „Black Label.“

„Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, Kommissar Sebastian Ulman hier“, sprach er in den Hörer und beobachtete zugleich das Einschenken seines hochprozentigen Getränkes.

„Der Kommissar Ulman? Es ist mir eine Ehre. Warum rufen Sie auf der Notrufnummer an?“

„Egal. Bitte. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen und kann die Adresse von diesem Mobiltelefon nicht ablesen. Es muss kaputt sein.“

„Haben Sie schon versucht in das Menü zu gehen und auf ‚Nachrichten abrufen‘ zu tippen?“

„Los, geben Sie mir einfach nochmals die Adresse durch.“

„Entschuldigen Sie Herr Kommissar, aber ich darf Ihnen die Adresse nicht per Telefon durchsagen. Vorschriften. Ich habe alles über Ihre schwierigsten Fälle in der Polizeischule gelernt. Ich möchte Ihnen sagen wie sehr ich Sie bewun …“

„Geh scheißen!“, schrie der passionierte Choleriker und nippte lieber an seinem frisch servierten Whisky.

Der alternde Ermittler drosch den Hörer auf das Wählgerät und rannte aus dem Beisel, um mit dem Slalomlauf durch die stauenden Autos, auf die andere Straßenseite, zu seinem parkenden französischen Oldtimer, zu gelangen. Wenn ihm eines im Leben wichtiger war, als sich sein derbes Dasein schön zu saufen, dann seine Arbeit. In seinem nun vollständig auf fünfundzwanzig Grad aufgeheizten Fahrzeug angekommen, erinnerte er sich nochmals, was ihm sein junger Kollege im Telefon vorgeschlagen hatte. Der Technikverächter replizierte nochmals seine Worte, während er sein Mobiltelefon genau betrachtete. „Menü drücken. Dann Nachrichten abrufen. Ha!“, jubelte er, „ich habe es geschafft. Niemanden brauche ich, außer meinen Verstand!“

Freudig legte er den ersten Gang seines Citroen AX ein und machte sich auf den Weg zu der gesandten Tatortadresse. Während er sich von Ampel zu Ampel staute, stand ein breites Grinsen inmitten seines Dreitagesbartes. Endlich schien wieder ein spannender Fall, in einem gut betuchten Wohnviertel seinen tristen Arbeitsalltag aufzupeppen.

Karriere über seinen Kommissarsposten hinweg wollte der morbide Mittsechziger sowieso nie machen, da er den übermäßigen Umgang mit dilettantischen Menschen sowieso nur aus dem Weg ging, wo er nur konnte und ihm mögliche Personalverantwortung an den Schreibtisch fesseln würde.

Kommissar Sebastian Ulman war ein Kind der Großstadt. Ein Mann, der knifflige und schwierige Fälle durch seine Kombinations- und Beobachtungsgabe löste und dabei, von seiner Kindheit in einem übervölkerten Sozialbau, profitierte. Musste er schon Menschen um sich herum dulden, dann zumindest solche, welche seine rauborstigen Sprache und Umgangsformen verstanden. Diese empathischen Fähigkeiten gegenüber der einfachen Bevölkerung konnte man auf keiner Polizeiakademie erwerben und mit ausgelerntem Kadetten-Frischfleisch, wie er seine nachrückenden, jungen Kollegen nannte, wollte und konnte er sich nicht herumschlagen. Keiner von denen würde mit einem Schritt den rechten Pfad der Vorschriften verlassen. Ulman schon. Und das war, mitunter, sein Erfolgsrezept.

Die Wartepausen bei unzähligen roten Ampeln nutzte er mit einem routinierten Griff in das Handschuhfach seines 1988 vom Band gelaufenen französischen Vehikels, welches schon so gut wie reif für die Schrottpresse war, allerdings noch immer zweiunddreißig Jahre weniger auf dem Buckel hatte als sein Besitzer und holte eine Tablette Aspirin Akut hervor, welche er prophylaktisch runterschluckte.

Nur im Schritttempo vorankommend kurbelte der nikotinsüchtige Mordermittler das Fahrertürfenster nach unten, um den überheizten Wagen durchzulüften und zündete sich dabei gleichzeitig eine Zigarette an. Der nun hereintönende Straßenlärm machte ihm nichts aus, denn was für einen Landmensch das erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war des Großstädters, der seit jeher bestehende und niemals versiegende Straßenverkehr. Mit einem tiefen Zug von seinem Glimmstängel hoffte er nun, dass für die nächsten paar Minuten ein bisschen Ruhe einkehrte.

Kapitel 3 Tagwerk Tatort

Die Anzahl an Tatorten die Kommissar Sebastian Ulman in den letzten neununddreißig Dienstjahren beim Morddezernat zu sehen bekam, hatten in ihm eine Abgestumpftheit gegenüber dem Anblick von verstümmelten Leichen, dem Empfinden von Mitgefühl für die Hinterbliebenen und der Nachsicht mit vermeintlichen Verdächtigen aufgebaut. Obwohl er zu Beginn seiner Karriere das traumatisierende Gesehene, oftmals abends nur mit einem Sechserpack Bier oder einem Besuch an seiner hauseigenen Spirituosenbar verdauen konnte, wich über die Jahre die Betroffenheit einem stetig wiederholenden Ritual nach Schichtende. Auch wenn seine größten und spektakulärsten Fälle schon einige Jahre zurücklagen, hatte er nie den Elan für seine Arbeit verloren. Was Ulman am meisten reizte war der Blick hinter die Fassade eines Tathergangs und des Täters. Dabei vermisste er die gute alte Zeit, in der Kommissare noch zuschlagen durften, bevor Fragen gestellt wurden. Doch diese Zeit war vorbei, der Mittsechziger in ihr aber moralisch und methodisch verblieben. Es ging ihm mehr um das Reinhalten seiner Stadt, um den Revierkampf gegen die Verbrecher, die ohne seine Erlaubnis sein Territorium aus dem Gleichgewicht brachten.

Geistig und kulturell waren die Distrikte der vornehmen Viertel an der Westseite nie sein Gebiet, doch brachte es ihm heitere Freude, dass auch diese elitäre Gesellschaft nun die Hilfe von Kommissar Sebastian Ulman benötigte. Dem dünnen, hageren und schmalbrüstigen Kind aus dem Sozialbau, der sich im Leben alles hart erarbeiten musste und der am Liebsten in einer Zeitschleife festhängen würde, wo die Verbrechen noch selten, aber spektakulär waren und kein Kommissar ständig via Mobiltelefon erreichbar war. Zu seinem Leidwesen hatten sich die Zeiten geändert und so musste der großstädtische Kommissar verdutzt feststellen, dass der ihm zugewiesene, großräumig abgesperrte Tatort, nur so von Schaulustigen, Fernsehkameras und Einsatzfahrzeugen aller städtischen Blaulichtorganisationen wimmelte.

Noch vor fünf Stunden humpelte diese Häuserblocklänge Aaron Röttgers mit zugekniffenen Pobacken entlang und nun war sie für die Öffentlichkeit abgeriegelt. Keine Autos konnten sich mehr auf der dreispurigen Prachtstraße entlang gen Westen stauen, keine Straßenbahn, welche überfüllte Mittelwaggons durch die Großstadt beförderte und keine konsumsüchtige Menge an einkaufswütigen Kunden in den Boutiquen, welche die Erdgeschosslokale der imposanten Gründerzeitbauten beherbergten, war zu sehen. Nur eine Traube von sensationssüchtigen Leuten, die sich mit kameraschulternden und berichterstattenden Journalisten, trotz wiedereinsetzendem Nieselregen, hinter Absperrgittern, um die besten Plätze rangen. Was für ein Anblick für den wortkargen Kommissar, der deshalb in einer schwach frequentierten Seitenstraße, quer über zwei Behindertenparkplätze, seinen rauchenden 1988er-Dieselspucker abstellte und vor dem Aussteigen noch seine Mordkommissionsparkplakette, die ihm zum Parken an jedem Ort der Hauptstadt bemächtigte, auf das Armaturenbrett legte, um sich unbemerkt in die abgesperrte Tatzone zu schleichen.

„Kommissar Ulman?“, fragte ihn eine jugendliche Stimme aus seinem Rücken tretend, als er das Gebäude durch die altehrwürdige Massivholz-Eingangstüre, unter rufenden Fragestellungen der Journalisten, betreten wollte.

„Ja?“, antwortete der alternde Ermittler und wandte sich dabei, mit seiner stetigen Überbetonung der Vokale, so dass sich jedes Wort wie ein Befehl anhörte, dem Fragesteller zu.

Seine tiefliegenden rehbraunen Augen erblickten einen blondgelockten Polizisten, ein junger Wachtmeister Anfang zwanzig, mit freudigem Gesichtsausdruck, in perlnachtblauer Uniform. Als hätte Ulman den Hauseingang nicht schon selbst gefunden, wies ihm der junge Gesetzeshüter den Weg und begleitete ihn ins Vestibül. „Herr Hauptkommissar, ich möchte sagen, wie sehr ich Sie und Ihre Fallstudien bewundere“, umgarnte er den, fassungslos vor dem versiegelten Fahrstuhl stehenden Großstadtneurotiker.

„Warum kann ich den Aufzug nicht benutzen?“, warf er dem Wachtmeister mit grobem Ton, in seiner gewohnt-einfachen, mundartigen Artikulation an den Kopf, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen.

„Von der Spurensicherung noch nicht freigegeben“, klärte ihm sein blondgelockter Verehrer auf.

Nun mussten die teergetauchten Lungen des Mittsechzigers auch noch zu Fuß in den dritten Stock wandern. Seine Stirn wurde immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine rehbraunen Augen. Erregt ob der kommenden körperlichen Anstrengung, schubste er seinen jungen Kollegen zur Seite und verabschiedete sich mit den Worten: „Wischen Sie sich das ekelhafte Grinsen aus dem Gesicht. Ich finde alleine hoch. Und übrigens, nur Kommissar! Keine Beförderung der Welt kann so reizend sein, um Frischfleischdilettanten wie Sie von einem Schreibtisch aus zu delegieren!“ Perplex blieb der junge Wachtmeister im Vestibül des Neo-Renaissance-Stil-Baus stehen und verfolgte voller Desillusion den schleppenden Aufstieg seines detektivischen Idols.

Schnaufend und stöhnend zog sich Ulman, an den reichlich mit Verschnörkelungen verzierten, gusseisernen Stiegen-Geländer aufstützend, von Stockwerk zu Stockwerk, vorbei an prächtig verzierten und dekorierten Sicherheitstüren. Keuchende Laute begleiteten seinen Weg bis in den dritten Stock, wo es bereits von Mitarbeitern der Spurensicherung wimmelte. Mit Einweg-Overalls, Überziehschuhen und Plastikhandschuhen adjustiert, pinselten sie die elfenbeinfarbig-gestrichenen Wände und die weiß-schwarz-karierten Marmorfliesenmuster am Boden des Treppenhauses, in der Hoffnung einen tatrelevanten Finger- oder Schuhabdruck zu finden, mit Rußpulver ab. Als der teerlungengeschädigte Kommissar endlich wieder einer normalen Atmung nachgehen konnte, deutete er auf die Dienstmarke auf seinem Gürtel und signalisierte einem seiner pinselnden Kollegen, ihm bitte die gleiche beweismittelschonende Montur zu reichen. Während er sich hüftsteif in den weißen Overall quälte und nur mit Mühe und Not, in Ermangelung eines trainierten Gleichgewichtssinns, seine schnürsenkellosen Lederslipper, die das gleiche Baujahr wie sein Auto zu haben schienen, mit dem Schuhschoner überstreifte, steckte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Profihaft genoss er, ohne Einsatz seiner Finger, die derweil mit dem Überstreifen von schwarzen Plastikhandschuhen beschäftigt waren, die ersten Züge seines Glimmstängels. Mit aufgeladenen Nikotintanks machte er sich nun auf den Weg Richtung Eingangstüre des Tatorts, welche, entgegen dem Eintreffen Aarons vor gut fünf Stunden, nicht mehr leicht, sondern sperrangelweit offenstand.

So, wie bei der massiven Haupteingangstüre ins Vestibül des Zinshauses, waren auch bei dieser keine Spuren eines gewalttätigen Fremdeindringens zu erkennen. Beide Schlösser und Beschläge waren von zylinderschlitzsuchenden Schlüsseln zerkratzt, aber nicht beschädigt. Gleich einen Meter nach der Türschwelle offenbarte sich dem, von solchen Anblicken bereits abgestumpften großstädtischen Kommissar, ein grässliches Bild.

Kleine leuchtgelbe Hinweistafeln mit schwarzer Nummerierung von eins bis sechs waren im gut fünf Meter langen und drei Meter breiten Flur verteilt. Inmitten der akribischen Beschilderung lag ein fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger, molliger Mann, in einer riesigen Blutlache. Weder seine Augen noch seine Gesichtszüge oder die Farbe seines schütteren Haares waren zu erkennen, war doch eine Pistolenkugel, vermutlich aus kurzer Distanz, in seinen Nasenansatz ein- und am Hinterkopf wieder ausgetreten, was zu einer grauenhaften Entstellung seines Minenspiels führte und den alten Holzboden und die weißen Wände neben ihm mit kleinen Teilen seines Gehirns sowie seiner Haut bespritzte. An den Hautteilen waren noch teilweise die Haare zu sehen. Eingebettet in das schauerliche Bild von Blutspritzern und umherliegenden Gewebefetzen, waren schlecht erkennbare Sohlenabdrücke am Holzboden. Seine Brille lag genau am Steg zerteilt links und rechts neben ihm. Sein weitgeöffnetes, hellbeiges Hemd war in ein dunkles Rot gefärbt, als hätte man seinen Oberkörper in ein Fass voll Blut getunkt.

Der erfahrene Kommissar beugte sich über die Leiche, ließ seinen Blick auf die früher weißen Flurwände streifen und musterte genau die Verteilung und Intensität der darauf verteilten roten Sprenkel. Es roch wie in einer Schlachthalle, welche gerade desinfiziert und ausgeräuchert wurde. Der abgestandenen Kupferausdünstungen des Todes. Als würde man eine Fleischerei betreten und kein Büro. Intuitiv gewann seine vollste Aufmerksamkeit aber schnell die Suche nach dem Einschussloch, des am Hinterkopf des Opfers ausgetreten Projektils.

„Wer hat hier von euch das Sagen?“, rief der aufgekratzte Ulman den Ruß pinselnden Spurensuchern in das Stiegenhaus entgegen. Bevor die nicht zu reagieren scheinenden, vertieft in ihrer Arbeit steckenden Kollegen, ihm antworten konnten, hallte eine Stimme vom anderen Ende des langen, über zwei Meter siebzig hohen Altbauganges der zu Büroräumen umfunktionierten Luxus-Wohnung: „Hier, ich Herr Kommissar!“

Es war der weitbekannte Chef der hauptstädtischen Spurensicherung Dr. Peter Weiß, der es sich nicht nehmen ließ diesen Tatort, in seinem Wohndistrikt, selbst zu sichern. Zu Ulmans Glück ein Mann der seine Sprache und seine Art der Ermittlung respektierte und dem auch seine privaten Lebensgewohnheiten keine Sorge bereiteten, konnte die Reputation des langjährigen Mordermittlers doch von seinen investigativen Erfolgen der Vergangenheit, bis zu seiner baldigen Pensionierung leicht zehren. Daher war es dem am Boden knienden Mittsechziger auch eine willkommene Abwechslung einen alten Großstadtfuchs, wie er es war, freundlich entgegenzutreten. Der oberste Spurensicherer der Kapitale war es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren bei den jeweiligen ermittelnden Abteilungen zusammenzuarbeiten und in Ulmans Fall war die Sachlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit klar, wenig fragen und dem Hauptermittler vertrauensvoll mit forensischen Fakten zuarbeiten.

„Herr Doktor Weiss. König aller Klassen. Ich knie vor Ihnen und bitte um die Antwort wo das ausgetretene Projektil eingeschlagen ist?“

„Auch Ihnen einen Guten Tag Kommissar Ulman. Dem Einschlag in der hinteren Wand des Raumes nach zu urteilen, da wo ich gerade stehe. Die Patronenhülse ist nicht auffindbar und das Projektil wurde aus der Wand entfernt.“

„Also nach dem Austritt muss das Projektil noch gut sechs bis sieben Meter geflogen sein um dort einzuschlagen. Ich tippe auf eine 9mm Pistole. Wie groß ist das Opfer?“

Dr. Weiss ging dem grübelnden Kommissar entgegen um ihm genau mitteilen zu können: „Ein Meter und dreiundachtzig Zentimeter.“

„Und das Projektil ist glatt ausgetreten. Das heißt der Schütze war circa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter achtzig groß. Die Einschusskerbe ist leicht links von hieraus gesehen, das heißt er ist Rechtshänder.“

„Sehr gut gesehen, deshalb sind Sie der beste, Ulman. Und er hatte, den blutigen Sohlenabdrücken nach zu urteilen, Schuhgröße sechsundvierzig oder achtundvierzig.“

„Die Schnittverletzungen wurden nach seinem Tod verübt?“

„Ja, ´post mortem´.“

„Bitte Weiss, sprechen Sie in einer Sprache, die ich verstehe! Also der Täter läutet hier an, schießt dem Mann in den Kopf, schneidet seine Kleidung auseinander und wendet ihn. Nur, um Gewebeteile aus ihm herauszuschneiden?“

„Sieht so aus.“

„Weiss, alles deutet auf einen Trophäenjäger hin, der das Opfer gekannt hat und die Gegebenheiten vor Ort ebenfalls.“

„Kommen Sie mit, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen die anderen Opfer.“

„Andere?“, war der alternde Ermittler erstaunt aber nicht betrübt.

„Ja, es gibt noch zwei weitere Leichen.“

„Scheiße. Aber die Schuhgröße kann nicht ganz zu der Körpergröße des Schützen passen“, stellte der spitzfindige Mittsechziger fest, während er über gelbe Hütchen und rote Sohlenabdrücke, immer mit Bedacht keine Spuren zu verwischen, stieg, „sind nur Ihre Leute hier oder auch schon jemand vom Morddezernat?“

„Bis jetzt nur Sie und auch reichlich spät, wenn ich das so sagen darf. Wir sind schon seit drei Stunden hier und mit allem schon fertig. Die Leichen werden nach unserem Rundgang gleich abgeholt.“

„Nein, dürfen Sie nicht so sagen. Der Verkehr ist eben schlimm. So ist unsere Großstadt nun mal. Sein Sie froh, dass Sie hier und nicht in einem Kuhkaff leben, wo die Leichen schon von Wölfen angeknabbert wären.“

„Mein Fehler“, entgegnete Weiss beschwichtigend und, zumindest nach außen hin, einsichtig.

„Du“, pöbelte Ulman einen in der Nähe, der Eingangstüre befindlichen Spurensucher an, „geh so schnell als möglich hinunter und hole jemanden vom Morddezernat. Ich werde ja nicht der Einzige hier sein.“ Der über den harschen Ton Verwunderte sah Weiss verstört und fragend an und wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten. Als dieser wohlwollend nickte, machte er sich unverzüglich die Stiegen abwärts auf, durch das noch die Verabschiedung des cholerischen Kommissars hallte: „Gib Stoff Pinguin, sonst kommst du zurück in den Zoo!“

Nachdem er bereits unzählige Fälle und Ermittlungen gemeinsam mit seinem charakterfordernden Kollegen abgehandelt hatte, wusste Dr. Peter Weiss nur zu gut, wie man am besten dessen cholerische Ausbrüche wieder einfing und scherzte: „Bitte lassen Sie meine Daktyloskopen in Frieden. Darf ich Ihnen nun meine Einschätzung und den Rest des Sachverhaltes erklären?“

„Dakti? Was? Sprechen Sie mit mir nicht in diesem Studiertenton! Ich sage nur das Nötigste, das wissen Sie. Ich bin ganz Ohr“, erwiderte ein neugieriger, aber keinesfalls, ob seines rauen Umgangs mit Kollegen peinlich berührter Ulman.

Der oberste Spurensucher führte den altgedienten Ermittler den langen Eingangsflur, der zum Büro umfunktionierten Luxus-Wohnung, entlang zu einem Warteraum, der sich linkerhand über ungefähr fünf mal fünf Meter erstreckte und mit feinen Ledersesseln eingerichtet war. Obwohl der Kommissar den reichlich bestückten Kristallkronleuchter genauso mit beeindruckten Argusaugen betrachtete, wie die feine Kirschenholzvertäfelung an den Wänden, fiel ihm in diesem Raum nicht wirklich etwas Verdächtiges auf. Die blutverschmierten Sohlenabdrücke aus dem Flur, wurden hier immer weniger sichtbar und verschwanden vollends. Auf einem Garderobenständer hingen drei Winterjacken. Eine Schwarze, eine Weiße und eine Graue, darunter standen drei Paar Straßenschuhe in einer Plastikschale.

In der Tat fand Weiss die richtige Wortwahl, war der in weiße Schutzkleidung gehüllte Ermittler nun sogar zu einem seiner seltenen Scherze aufgelegt und fragte seinem Wegweiser ob hinter eine der vier weiterführenden Türen ein Tiger lauern würde?

Hinter der ersten Türe führte ein kleines Zwischenzimmer, parallel zum Eingangsflur verlaufend, zu einem kleinen Konferenzsaal und von diesem weiter in eine beschauliche Küche. Schon im Zwischenzimmer überfiel ihn ein Anblick, als ob tatsächlich ein Tiger gewütet und seine menschliche Beute dort tot zurückgelassen hatte. Ähnlich dem ersten Tatbild lag auch hier ein Mann, mit nur einem Schuss niedergestreckt, in einer riesigen, verschmierten Blutlache. Links und rechts der Leiche waren die raumhohen Aktenordnerregale mit Hautfetzen, Haar- und Gehirnteile sowie Blutspritzern übersät, welche das Projektil über die Austrittswunde am Hinterkopf mit sich riss und im ganzen Raum verteilte. Ein Auge des Mannes war offen, das andere geschlossen, was darauf schließen ließ, dass der Tod plötzlich und unvorhergesehen eintrat. Anders als bei der ersten Leiche war diese bis auf die Unterwäsche entblößt und wies, sofort ersichtlich, tiefe kleine Schnittwunden von den Beinen bis ins Gesicht auf, als hätten ihn Miniaturpiranhas angeknabbert. Seine Kleidung wurde ihm vom Leib geschnitten. Patronenhülsen waren auch hier nicht zu finden, was die Anzahl der leuchtgelben Markierungsschilder, für forensisch relevante Hinweise, ohnehin nicht reduziert hätte. Das totbringende Projektil steckte auch hier in der Wand hinter dem Opfer, gleich neben dem einzigen Kastenfenster in diesem Raum und wurde ebenfalls nach dem Einschlag entfernt.

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9783753193090
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